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Piraterie Editorial Schrecken der Ozeane. Eine kurze Globalgeschichte der Piraterie Fernab jeder Romantik – Piraterie vor der Küste Somalias Geistiges Eigentum und Piraterie in historischer Perspektive Wer ist Pirat? Probleme des Immaterialgüterrechts Produktpiraterie in der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit Nutzung von traditionellem Wissen: Biopiraterie oder legitime Vermarktung? Flüssige Betriebssysteme. Liquid democracy als demokratische Machttechnologie

Schrecken der Ozeane. Eine kurze Globalgeschichte der Piraterie

Michael Kempe

/ 18 Minuten zu lesen

Seit einigen Jahren scheint ein internationaler Verbrechertyp zurückzukehren, dessen Umtriebe als Geißel der Menschheit für längst überwunden galten: der Pirat. Noch vor wenigen Jahren hätte es kaum jemand für möglich gehalten, dass Männer aus Somalia vor einem deutschen Gericht als Piraten bestraft und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt würden, wie es im Oktober 2012 am Hamburger Landgericht geschehen ist. Hinzu kommt, dass die Wiederkehr von Seeräuberei im großen internationalen Maßstab ausgerechnet da erfolgt ist, wo vor rund 300 Jahren schon einmal Seeräuber die ganze Welt in Atem hielten: am Horn von Afrika. Kommt es zu einer Renaissance der historischen Freibeuter? Eins steht jedenfalls fest: Das "goldene Zeitalter" der Piraterie wird sich deshalb nicht wiederholen, weil es als solches nie existiert hat. Um keine andere Verbrecherfigur ranken sich bis heute so viele Mythen und Legenden. Das gilt nicht nur für die sagenhaften Raubzüge von schillernden Gestalten wie Henry Every, William Kidd oder Blackbeard um 1700, denen das goldene Zeitalter seinen Namen verdankt, sondern ebenfalls für Störtebekers dreistes Vorgehen gegen die Hansestädte im Mittelalter oder Pompeius’ Feldzug in der Antike gegen tollkühne Mittelmeerpiraten. Dementsprechend bemühen sich bis heute Historikerinnen und Historiker aller Länder unermüdlich, Fakten und Fiktionen hinsichtlich der Geschichten berühmt-berüchtigter Seeräuber sauber voneinander zu trennen.

Bis auf wenige, aber bedeutende Ausnahmen existieren kaum Selbstzeugnisse von Seeräubern, da die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben konnten. Ferner ist es immer schon im Eigeninteresse der an Raub, Plünderung und Mord Beteiligten gewesen, alle Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen oder falsche Fährten zu legen. Schließlich beruhen etwa unsere heutigen Kenntnisse über die nahezu weltumspannende Seeräuberei an der Wende zum 18. Jahrhundert zum größten Teil auf literarischen Erzeugnissen, in denen Fakten und Fiktionen untrennbar miteinander verbunden sind.

Als Franzosen und Engländer zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Nordafrikanern aus Tunis, Algier und Tripolis Seeräuberei vorwarfen, sich dabei selbst aber weder an die eigenen Verträge mit den Bewohnern des Maghreb noch an internationales Kriegsrecht hielten, richtete der Bey von Tunis diesen Vorwurf nicht ganz zu Unrecht gegen die Europäer selbst. Weil sie in das von ihnen beanspruchte Herrschaftsgebiet segelten, bezeichneten Spanier und Portugiesen französische, englische und holländische Amerikafahrer im 16. Jahrhundert als Piraten. Von den Iberern daran gehindert, in die "Neue Welt" zu fahren, drehten Franzosen, Engländer und Holländer den Spieß um und hielten ihnen ihrerseits Seeräuberei vor. In der Wechselseitigkeit des Piraterievorwurfs zeigt sich, was die Bezeichnungen "Seeräuber" oder "Pirat" immer schon waren, nämlich Begriffe der Fremdbeschreibung, um die Handlungen und Gewaltanwendungen des Gegners zu delegitimieren und zugleich die eigenen damit zu rechtfertigen, etwa mit Hilfe der Selbstbeschreibung als "Seepolizist" oder "Piratenjäger". Das hat sich bis heute nicht geändert: Nicht wir sind Räuber und Banditen, sondern die Hochseefahrer internationaler Fischfangflotten, die in unsere Küstengewässer eingedrungen sind, um widerrechtlich unsere Fischgründe auszurauben – so argumentieren in jüngerer Zeit viele Somalier, wenn sie der Piraterie beschuldigt werden und sich dabei als selbst organisierte Küstenschutzpatrouille verstehen.

Verstehen lässt sich die lange Geschichte der Piraterie daher häufig als eine Angelegenheit wechselseitiger Beschuldigungen. Fast immer fehlte eine neutrale dritte Instanz, so dass die meisten Streitfälle durch das Recht des Stärkeren entschieden wurden und dieser dann über das Monopol verfügte, zu definieren, wer Pirat sei und wer nicht.

Stationen der Piraterie-Weltgeschichte

Oft ist Piraterie als "zweitältestes Gewerbe" der Welt bezeichnet worden. Wagt man den Versuch, eine kurze Geschichte dieses Gewerbes wenigstens knapp zu umreißen, dann ist zunächst zu bedenken, dass einem die Bezeichnung "Piraterie" als abwertende Fremdzuschreibung ständig und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen begegnet. Erschwerend kommt hinzu, dass unsere heutige völkerrechtliche Definition von Piraten als Personen, die auf hoher See aus Eigennutz Gewalttaten gegen Personen oder Eigentum begehen, ohne hierzu von einer anerkannten Regierung ermächtigt worden zu sein, nur sehr bedingt auf die lange Geschichte solcher Zuschreibungen angewandt werden kann. Legt man diese allgemeine Definition zugrunde, dann erscheint die Geschichte der Piraterie zunächst nicht viel mehr zu sein, als eine bloße zeitliche Abfolge von aufflackernden Verdichtungen seeräuberischer Aktivitäten, die an verschiedenen Orten der Welt auftauchen und wieder verschwinden. Schaut man jedoch genauer hin, indem man den Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Funktionen des Seeraubs richtet, ergeben sich gewisse Muster und Strukturen, die sich in veränderten Formen wiederholen.

Antike: Hartnäckig hält sich bis heute die Behauptung, Piraterie sei im frühen Altertum nichts Verwerfliches, sondern etwas Heldenhaftes gewesen. Bereits bei Hugo Grotius, dem großen Theoretiker des modernen Völkerrechts aus dem 17. Jahrhundert, liest man, die Worte Homers "Seid Ihr Räuber?" seien eine freundschaftliche Frage gewesen. Und gemäß Justin habe Seeräuberei bis zur Zeit des Tarquinius (der Sage nach der letzte König Roms) als etwas Ruhmvolles gegolten. Etwas Heroisches scheint auch im griechischen Begriff peiratés anzuklingen, der sich von peíra (Probe, Versuch) ableitet und damit einen Räuber bezeichnet, der es immer wieder aufs Neue wissen will und die Herausforderung sucht. Hingegen relativieren neuere Forschungen das bis in die Gegenwart vorherrschende Klischee vom heldenhaften Ursprung der Piraterie und weisen darauf hin, dass in den homerischen Epen zwischen Heroen und Piraten unterschieden und Seeräuberei missbilligend dargestellt wurde.

Abgesehen von der Rechtsfrage lassen sich bis in die älteste Zeit menschlicher Überlieferung zwei Formen von maritimer Gewaltanwendung und Beutenahme unterscheiden. Zum einen werden seit dem "Seevölkersturm" im östlichen Mittelmeer um etwa 1200 v. Chr. immer wieder verschiedene Völker genannt, die als Gemeinschaft insgesamt vorrangig vom Seeraub lebten. Gezählt werden dazu etwa in der Antike die griechischen Phokaier, die Kilikier aus Kleinasien oder im Mittelalter die fast ganz Europa mit Plünderungszügen heimsuchenden Normannen und Wikinger. Zum anderen waren es immer wieder sehr kleine, regional engräumig agierende Personengruppen, die Raubüberfälle zur See in sehr begrenztem Umfang und auf bestimmte Zeiten beschränkt unternahmen. Oft waren es Bauern in Zeiten von Missernten oder Fischer während der Laichsaison, die ihren Erwerbsausfall kompensierten, indem sie Schiffe überfielen, später aber wieder zu ihrem eigentlichen Gewerbe zurückkehrten. Beobachten lassen sich solche Ausprägungen saisonaler oder episodischer Piraterie als subsidiäre Erwerbsform nicht nur im europäischen Raum, sondern etwa auch in Asien an der langen chinesischen Küste, wo seit den ersten chinesischen Dynastien einheimische Fischer in den fangfreien Sommermonaten Boote ausrüsteten, um an den Küsten zu plündern und Handelsdschunken zu überfallen.

Spätestens nach dem Ende der Perserkriege (ca. 450 v. Chr.) setzte mit dem Aufstieg Athens das Bemühen ein, Piraterie wirksam zu bekämpfen, um den Handel auf dem Meer sicherer zu gestalten. Allmählich entstanden Normen zwischen den Mächten, durch die Piraterie als Straftat verurteilt wurde. Die damit einhergehende Verrechtlichung kriegerischer Beziehungen führte dazu, dass römische Juristen der spätrepublikanischen Zeit Kämpfe gegen Piraten nicht als Kriege, sondern als "Polizeiaktionen" ansahen. Das imperiale Rom instrumentalisierte den Antipiratenkampf zur Delegitimierung des Widerstands gegen äußere Gegner wie innere Opposition. Aus der Seeräuberbekämpfung wurde in der Kaiserzeit das Selbstbild als starke politische Autorität ab. Wie problematisch aber eine solche Unterscheidung zwischen Krieg und Raub letztlich blieb, belegen die Worte Augustins (354–430) aus "De civitate Dei". Dem Kirchenvater zufolge habe der von Alexander dem Großen gefangene Erzpirat Demetrios auf dessen Frage, warum er das Meer unsicher mache, geantwortet: "Warum werde ich, weil ich es mit kleinen Schiffe tue, Pirat genannt, und Du, König, weil du die Erde mit Heerscharen unsicher machst, Imperator?"

Mittelalter: Ihrerseits begann sich die Piraterie im Mittelalter in eine legale und eine illegale Variante aufzuspalten. Im lateinischen Mittelmeerraum, insbesondere in den mächtigen Handelsstädten Genua und Venedig, bezeichnete man maritime Raubfahrten, die mit einer obrigkeitlichen Lizenz legalisiert wurden, als Piraterie in cursum (wörtlich: "in rascher Fahrt"). Aus diesem Ausdruck entwickelte sich später dann der Begriff des Korsaren sowie des Kaperfahrers für den nordeuropäischen Raum. Die seit dem Mittelalter in ganz Europa gebräuchlichen Kaperbriefe schufen einen legalen Rahmen für private Seebeutenahme. Die für legal erklärte Seebeute bezeichnete man als "Prise". Dass offiziell eingesetzte Seebeutefahrer immer wieder dazu tendieren, sich in autonom agierende Seeräuber zu verwandeln, zeigen bereits an der Wende zum 15. Jahrhundert die sogenannten Vitalienbrüder. Zunächst im Einsatz als Blockadebrecher für Stockholm gegen die Belagerung durch dänische Verbände, verselbstständigten sie sich später – unter schillernden Figuren wie Gödeke Michels oder Klaus Störtebeker – zu unabhängigen Raubfahrern, die zeitweise fast den gesamten Handelsverkehr der Nord- und Ostseeschifffahrt lahmlegten.

Interkontinentale Piraterie ab dem 16. Jahrhundert

Mit dem globalen Ausgriff europäischer Seemächte nach Amerika und Ostindien dehnten sich ab dem 16. Jahrhundert auch die Aktivitäten europäischer Seeräuber aus. Seefahrer aus Frankreich, England und Holland widersetzten sich dem Vorherrschaftsanspruch der Spanier und Portugiesen auf weite Teile der außereuropäischen Welt. In einer Mischung aus Seeraub, Schmuggel und Handel beteiligten sie sich als Handelskorsaren am Wettlauf um Machtansprüche und Handelsmonopole in West- und Ostindien. Seebeutefahrer wie François le Clerc, Richard Hawkins, Francis Drake oder Piet Heyn dienten ihren jeweiligen Souveränen als Pioniertruppe exterritorialer Machtausdehnung. Während sie auf diese Weise den Atlantik in einen Schauplatz seekämpferischer Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Europäern verwandelten, war die Lage östlich von Afrika wesentlich komplizierter. Kaufmannskrieger der englischen und niederländischen Ostindienkompanien führten einen permanenten Seebeutekampf mit den Portugiesen. Französische, englische und holländische Korsaren sorgten dafür, dass lizenzierter und unlizenzierter Seeraub im 16. und 17. Jahrhundert interkontinentale Ausmaße annahmen.

Seit Beginn des portugiesischen Vordringens in den Indischen Ozean und in das Südchinesische Meer wurden die europäischen Beziehungen zu den Völkern Asiens durch die Piraterie kompliziert wie verdichtet. Mal wurden die Portugiesen von chinesischer Seite als Räuber und Piraten angesehen, ein anderes Mal galten sie den Japanern als Verbündete im Kampf gegen chinesische Piraten. Auf der anderen Seite wurden sie immer wieder Opfer von japanischen Piraten, etwa den Noshima Mukarami, die sich jedoch nicht als Piratenbanden, sondern als Seeherrscher verstanden. Wie ihre europäischen Konkurrenten und Handelspartner kombinierten viele chinesische Seefahrer ebenfalls friedlichen Handel mit Schmuggel und Seeraub. Hinzu kam, dass sich unter den japanischen Seeräuberbanden der Wōkòu häufig auch Chinesen, Malaysier, Siamesen und eben auch Portugiesen, Spanier oder sogar Afrikaner befanden. In der Auseinandersetzung mit asiatischen Seeräubern wurde den Europäern im Laufe des 16. Jahrhunderts bewusst, dass sie in Asien im Unterschied zu Amerika nicht die alleinigen Machtfaktoren bildeten, sondern auf die Kooperation mit regionalen Großmächten wie Persien, Indien und China angewiesen waren.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Karibik zu einem Zentrum piratischer Aktivitäten entwickelt. Von den Inseln der Kleinen und Großen Antillen bis zur nordamerikanischen Küste reichte das Operationsgebiet der Bukanier und Flibustier, ursprünglich Gruppen europäischer Emigranten, die – in Westindien ansässig – vorrangig vom Seeraub lebten. Sie setzten sich vor allem aus den engagés zusammen, die von Europa nach Westindien übergesiedelt waren, um dort als Schuldknechte zu arbeiten, nach ihrer Freilassung aber keine Arbeitsmöglichkeit mehr hatten oder aufgrund der schlechten Behandlung geflohen waren. Mit den Bukaniern und Flibustiern entstand ein neuer Typus der Überseepiraterie. Während Handelskorsaren und die ersten Kaufmannskrieger von Europa aus ihre Beuteexpeditionen starteten und dorthin auch wieder zurückkehrten, waren sie vor Ort ansässig.

Lange Zeit von Engländern und Franzosen als Kaperfahrer gegen Neu-Spanien eingesetzt, verloren die Bukanier und Flibustier im ausgehenden 17. Jahrhundert die Unterstützung der Nordeuropäer, nachdem letztere sich in Westindien selbst als Kolonialmächte etablieren konnten. Auf der Suche nach neuen Jagdgründen schwärmten Bukanier und Flibustier in den Pazifik und in den Atlantik aus. Aus dem Indischen Ozean lockten Nachrichten von sagenhaften Schätzen indischer Handels- und Pilgerschiffe. Nachdem es den Piraten Thomas Tew und Henry Every gelungen war, im Arabischen Meer reiche Beute zu machen, brach in Westindien und Nordamerika ein regelrechter Goldrausch aus. An der Wende zum 18. Jahrhundert machten sich junge Kapitäne und Seeleute in Scharen von den Bahamas, aus Virginia oder Boston auf. Um Afrika herum und zurück – auf diesen Weg der "Piratenrunde" begaben sich Ende des 17. Jahrhunderts schätzungsweise bis zu 1500 Männer.

Erst durch die anhaltenden Raubüberfälle der Piraten aus den europäischen Kolonien Amerikas wurde die im ostindischen Raum vorherrschende Großmacht, das Mogulimperium, auf die Präsenz der europäischen Händler im indischen Ozean aufmerksam. Pauschal gab man ihnen die Schuld an den Überfällen und verlangte von ihnen Schutzmaßnahmen durch Konvoischiffe und Piratenjäger. So waren es die Piraten der "Runde", welche die bislang untereinander konkurrierenden Europäer dazu zwangen, sich an einen Tisch zu setzen. Die gemeinsamen seepolizeilichen Maßnahmen gegen die roundsmen bildeten den Ausgangspunkt ihrer späteren Seevorherrschaft im Indischen Ozean. Als sie die Verbindungen zu den Hintermännern in Amerika kappten, brach das fragile Piratennetzwerk der roundsmen zusammen, aber durch deren Raub- und Schleichhandel, der insbesondere zur Erschließung neuer Sklavenmärkte an der ostafrikanischen Küste führte, waren Westindien und Ostindien als bisher weitgehend getrennte Wirtschaftsräume ein ganzes Stück näher zusammengerückt – was man als Globalisierungseffekt der "Piratenrunde" bezeichnen könnte. Mit dem Verschwinden der "Runde" verbindet man heute auch das Ende des goldenen Zeitalters der Piraterie.

Aber das Seeraubproblem als Gegenstand internationaler Beziehungen blieb weiterhin vor allem im mediterranen Raum virulent. Seit das Osmanische Reich sich am Ende des 16. Jahrhundert aus dem westlichen Mittelmeer weitgehend zurückgezogen hatte, nahmen die Überfälle muslimischer Korsaren aus Nordafrika auf europäische Handelsschiffe rapide zu. Auf christlicher Seite entsprachen den nordafrikanischen Seekämpfern vor allem von Malta aus operierende und vom dortigen Orden der Johannes-Ritter unterstützte Korsaren, die "maurische" Schiffe angriffen und sich dabei als Glaubenskämpfer verstanden. In Syrien fürchteten katholische Christen noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass die andauernden Überfälle der Malteser Korsaren zum Abfall vieler syrischer Christen vom katholischen Glauben führen könnten. Ebenso wenig wie die Malteser betrachteten sich die Beutefahrer der sogenannten Barbareskenstädte Algier, Tunis und Tripolis als Piraten, vielmehr nannten sie sich ġâzîs, Soldaten im Krieg gegen die Ungläubigen, und definierten sich als Kämpfer des djihād. Im corso oder guerra corsara, wie der Kaperkrieg des Mittelmeers bezeichnet wurde, waren auf beiden Seiten ökonomische und religiöse Motive kaum voneinander zu trennen. Die Schädigung des Glaubensfeindes durch Wegnahme seiner Schiffe und Güter ließ sich beiderseits immer auch zugleich als religiöse Handlung rechtfertigen. Während die Korsarenaktivitäten auf Malta mit der Besetzung der Insel durch Napoleons Flotte 1798 praktisch eingestellt wurden, fanden die Beutefahrten der Maghrebiner erst ein Ende, als Algier 1830 von Frankreich eingenommen wurde.

In Form der Kaperei erfuhr der staatlich lizenzierte Seeraub einen letzten großen Höhepunkt in den Napoleonischen Kriegen sowie den Unabhängigkeitskriegen in Nord- und Südamerika im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Nach politischer Autonomie von Spanien oder England strebende Mächte wie die USA, Bolivien, Chile oder Argentinien bedienten sich mangels eigener Seestreitkräfte privater Seebeutefahrer durch die Ausstellung von Kaperbriefen für ihren politischen Befreiungskampf. Dabei verschwamm die ohnehin schwer fixierbare Grenze zwischen Kaperei und Piraterie immer mehr. Der Kaperkrieg hatte ein solches Maß an Irregularität erreicht, dass keine der an den Auseinandersetzungen diesseits und jenseits des Atlantiks beteiligten Großmächte sicher einschätzen konnte, was nach internationalen Standards als legitime Kaperaktion zu gelten habe und was nicht.

Wenngleich mit der "Piratenrunde" um 1700 Seeräuberei ihre räumlich größte Ausdehnung in der bisherigen Geschichte erreichte, so bildete sich die bis heute größte Piratenflotte weder im Mittelmeer noch im Atlantik, sondern im Südchinesischen Meer. Ende des 18. Jahrhunderts hatten Rebellen in Vietnam chinesische Fischer, die nebenberuflich Piraterie betrieben, zur Unterstützung ihres Kampfes rekrutiert. Nachdem die Tay-Son-Rebellion 1802 niedergeschlagen worden war, kehrten viele der vertriebenen Piraten in die chinesische Provinz Guangdong zurück; mehrere Banden schlossen sich dort zu einem einzigen Verband zusammen, der in sich sechs Flotten vereinigte und 1804 etwa 400 Dschunken und 70000 Mann umfasste. Während die kleineren Piratenbanden um 1800 meist an der Peripherie des chinesischen Reiches operierten, errichtete die Piratenkonföderation ihre Basen entlang der viel befahrenen Handelsrouten, die nach Kanton führten. In China agierte der Piratenbund wie ein Staat im Staate. Den Großteil ihres Einkommens "erwirtschafteten" die Piraten durch den Verkauf von Schutzbriefen. 1809 erreichte die Macht des paramilitärischen Bundes ihren Höhepunkt. Den Seeräubern standen rund 200 große Dschunken (yang-chu’an) zur Verfügung, die jede bis zu 400 Mann Besatzung an Bord hatte. 1810 kollabierte die Konföderation jedoch vollständig. Das Embargo der Qing, Marinekampagnen, ein kaiserliches Amnestieangebot und lokale Milizenaufstände einerseits, innere Streitigkeiten und der Tod oder Rückzug der wichtigsten Flottenführer andererseits führten zu einer raschen Auflösung des Piratenbundes. Obwohl der Bund jede noch so große Piratengemeinschaft der Europäer seit den Zeiten ihrer Expansion nach Amerika und Ostindien zahlenmäßig und an Kampfeskraft bei Weitem überstieg, wurde er nie dazu genutzt, ferne Gegenden zu kolonisieren oder neue Welten zu entdecken.

Pirateriebekämpfung im Zeichen des kolonialen Imperialismus

Politisch nutzten im 19. Jahrhundert vor allem die großen Kolonialmächte das universale Recht der Piraterieverfolgung, um daraus weltweite Jurisdiktions- und Seeherrschaftsansprüche abzuleiten. Auf dieses Recht beriefen sich beispielsweise die Briten, als sie im Rahmen seepolizeilicher Maßnahmen dazu übergingen, ihre Stellung als imperiale Kolonialmacht auf der Arabischen Halbinsel oder in Südostasien auszubauen und zu festigen. "Bis in die entlegensten Winkel der Welt", so formulierte bereits im 17. Jahrhundert ein Londoner Admiralitätsrichter den Anspruch der englischen Marine, Piratenschiffe rund um den Globus zu verfolgen. Man berief sich damit auf das aus dem Begriff der Universalfeindschaft abgeleitete universale Piratenstrafrecht, wonach Piraten, weil sie Feinde aller seien, auch von jedermann überall verfolgt und bestraft werden dürften. Als die Briten ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihr Imperium in Indien und Asien auszubauen begannen, nutzten sie dieses Universalstrafrecht, um die Bekämpfung von Gegnern ihrer Kolonisierung als polizeiliche Maßnahme gegen die Piraterie zu rechtfertigen. Die Sicherung der internationalen Handelsschifffahrt und Zivilisationsmission waren die offiziellen Ziele, mit denen die Briten etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts militärisch im Persischen Golf Flagge zeigten und entsprechend gegen Seeräuberüberfälle vorgingen. Dabei war die Ausübung seepolizeilicher Funktionen vom Streben nach machtpolitischer Vorherrschaft in dieser Region nicht zu trennen.

Blieben Piraterie und ihre Bekämpfung im kolonialen Kontext während des gesamten 19. Jahrhunderts eine willkommene Rechtfertigung imperialer Machtbestrebungen, so geriet die legale Gegenseite der Piraterie, die Kaperei, um die Jahrhundertmitte international stark unter Druck, bis man sich 1856 auf der Pariser Seerechtskonferenz multilateral auf ein uneingeschränktes Kapereiverbot einigte. Völkerrechtlich zwar zunächst umstritten, setzte sich dieses Verbot auf lange Sicht gesehen international durch. Die Pariser Beschlüsse zum Seekriegsrecht markieren den Anfang vom Ende der Unterscheidung zwischen Piraterie und Kaperei, womit die völkerrechtliche Legitimität der Seebeutenahme durch Privatpersonen aufgehoben wurde. Seitdem die Differenz von Kaperei und Piraterie verschwunden ist, beschränkt sich die Grenze zwischen Legalität und Illegalität innerhalb des Seekriegsrechtes einzig auf die Unterscheidung von Kriegsmarine/Seepolizei und Seeräuberei. Im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte schlossen sich weitere Regierungen diesem Abkommen an, und bis etwa 1900 hatte sich auch in der Praxis dieses Verbot nahezu in allen Teilen der Welt durchgesetzt.

Fehlende völkerrechtliche Kodifikation

Während sich im 19. Jahrhundert die Ausweitung des Pirateriebegriffs auf den Sklavenhandel ebenso wenig behaupten konnte wie dessen Ausdehnung auf die Beschädigung internationaler Telegrafenkabel, blieb andererseits manchem Rechtsgelehrten die gängige Bestimmung von Seeraub zu eng gefasst. Nachdem aus Mangel an Konsens das Bemühen um eine völkerrechtliche Kodifikation der gesetzlichen Pirateriebekämpfung 1927 von der Agenda des Völkerbundes genommen wurde, kommentierte der Jurist Alexander Müller das Scheitern mit dem Hinweis, dass immer noch "fast keine Frage des Piraterierechtes unstreitig" sei, etwa betreffend der Meuterei auf Schiffen, der Behandlung von Schiffen Aufständischer oder von Handelsschiffen, die sich an Kriegsmaßnahmen beteiligten. International durchsetzen konnte sich bis heute eine weite Definition, die neben Raub auf hoher See ebenfalls jede rechtswidrige Gewalttat, Freiheitsberaubung oder Plünderung umfasst, nicht dagegen der vor allem von Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg unternommene Versuch, den Einsatz von Unterseebooten als Akt der Piraterie zu definieren.

Recht und Politik treffen im Pirateriebegriff immer wieder aufeinander und treten zueinander in ein widersprüchliches, wenn nicht paradoxes Verhältnis. Auch wenn organisierte Aufständische, sofern sie als solche anerkannt sind, nicht als Piraten angesehen werden, verhält sich die Spruchpraxis hierzu nicht ganz eindeutig. Das gilt insbesondere für nicht anerkannte Rebellen. Dabei komme es Völkerrechtler Rüdiger Wolfrum zufolge nicht so sehr darauf an, ob sie für sich das Recht der Kriegführenden in Anspruch nehmen können, "sondern darauf, ob die vorgenommenen Gewaltakte noch in den typischen Bereich der Seekriegsführung fallen oder nicht." Auch die Unterscheidung zwischen Piraterie und Terror auf See, wie sie vor allem in Bezug auf das im Oktober 1985 von palästinensischen Terroristen überfallene Kreuzfahrtschiff "Achille Lauro" gemacht wurde, bleibt problematisch. So erstaunt es nicht, dass gerade nach den Anschlägen vom 11. September 2001 manche Politiker und Juristen dafür plädieren, die Pirateriebestimmung, wie sie dem UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 zugrunde liegt, ebenfalls auf Akte terroristischer Gewalt auszudehnen.

Im modernen Völkerrechtsverständnis führte die rechtliche Nichtgreifbarkeit des Piraten dazu, dass er auf der einen Seite, so könnte man mit Carl Schmitt sagen, in die "merkwürdige" Liste nicht-staatlicher Völkerrechtssubjekte aufgenommen wurde, "eine Liste, die mit dem Heiligen Vater beginnt und mit dem Seeräuber endet". Auf der anderen Seite blieb der Pirat par excellence dasjenige Völkerrechtsobjekt, welches aus der Rechtsgemeinschaft aller Völker auszuschließen ist. In ihm verdichteten sich alle Merkmale von Inhumanität und Unzivilisiertheit. Nachdem heute der internationale Terrorist den Piraten in seiner Rolle als meist gesuchten internationalen Verbrecher abgelöst hat, lässt er sich auf ähnliche Weise wie sein semantischer Vorgänger als Identifikationsfigur eines globalen Freund-Feind-Dualismus heranziehen. Etwa als der US-Präsident George W. Bush nach dem 11. September 2001 die Staatengemeinschaft vor die Wahl stellte, sich entweder auf die Seite Amerikas oder auf die der Terroristen zu stellen.

Drohende Wiederkehr?

Wenn gegenwärtig Seeraub in ihrer Spielart der Somalia-Piraterie eine neue Blüte als Gefahr internationaler Schifffahrt zu erleben scheint, so ist dieses Phänomen vor allem im Zusammenhang neuer Formen von Gewalt zu sehen, die weder vollständig staatlicher Kontrolle unterliegen, noch durch das Aufeinandertreffen militärisch wie politisch gleichberechtigter Gegner gekennzeichnet sind. Zu einer ähnlich globalen Gefahr wie um 1700 könnte die heutige Piraterie am Horn von Afrika allerdings nur unter den Bedingungen werden, dass erstens eine ganze Reihe von Küstenstaaten wie Somalia nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt ihr Gewaltmonopol wahrnehmen kann, zweitens der Mangel an legalen Erwerbstätigkeiten in solchen Ländern die Bereitschaft zur gefährlichen Beutejagd auf See steigen lässt. Drittens müsste es zu Nachahmern in größerem Stil auch in anderen Regionen der Welt kommen, die viertens, im Rahmen von Strukturen international organisierter Kriminalität miteinander kooperieren würden. Freilich bleibt davon unberührt, dass örtlich begrenzte Phänomene gewalttätiger Überfälle auf See wohl nie ganz zu unterbinden sein werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Kempe, Fluch der Weltmeere, Frankfurt/M.–New York 2010; ders. "Even in the remotest corners of the world", in: Journal of Global History, 5 (2010) 3, S. 353–372.

  2. Vgl. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, libri tres in quibus ius naturae et gentium, hrsg. v. B.J.A. De Kanter/Van Hettinga Tromp, Leiden 1939, S. 392.

  3. Vgl. Philip de Souza, Piracy in the Graeco-Roman World, Cambridge 1999.

  4. Vgl. Aurelius Augustinus, Gottesstaat, Kempten 1911, S. 191f.

  5. Vgl. Karl-Heinz Böhringer, Das Recht der Prise gegen Neutrale in der Praxis des Spätmittelalters dargestellt anhand Hansischer Urkunden, Frankfurt/M. 1970.

  6. Vgl. Matthias Puhle, Die Vitalienbrüder, Frankfurt/M.–New York, 19942.

  7. Vgl. Les Caraïbes au temps des flibustiers XVIe–XVIIe siècles, Paris 1982.

  8. Vgl. Michael Kempe, Die Piratenrunde, in: Volker Grieb/Sabine Todt (Hrsg.), Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012, S. 155–180; Arne Bialuschewski, Between Newfoundland and the Malacca Strait: A Survey of the Golden Age of Piracy, in: Mariner’s Mirror, 90 (2004) 2, S. 167–186.

  9. Vgl. auch M. Kempe, Fluch der Weltmeere (Anm. 1), Kap. 6, S. 245–288; Daniel Panzac, Barbary Corsaires. The End of a Legend 1800–1820, Leiden 2005.

  10. I. Mélikoff, Ghāzī, in: B. Lewis u.a., The Encyclopaedia of Islam, Bd. 2, Leiden 1991, S. 1043–1045; Andreas Rieger, Die Seeaktivitäten der muslimischen Beutefahrer als Bestandteil der staatlichen Flotte während der osmanischen Expansion im Mittelmeer im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1994.

  11. Vgl. Dian H. Murray, Pirates of the South China Coast 1790–1810, Stanford 1987.

  12. Leoline Jenkins, Charge given to an Admiralty Session held at the Old Bailey, [ohne Datum, ca. 1669–1674] in: William Wynne, The Life of Sir Leoline Jenkins, 2 Bde., London 1724, Bd. 1, xc–xci.

  13. Vgl. Charles E. Davies, The Blood-Red Arab Flag, Exeter 1997.

  14. Vgl. Francis R. Stark, The Abolition of Privateering and the Declaration of Paris, New York 1897; Francis Piggott, The Declaration of Paris 1856, London 1919.

  15. Alexander Müller, Die Piraterie im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfes der Völkerbundskommission und der Regierungsäußerungen, Frankfurt/M. 1929, S. 80.

  16. Vgl. United Nations Convention on the Law of the Sea, Part VII, High Seas, Art. 101.: "Definition of piracy: Piracy consists of any of the following acts: (a) any illegal acts of violence or detention, or any act of depredation, committed for private ends by the crew or the passengers of a private ship or a private aircraft, and directed: (i) on the high seas, against another ship or aircraft, or against persons or property on board such ship or aircraft; (ii) against a ship, aircraft, persons or property in a place outside the jurisdiction of any state; (b) any act of voluntary participation in the operation of a ship or of an aircraft with knowledge of facts making it a pirate ship or aircraft; (c) any act of inciting or of intentionally facilitating an act described in subparagraph (a) or (b)."

  17. Vgl. Christoph Sattler, Die Piraterie im modernen Seerecht und die Bestrebungen der Ausweitung des Pirateriebegriffes im neueren Völkerrecht, Bonn 1971.

  18. Rüdiger Wolfrum, Hohe See und Tiefseeboden (Gebiet), in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, München 2006, §53, S. 308.

  19. Vgl. Malvina Halberstam, Terrorism on the High Seas, in: The American Journal of International Law, 82 (1988) 2, S. 269–310; Michael Stehr, Piraterie und Terror auf See, Berlin 2004, S. 93.

  20. Carl Schmitt, Völkerrecht (1948/50), in: ders., Frieden oder Pazifismus?, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 2005, S. 764.

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Dr. phil.; Leiter der Leibniz-Forschungsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen beim Leibniz-Archiv der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover, Waterloostraße 8, 30169 Hannover. E-Mail Link: michael.kempe@gwlb.de