Am 27. Januar 2012 schilderte Marcel Reich-Ranicki vor dem Deutschen Bundestag anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus jenen Tag im Warschauer Getto, an dem die Deportation der Juden in das Lager Treblinka begann. Solche tief bewegenden Lebenszeugnisse über die NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, über das Überleben der Shoa, werden immer seltener. Das absehbare Ende der unmittelbaren Zeitzeugenschaft wird die Forschung zum Nationalsozialismus, vor allem aber die Erinnerungskultur und die Vermittlungspraxis verändern.
Immer stärker überlagern sich Zeitzeugenberichte und Forschungsergebnisse mit Geschichten und Bildern fiktionaler Darstellungen des Nationalsozialismus. Jugendliche werden mit einer Fülle von Informationen durch Schule, Medien und Internet konfrontiert. Zugleich scheinen empirische Studien zu belegen, wie lückenhaft oft das Faktenwissen ist – nicht nur unter Jugendlichen. Hier gilt es, neue Wege des historischen Lernens zu finden. Doch kann es einen Anspruch auf die eine wahre Geschichtsdeutung und -darstellung geben? Sind nicht die als authentisch wahrgenommen Berichte von Zeitzeugen immer im Lichte des Jetzt verfasst, und gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, so sehr sie auch um "Objektivität" bemüht sind, nicht immer schon von aktuellen Prämissen und Deutungen aus?
Letzteres spielte auch in der geschichtspolitischen Debatte der vergangenen Jahre über die Diplomaten des Auswärtigen Amts im "Dritten Reich" und in der Bundesrepublik eine Rolle. Unter anderem wurde den Mitgliedern der Historikerkommission, welche die Studie „Das Amt und die Vergangenheit“ verantworteten, vorgeworfen, sie verfolgten ein politisches Ziel und hätten Ergebnisse ihrer Forschung entsprechend interpretiert und präsentiert. Es bleibt abzuwarten, ob es zu ähnlichen Auseinandersetzungen kommt, wenn die in Arbeit befindlichen Studien über die Vergangenheiten von Finanz-, Wirtschafts- und Justizministerium, des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz präsentiert werden. Dabei dienen öffentliche Debatten über Geschichte und Erinnerung nicht zuletzt der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung; sie sind Ausdruck eines demokratischen und pluralen Geschichtsverständnisses.