Das, was in der sozialwissenschaftlichen Literatur als "Männerforschung“ bezeichnet wird, ist inzwischen zu einem komplexen multidisziplinären Wissenschaftsgebiet geworden. Im deutschsprachigen Raum dominieren hier die soziologisch orientierten Gender-Studien mit dem paradigmatischen Schwerpunkt der "sozialen Konstruktion von Männlichkeit“, was mit dazu geführt hat, dass zum Beispiel tiefenpsychische Ansätze eher im Hintergrund geblieben und entsprechende interdisziplinäre Ansätze immer noch rar sind. Entwickelt hat sich die Männerforschung in den vergangenen 30 Jahren aus den feministischen Diskursen heraus, in denen gefordert wurde, dass die weibliche Emanzipationsperspektive immer auch im Zusammenhang mit der Kritik der Männerfrage, das heißt der Revision patriarchalischer Strukturen und Haltungen, thematisiert werden müsse, wenn ihre gesellschaftliche Transformation gelingen solle. Darin war auch ein Anspruch an männliche Sozialwissenschaftler enthalten, sich kritisch mit der eigenen Wissenschaftsposition zu beschäftigen und sich einer Männerforschung zuzuwenden. In diesem ersten, feministisch inspirierten Männerdiskurs der 1980er und frühen 1990er Jahre verhielt sich die noch junge Männerforschung gleichsam komplementär zum feministischen Diskurs. Erst im Laufe der 1990er und in den 2000er Jahren "löste“ sich die Männerforschung und suchte – vor allem entlang des inzwischen verbreiteten Konzepts der männlichen Hegemonialität – nach Bestimmungen von Männlichkeit, die neue Relationen eröffnen konnten. Gleichzeitig entwickelte sich auch in der Frauenforschung ein Männlichkeitsdiskurs, der nicht mehr zwangsläufig auf das "Widersachermodell“
Wie das bei der Neuentwicklung einer Wissenschaftsdisziplin meist der Fall ist, eilten und eilen auch in der Männerforschung die theoretischen Diskurse den empirischen Studien voraus, gleichwohl sie sich zunehmend aufeinander beziehen können. In den vergangenen Jahren ist in diesem Zusammenhang eine zunehmende Ausdifferenzierung in verschiedene Forschungsbereiche zu beobachten: Sozialisation, Familie, Gesundheit, Sexualität, Gewalt, Alter, Migration, Arbeit, Politik, Militär.
Männlichkeitsdiskurse als Krisendiskurse
Männerdiskurse waren schon immer auch Krisendiskurse. Zwei Argumentationsfiguren haben sich in den zurückliegenden 100 Jahren gehalten und verfestigt. Zum einen: Die Krise des Mannseins bricht mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Frau auf, denn da wird deutlich, dass die Stärke des Mannes lange Zeit an die behauptete Schwäche der Frau gebunden war und mit der weiblichen Emanzipation ihre selbstbehauptete und darin tradierte Legitimation verliert. Die zweite Argumentationsfigur zur Krise des Mannseins sieht die Männer derartig in die Logik der Ökonomie und die Mechanismen der industriellen Produktion verstrickt, dass sie in ihrem Denken und Fühlen eher in der Maschine aufgehen (später in den neuen Technologien), als dass sie ihr Leben in Distanz dazu und aus sich selbst heraus bestimmen könnten.
Vom Bild des Maschinenmannes bis hin zu dem des abstract worker – also von der vorletzten Jahrhundertwende bis zu Beginn dieses Jahrhunderts – zieht sich das gleiche Klage- und Kritikmotiv industriell zugerichteter Männlichkeit durch die Verständigungs- und Selbstvergewisserungsschriften (männer-)kritischer Wissenschaftler und Publizisten. Kein Wunder, dass Männlichkeitsdiskurse bis heute immer dann auch als Krisendiskurse geführt wurden, wenn Transformationsprozesse wie vor allem die Veränderungen im arbeitsgesellschaftlichen System, in der Arbeitsteilung der Geschlechter und damit im Geschlechterverhältnis aufziehen. "Viel zu oft werden diese Transformationen als 'Krise‘ beschrieben, ohne dass dabei genau bezeichnet würde, für wen die Veränderungen eigentlich tatsächlich wie krisenhaft, wie bestandskritisch und bedrohlich sind (…). Die ständige Männerkrisenbeschwörung der letzten Jahr(hundert)e ließe sich demnach (…) als ein Echo beschreiben, das durch seinen ständigen Nachhall eine spezifische Vorstellung von Männlichkeit am Leben erhält, im gesellschaftlichen und kulturellem Zentrum verankert und diese Konstellation letztlich womöglich sogar als 'natürlich‘ erscheinen lässt.“
Hegemoniale Männlichkeit und die Dialektik von Dominanz und Verfügbarkeit
Erst mit der Einführung des Paradigmas der hegemonialen Männlichkeit in der Ablösung des traditionellen Patriarchatsbegriffs eröffnete sich der Männerforschung ein eigenständiger und nun offener Theorie- und Forschungshorizont. R. Connell
Trotz dieser Entstrukturierung bleibt aber die Tendenz, männliche Macht in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen durchzusetzen, erhalten. Denn "Männlichkeit ist, als soziales Konstrukt, scheinbar unauflöslich mit Macht konnotiert. Die symbolische Verknüpfung von Männlichkeit und Macht gilt für die heterosoziale wie für die homosoziale Dimension der Gesellschaftsverhältnisse.“
In der neueren, international vergleichenden Männerforschung, wie sie sich etwa im "Handbook of Studies on Men and Masculinities“
Hier setzt die kritische Frage nach der weiteren Gültigkeit des Hegemonialitäts-Modells als Leitkonzept der Männerforschung an.
Ein zentraler Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass das Konzept nur die eine, die Herrschaftsseite männlicher Hegemonialität sieht. Männer stellen zwar Machtverhältnisse her, sind ihnen aber gleichzeitig unterworfen. Sie sind eben die Geschlechtergruppe, die den Bedingungen kapitalistischer Verwertung ohne echte Rückzugsmöglichkeit (wie sie die Frau in der gesellschaftlich gebilligten Zone der Mutterschaft hat) ausgesetzt ist. Das Konzept kann also nur die Seite der Dominanz von Männlichkeit, nicht aber die Seite der männlichen Verfügbarkeit und Verletzlichkeit, der abhängigen Verstrickung des Mannes in den industriekapitalistischen Verwertungsprozess aufschließen. Damit gerät das Hegemonialkonzept in Gefahr, selbst zum Verdeckungszusammenhang zu werden, in dem dann Leiden von Männern nicht mehr thematisiert werden können. Hegemoniale Männlichkeit konstituiert sich vielmehr – in den industriekapitalistischen Gesellschaften – in der Dialektik von männlicher Dominanz und Verfügbarkeit.
Tiefenpsychologischer Zugang: Externalisierung und Bedürftigkeit
Durch die Literatur zur geschlechtsspezifischen Sozialisation im Lebenslauf zieht sich ein mehr oder minder differenziertes Modell: Jungen und Männer tendieren dazu – vor allem in kritischen Lebenssituationen – sich außengerichtet zu verhalten, Gefühle abzuspalten, ihre Hilflosigkeit auf Schwächere zu projizieren und ihr Innen zu verschließen. Diese männliche Tendenz zur Externalisierung, der Abspaltung der eigenen Gefühle, wird in der Psychoanalyse nicht nur als Folge der zentrifugalen Dynamik des frühkindlichen Ablösungsdrucks des Jungen von der Mutter und der Fragilität der Vatersuche gesehen,
Auch diese Entsprechung ist – wie die Ambivalenz der kindlichen Entwicklungsdynamik – im Alltag und unter der Oberfläche der Geschlechternivellierung verdeckt. Deshalb sei es auch Aufgabe der Männerforschung, solche Verdeckungen aufzuschließen. Erst dann werde sichtbar, „dass Männlichkeit nicht allein als gesellschaftliche Konstruktion, sondern ebenso als 'kulturanthropologische Verstrickung‘ zu sehen ist. So bildet die spannungsreiche Bedürftigkeit, die als Folge der Blockierung des Zugangs zum eigenen Innen entsteht, eine verdeckte Grundstruktur des Mannseins, die unter anderem durch Gewalt verborgen gehalten werden kann. Die zwiespältige Mutter-Sohn-Beziehung wird durch forcierte Selbstständigkeit und Dominanzgebaren verdeckt. Männerbünde verdecken den Fluchtaspekt im Drang des Mannes nach außen, seine Abwehr des Weiblichen und das Homosexualitätstabu. Mit der Beschreibung solcher Verdeckungen können Verbindungslinien vom vormodernen Patriarchat über die industriekapitalistische Gesellschaft zur Postmoderne aufgezeigt werden, ebenso wie zwischen sozialen Verhältnissen und leibseelisch verankerter Geschlechtlichkeit.“
Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und Vereinbarkeit
Hegemoniale Männlichkeit ist im institutionellen System der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung verankert. In diesem Zusammenhang wird wieder die zentrale Bedeutung der Erwerbsarbeit für den industriegesellschaftlichen Männlichkeitsentwurf in der Männerforschung betont.
Allerdings wird schnell eine Barriere sichtbar: Während die Frauen im Zuge der sozialstaatlichen Transformation der Frauenfrage und insbesondere der Vereinbarkeitsproblematik in der Mehrzahl längst gelernt haben, zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre zu changieren, sind die meisten Männer so gut wie nicht darauf vorbereitet. Die innerfamiliale Rolle war ihnen aus verschiedensten Gründen bisher verwehrt, ihnen fehlt die entsprechende Erfahrung und die öffentliche Anerkennung einer solchen zweiten Rollenexistenz. Dies äußert sich empirisch bei vielen Männern in der Spannung zwischen Wunsch und Verwehrung: In Umfragen gibt eine Mehrheit von Männern (vor allem Väter) an, in der familialen Haus- und Erziehungsarbeit engagiert zu sein, es aber auf Grund ihrer nachweisbaren Arbeitsbelastung gar nicht so zu können, wie sie es sich wünschten. Dass gerade bei Vätern aus der Mittelschicht mit qualifizierten Berufen die Diskrepanz zwischen gewollter engagierter, tendenziell gleichberechtigter Vaterschaft und tatsächlicher Geschlechterpraxis besonders auffällig ist, zeigen Männerstudien der 2000er Jahre.
Es gilt also, den Spagat zwischen einer selbstbeanspruchten, aufgeklärten und darin modernen Männlichkeit und der steigenden Beanspruchung in intensivierten Arbeitsprozessen zu bewältigen. Dabei wird oft deutlich, dass dem von Männern (und Frauen) vor allem in Umfragen beanspruchten Diskursideal der Geschlechtergleichheit im Partnerschaftsalltag eine Praxis der Geschlechterungleichheit entgegenstehen kann. Dies wird dahingehend erklärt , dass die Idee der Gleichheit der Geschlechter und die Einschätzung des alltäglichen familialen Engagements auf unterschiedlichen Ebenen liegen: "Während die Idee der Gleichheit einer reflexiven Diskurslogik gehorcht, beruht die Verrichtung alltäglicher Handlungen auf einer anderen, praktischen Logik“ inkorporierter überkommener Gewohnheiten,
Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung wirkt vor allem auch in betrieblichen und administrativen Organisationen. Studien zu gendered organisations zeigen,
Gefährdete, riskante und sozial destruktive Männlichkeiten
Im Lichte der Dialektik von männlicher Hegemonialität und Verfügbarkeit ist inzwischen auch die daraus resultierende Bedürftigkeit des Mannes, seine Verletzlichkeit in den Vordergrund des neueren Männerdiskurses getreten. Männer aller sozialen Schichten leiden gerade wegen ihrer Identitätsbindung an die Erwerbsarbeit unter den Belastungen, welche die intensivierten Formen der Arbeitsorganisation, prekäre Arbeitsverhältnisse und Ausgrenzung aus der Arbeit mit sich bringen.
Auch im Gewaltdiskurs werden sie nicht mehr nur als Täter, sondern auch als Opfer erkannt. Dennoch bleibt die offensichtliche männliche Affinität zu körperlichen Gewalttaten und zu rechtsextremer Gewaltbereitschaft
Deutlich angestiegen sind die Untersuchungen zum Risikoverhalten von Männern, vor allem im Gesundheitsbereich.
Nicht nur in prekarisierten Arbeitsverhältnissen wie der Leiharbeit
Resümee
Der gemeinsame Tenor der gegenwärtigen Männerforschung lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass sich hegemoniale Männlichkeit "flexibilisiert“ hat und "ihre Ränder unscharf“ geworden sind.
Das Problem der Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, das traditionell nur als Sache der Frauen galt, ist inzwischen auch zum Männerproblem geworden und wird deshalb die Männerforschung in Zukunft beschäftigen. Ebenso werden die männertypischen Probleme – Bewältigung von intensivierter Arbeit und sozialer Ausgrenzung sowie Verstrickung in Gewalt – als Themen erhalten bleiben. Allerdings muss die Männerforschung aufpassen, dass sie in Zukunft nicht die inzwischen schon fast eingebürgerte Tendenz, Männer ausschließlich als Problemgruppe zu sehen, verstärkt. Männlichkeiten werden heute von vielen Männern in einer Kultur des Entgegenkommens der Geschlechter vielfältig und darin balancierend erlebt. In Männerstudien von Marktforschungsinstituten