"Haben Sie die Tätowierung noch? Können wir sie mal sehen?"
"Im März diesen Jahres war ich in Auschwitz (…) ich versuchte mir vorzustellen, wie es für Sie und tausende Menschen gewesen sein musste, hungrig, unzureichend bekleidet, mit der ständigen Angst, dem Tode so nahe zu sein … Ich weiß, dass es unvorstellbar bleibt."
Bei dem Thema Nationalsozialismus lassen sich zwei parallele Phänomene beobachten. Zum einen eine gefühlte Übersättigung: Ich kann es nicht mehr hören, ich weiß schon alles darüber,
Historisches Lernen vor Ort
In Reden anlässlich von Gedenktagen wird häufig angemahnt, gegen das Vergessen anzukämpfen. Dabei ist es zum Glück kaum mehr notwendig zu fordern, dass an den Holocaust zu erinnern und der Opfer zu gedenken sei. Die Schülerinnen und Schüler heute haben kaum Erfahrungen damit gemacht, dass diese Geschichte "verleugnet" oder "verdrängt" werden sollte, ganz im Gegensatz zur Generation der in den 1950er und 1960er Jahren geborenen Lehrer und Gedenkstättenpädagogen, die häufig noch darum kämpfen musste, das Thema NS-Verbrechen auf die Tagesordnung zu setzen.
Bis heute – fast 70 Jahre nach Kriegsende – ist vieles erreicht worden: Durch das Engagement der "Generation Aufarbeitung" und durch die Gedenkstättenkonzeption des Bundes sind die großen Gedenkstätten in die institutionelle Förderung aufgenommen worden, neue Ausstellungen sind entstanden.
Die Jugendlichen bringen bereits zahlreiche Geschichtsbilder und Narrative vom Nationalsozialismus mit. Sie sind bewusst oder unbewusst geprägt durch Bilder und Filme, die sie zuvor gesehen haben. Hierbei berichten Gedenkstättenpädagogen, die beispielsweise an ehemaligen NS-Gefängnissen oder an Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager arbeiten, von nicht erfüllten Erwartungen der Besucher, da sie beispielsweise einen gewissen "Gruselfaktor" (Wo sind die Gaskammern?) nicht bedienen können und dies gewöhnlich auch nicht wollen. Wie aber kann man darauf reagieren und die von den Medien geprägten Bilder in den Köpfen aufweichen, ohne Schüler mit einem Gefühl "so schlimm war es ja gar nicht" wieder zu entlassen?
Ein Gespräch mit den Besuchern über Vorstellungen, Vorwissen und Eindrücke nach der Begegnung mit einem Zeitzeugen oder einem Gedenkstättenbesuch ist bei der Bildungsarbeit essenziell. So können bestehende Geschichtsbilder an einem Beispiel hinterfragt und dekonstruiert werden.
Der Massenmord an den Juden und das Gedenken an ihn hat sich inzwischen weitgehend von den Zeitzeugen entkoppelt.
Neue Fragen, Interdisziplinarität und Multiperspektivität
Wichtiger also als die Frage, was passiert ist, ist heute die Frage, wie es dazu kam. Was hat junge Menschen am Nationalsozialismus fasziniert? Wie wird man zum Täter, wie zum Mörder? Wie handelt ein Mensch unter bestimmten Bedingungen und unter einer Diktatur? Warum haben einige geahnt, dass es ein Weg in die Diktatur war? Was waren die Vorzeichen auf dem Weg dorthin und wie kann man diese erkennen? Wie funktionieren Mechanismen der Ausgrenzung – damals wie heute?
Die Bearbeitung des Themas Nationalsozialismus wird häufig allein Gedenkstätten und Historikern zugewiesen. Hier fehlt es bisweilen noch an Mut zu interdisziplinärem Denken. Welche Antworten gibt es beispielsweise aus der Hirnforschung oder Sozialpsychologie zu diesen Fragen? Ein Beispiel: Damit Menschen, vor allem Kinder, lernen, sich in der komplexen Umwelt zurechtzufinden, müssen sie Dinge und Personen zuordnen und kategorisieren. Das menschliche Gehirn ordnet ähnliche Objekte (Tisch und Stuhl sind Möbel) und "soziale Objekte" (Jenaer und Erfurter sind Thüringer, Joggerinnen und Tischtennisspieler sind Sportler).
Ebenso wichtig wie Interdisziplinarität ist Multiperspektivität. Während mit der beginnenden Täterforschung die bekannten führenden Akteure im Nationalsozialismus in den Fokus rückten, setzte die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Wehrmachtsangehörigen beispielsweise erst in den 1990er Jahren ein. Auch die Erforschung der "gewöhnlichen" Bevölkerung und ihrer Beteiligung sowie der regionalen Verwaltung, der Industrie und ihrer Akteure ist noch weitestgehend ausgeblieben.
Wenn wir heute von Zeitzeugen sprechen, meinen wir in der Regel Opfer des Nationalsozialismus. Die meisten auf Täterseite Beteiligten verdrängten das Geschehene und schwiegen. Aus Angst, Tätern eine Bühne oder ein Forum zu geben, haben auch nachkommende Generationen die Beteiligten von damals selten befragt. Dabei ist es doch paradox, die Opfer nach Hintergründen, Handlungen und Ereignissen, die zu Verfolgung und Vernichtung führten, zu befragen – und nicht die Täterinnen und Täter.
Durch Einbeziehung der Akteure (Täter, Zuschauer, Mitläufer, Helfer) lassen sich Fragestellungen entwickeln, die das Geschehen an konkreten Beispielen vor Ort thematisieren: Wie haben die Menschen reagiert? Wie haben Verantwortliche gehandelt, wurden Handlungsoptionen genutzt? Statt also die Erwartungen des "Gruselfaktors" zu bedienen, ist Geschichtsvermittlung möglichst aus verschiedenen Blickwinkeln zu gestalten. Betrachtet man die Geschichte nicht nur aus der Opfer-Täter-Perspektive, sondern bezieht auch Mitläufer, Helfer, Retter, Zuschauer, Profiteure mit ein, ermöglicht dies eine differenzierte Auseinandersetzung und eröffnet Fragen nach alternativen Handlungsoptionen. Vor allem dieser Aspekt ist für die Bildungsarbeit zentral. Die Perspektiverweiterung verdeutlicht, dass die Rollen nicht eindeutig festgelegt sind. Denn aus Zuschauern können Täter, Profiteure oder Kollaborateure werden. Moralisch eindeutige Urteile werden so deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, und eine reine Opferidentifikation wird verhindert.
Zukunft der Geschichtsvermittlung ohne Zeitzeugen
Ohne Zeitzeugen wird es keine "Veto-Instanzen" mehr geben. Was mit ihren Geschichten passiert, können die Betroffenen nicht mehr beeinflussen. Es stellt sich daher die Frage, wie ihre Berichte weitergegeben werden.
Zeitzeugenvideos.
Seit den 1990er Jahren, im Wissen um das kommende Ende der unmittelbaren Zeitzeugenschaft, sind zahlreiche Audio- und Videointerviews mit Erlebnisberichten von Überlebenden entstanden. Prominentes Beispiel ist das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute for Visual History and Education mit rund 52.000 Interviews und einem Umfang von etwa 100.000 Stunden Interviewmaterial.
Wie auch Historikerinnen und Historiker dazu neigen, Geschichte aus der Gegenwart heraus zu beurteilen, werden auch Zeitzeugen das Erlebte im Lichte des Jetzt deuten. Ihre Geschichten orientieren sich an den Erwartungen der Adressaten, und jede ihrer Erzählungen wird bestimmte Aspekte auswählen. Gleichzeitig wachsen Jugendliche mit widersprüchlichen und konkurrierenden Geschichtsbildern und -deutungen (Familie, Schule, Medien) auf. Beim Einsatz von Zeitzeugenvideos in der Bildungsarbeit kann es nicht darum gehen, die eine, "richtige" Geschichtsdeutung zu übernehmen beziehungsweise zu vermitteln. Vielmehr sollten die Aussagen reflektiert, kontextualisiert und dekonstruiert werden. Es geht um Authentizität: Was kann mir ein Zeitzeuge berichten und was nicht? Wie kann ich erkennen, ob der Zeitzeuge das Wissen im Nachhinein durch Literatur oder Dokumentationen erworben hat oder ob es die eigenen Erinnerungen sind?
Bei aufgezeichneten Interviews gilt es, weitere Rahmenbedingungen zu beachten: Welche Fragen wurden dem Zeitzeugen gestellt? Unter welchen Bedingungen und wann sind die Interviews entstanden? Welche Ausschnitte werden den Zuschauern gezeigt? Hier rücken die Auswahl der Gesprächssequenzen, die Geschichtsdeutung des Interviewers sowie die Intentionen und Ziele des Videoportals in den Fokus. Auch die Wirkungsforschung der Video-Interviews von Zeitzeugen im Vergleich zu persönlichen Begegnungen und schriftlichen Quellen steht noch ganz am Anfang, so dass noch keine empirischen Aussagen möglich sind.
All dies schärft das Verständnis, wie Erinnerung funktioniert, wie Geschichte konstruiert wird und wie sie sich im Laufe der Zeit verändern kann. Das (vermeintlich) Authentische zu erfassen und die Deutungen von Geschichte zu erkennen, sind wichtige Kompetenzen des historischen Lernens, die in der Auseinandersetzung mit Zeitzeugen an konkreten Beispielen erlernt werden können.
Kulturelle Vermittlung.
Neben Zeitzeugenvideos können Geschichten auch über Film, Literatur und Theater vermittelt werden. Indem beispielsweise Biografien auf die Bühne gebracht werden, können Schüler ihre eigenen Bezüge zur Geschichte erarbeiten, ihre eigenen Gedanken einbringen und ihre Fragen stellen. Gleichzeitig verbinden sich damit für diese Art der Vermittlung neue Fragen auf mehreren Ebenen: Wie kann man Geschichte auf der Bühne erzählen? Ist Identifikation mit Opfern und Tätern gewünscht? Sollen Schüler beispielsweise einen "Hitlergruß" nachmachen dürfen? Wie kann Überwältigung vermieden werden? Ist Fiktion erlaubt oder sogar erwünscht?
Neue Medien.
Die Erinnerung an die Vergangenheit ist längst Teil der digitalen Welt. Ob ein virtueller Rundgang durch das Anne-Frank-Haus in Amsterdam, ein fiktionales Profil eines Holocaust-Opfers in einem sozialen Netzwerk
Neben diesen und anderen Chancen gilt es, die Risiken zu bedenken. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion können verschwimmen, die Gefahr der Banalisierung ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht nur im Netz, auch durch neue Technik wie augmented reality, 3-D-Projektionen, Computersimulationen oder Geräuschkulissen könnte sich Geschichtsvermittlung ändern, Geschichte erlebbar(er) gemacht werden. Aber wo liegen die Grenzen? Was ist erlaubt? Wie gehen wir mit den Quellen in Zukunft um? Erwartet uns ein "Disneyland des Grauens"? Digitale Gruselkabinette? Wenn wir die Mauer durch Berlin über augmented reality sichtbar machen können, werden wir auch Bilder aus Konzentrationslagern generieren können.
Kompetenzvermittlung
Immer wieder gibt es Stimmen, die das mangelnde Geschichtswissen der Jugendlichen beklagen und einen Wissenskanon fordern. Hierbei wird jedoch oft übersehen, dass jeder Kanon bereits eine Deutung der Geschichte darstellt. In der Regel folgt ein Geschichtskanon einer nationalgeschichtlichen Perspektive und lässt hierbei bestimmte Sichtweisen, beispielsweise von Migranten in einer Gesellschaft, außen vor beziehungsweise vernachlässigt sie. Somit zieht man eine Grenze zwischen der "Wir-Gemeinschaft" und "den Anderen".
Wichtiger als das Auswendiglernen von Geschichtsfakten und dem Erlernen einer vorgegebenen Deutung ist es jedoch, Kompetenzen im Umgang mit Vergangenheit, mit Geschichte und Geschichten, mit Narrativen und Deutungen zu erarbeiten.
In unserer Informationsgesellschaft haben wir nicht mehr das Problem, Zugang zu Daten und Fakten zu erhalten und Informationen zu beschaffen. Mithilfe von Suchmaschinen erhält man zu fast allen Themen in Sekundenschnelle meist mehrere tausend Treffer. Nur wie geht man mit dieser Flut an Informationen um? Nach welchen Kriterien soll man Daten bewerten und einordnen? Die neue Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist der richtige und kritische Umgang mit den zur Verfügung stehenden Informationen. Hier muss die politische Bildung Angebote machen. Sie muss Schülern und Studierenden Antworten geben können auf die Fragen, wie Geschichtsrecherche im Zeitalter von Wikipedia aussieht und welche Geschichtskompetenzen wir zukünftig brauchen. Denn nur wer Information einschätzen, quellenkritisch hinterfragen und vermitteln kann, wird sich in einer digitalen Gesellschaft konstruktiv beteiligen und einbringen können. Wichtig ist es, neue Medien und die damit verbundenen Möglichkeiten nicht kategorisch abzulehnen, sondern sich mit ihnen aktiv auseinanderzusetzen.
Beispielsweise durch den Einsatz von Video-Interviews von Zeitzeugen oder durch Spielfilme und Computerspiele zum Thema Zweiter Weltkrieg lassen sich Geschichtskompetenzen stärken. Auch Projekte zum Umgang mit Quellen, ihrer Darstellung und digitalen Aufbereitung können Geschichts- und Medienkompetenzen fördern. Eine Aufgabe wird es sein, Angebote zur historisch-politischen Bildung zu schaffen, die vor allem Jugendliche ansprechen. Denn sonst werden es Andere mit gegebenenfalls anderen Absichten tun. Welche Ansätze dabei gewählt und welche Richtung eingeschlagen wird, ist allerdings offen und kaum beeinflussbar.
Die historisch-politische Bildung hat die Aufgabe, Wege aufzuzeigen, wie die Vergangenheit auf aktuelle politische Fragen bezogen werden kann. Dabei darf sie nicht versuchen, Deutungen der Geschichte zu zementieren, dies führt dazu, Lernende zu bevormunden. Ziel einer demokratischen historischen Bildung sollte daher sein, die Gesellschaft zu einer selbstständigen Reflexion von Geschichtsdeutungen und einer aktiven Beteiligung von Kontroversen zu befähigen.
Schluss
Es ist deutlich geworden, dass die Geschichtsvermittlung zur NS-Geschichte eine neue Vermittlungspraxis benötigt. Historisches Lernen sollte den Umgang mit Geschichte zum Gegenstand machen. Dabei sollte es weniger um individuelle Schuld, um moralische Appelle oder erhobene Zeigefinger gehen. Stattdessen brauchen wir neue Zugänge zur Geschichte, die aktuelle Fragen der heutigen jungen Generation und neue Perspektiven zulassen. Ansonsten laufen wir Gefahr, Gefühle des Überdrusses und der Übersättigung zu erzeugen, die in Ablehnung und Ignoranz münden.
Hier besteht ein biografischer Anknüpfungspunkt für jeden, unabhängig von der Herkunft und von persönlichen Bezügen zur Geschichte. Jeder, der in Deutschland lebt, hat eine Geschichte mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit den Diskursen und Debatten der vergangenen Jahrzehnte. Insofern ergibt sich eine Verantwortung nicht für das Geschehene: Die Generation von heute und künftige Generationen haben Verantwortung für die Formen der Erinnerung zu übernehmen.
Jede Generation sucht sich ihren Zugang zur Geschichte. Erinnerung kann man der nächsten Generation nicht "verordnen". Aus der Vergangenheit lassen sich nicht zwingend dieselben Orientierungen für nachfolgende Generationen ableiten.