Im Herbst 2012 jährt sich zum 50. Mal ein Ereignis, das als Meilenstein auf dem Weg zur unbestrittenen Pressefreiheit in Deutschland und zu einem Journalismus gelten kann, der sich als kritisches Gegenüber des Staats versteht. Auf Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) drangen am späten Abend des 26. Oktober 1962 Beamte des Bundeskriminalamts und der örtlichen Polizei in die Räume des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel“ ein, durchsuchten die Redaktion und nahmen im Folgenden den Herausgeber Rudolf Augstein, den Verlagsdirektor, den Chefredakteur und eine Reihe weiterer Redakteure fest, von denen etliche in Untersuchungshaft genommen wurden, Augstein gar über drei Monate.
Obwohl meterweise Material beschlagnahmt wurde, ließ sich nichts finden, was die Vorwürfe des Landesverrats oder der Korruption belegt hätte. Gegen Augstein, Ahlers und einen Offizier wurde zwar Anklage erhoben, aber der BGH lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Journalisten ab. Nicht unerheblich für diesen Ausgang dürfte ein unter dem Pseudonym "Judex“ im "Spiegel“ veröffentlichter Artikel des BGH-Senatspräsidenten Heinrich Jagusch gewesen sein, der eine Parallele zur skandalösen Verurteilung Carl von Ossietzkys 1931 durch das Reichsgericht wegen angeblichen Landesverrats zog.
Wichtiger sind die politischen und verfassungsrechtlichen Folgen. Nicht nur die Kollegen im Hamburger Pressehaus, fast alle deutschen Zeitungen und die Journalistenverbände solidarisierten sich mit dem "Spiegel“, sofort erhoben sich Proteste von Studenten, bald aber auch in der politischen Publizistik und im Bundestag,
Wegen ihrer nachhaltigen Wirkung ist freilich zu fragen, ob die "Spiegel“-Affäre das Verständnis von Qualitätsjournalismus nicht auch in problematischer Weise geprägt hat. Wie viel Pressefreiheit es in einem Land gibt, hängt ja nicht nur von den rechtlichen Rahmenbedingungen ab, sondern ist auch an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Realitäten zu messen.
Pressefreiheit und Öffentlichkeit in Deutschland heute
In der Rangliste der Pressefreiheit, die von der internationalen Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen regelmäßig publiziert wird, taucht Deutschland in der jüngsten Erhebung 2011 unter 179 Staaten auf Platz 16 auf, umgeben von Zypern und Jamaika, die sich diesen Rang mit der Bundesrepublik teilen, und direkt vor Costa Rica. Ganz vorn stehen Finnland und Norwegen, ganz am Ende Nordkorea und Eritrea.
Für ein hohes Maß an Pressefreiheit spricht, dass einflussreiche Medien, Journalistinnen und Journalisten immer wieder Verfehlungen führender Politiker aufgedeckt haben, die deshalb zurücktreten mussten. Die Barschel-Affäre hat "Der Spiegel“ 1987 noch selbst angestoßen, neuerdings, etwa bei den Enthüllungsaffären um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg oder den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, scheint ein Zusammenspiel mehrerer Medien, verstärkt durch die wachsende Bedeutung des Internets für das Entstehen von Öffentlichkeit, die Kontrollfunktion gegenüber Staat und Politik zu erfüllen. Gleichwohl sind die Reporter ohne Grenzen nicht völlig zufrieden: Pressesprecherin Ulrike Gruska weist auf wirtschaftliche und organisatorische Gefährdungen der Pressefreiheit in Deutschland hin, etwa in Form von zögerlicher Bereitschaft von Institutionen zur Akteneinsicht, zunehmender Medienkonzentration oder restriktiver Akkreditierung von Journalisten bei großen Ereignissen.
Für die unter anderem vom "Süddeutsche Zeitung“-Kommentator Heribert Prantl gestellte Frage, ob es jenseits institutioneller Beschränkungen auch kulturelle Barrieren für die Entstehung von Öffentlichkeit gibt, die in den Denk- und Handlungsweisen der Journalisten selbst angelegt sind, wäre die Kenntnis von Missständen aufschlussreich, die nicht öffentlich werden.
Bei einer Betrachtung der Enthüllungsaffären der vergangenen Jahrzehnte fällt auf, dass Politiker meistens wegen eines persönlichen Fehlverhaltens zurücktreten mussten, fast nie wegen politischer Pläne und Entscheidungen. Das wirft Licht auf den Zustand der von den Medien hergestellten politischen Öffentlichkeit, die sich trotz des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols gern als "vierte Gewalt“ bezeichnet und lieber Immobilienkredite oder Liebschaften von Politikern aufs Korn nimmt als politische Programme und Strategien. Bei dem Artikel "Bedingt abwehrbereit“, durch den die "Spiegel“-Affäre ihren Anfang nahm, war das anders.
Politik und Öffentlichkeit vor der Affäre
Kulturell war der Bruch von 1945 weniger scharf, als es die totale Kapitulation am 8. Mai 1945 erscheinen lässt. Die Deutschen wurden an diesem Tag ja nicht ausgetauscht, und mit ihnen blieben erst einmal ihre Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen. In der politischen Kultur pflanzte sich zunächst eine autoritäre Tradition fort, die es auch schon vor 1933 gegeben hatte und die Wasser auf die Mühlen der Nationalsozialisten gewesen war. Zu ihr gehörte die verbreitete Vorstellung, die Medien hätten dem Staat und den von den Machthabern formulierten Interessen der Nation zu dienen. Die letztlich dann doch erfolgreichen Bemühungen der angelsächsischen Besatzungsmächte um einen vom Staat unabhängigen Journalismus, die von deutschen Medienpolitikern wie Hans Bredow, Adolf Grimme oder Fritz Sänger unterstützt wurden,
Dies ist auch an der Medienpolitik der Regierungen Adenauer zu erkennen. Die erste plante 1952 ein Bundespressegesetz, das dem Innenminister erlaubt hätte, missliebige Zeitungen zu verbieten.
Auch "Der Spiegel“, für dessen Herausgeber die deutsche Nation zeitlebens ein Fluchtpunkt des Denkens und Handelns gewesen ist,
Die Medienpolitik Adenauers und publizistische Kampagnen wie die Axel Springers und seiner Blätter zur Deutschlandpolitik waren Ausdruck einer bis Anfang der 1960er Jahre bei Politikern wie Journalisten virulenten Auffassung, die dem Journalismus eher eine staatstragende, volkspädagogische Rolle zuschrieb als die Aufgabe, für Transparenz zu sorgen. Manches spricht dafür, dass diese Mentalität am Grund der politischen und journalistischen Kultur bis heute nicht ganz verschwunden ist und seit der Wiedervereinigung auch wieder an die Oberfläche kommt.
Gegenstand, Grund und Ergebnis der Affäre
Über die "Spiegel“-Affäre ist viel publiziert, ihr dramatischer Ablauf und ihre unmittelbaren Folgen sind reichlich beschrieben und dokumentiert worden.
Der Gegenstand war Ahlers’ Artikel "Bedingt abwehrbereit“ über die Rüstungsstrategie der Regierung Adenauer und ihres Verteidigungsministers Strauß. So lang und für Durchschnittsleser wohl auch langweilig dieser Text war – es handelte sich insofern um eine bemerkenswerte Rechercheleistung, als mit Hilfe des berühmten "Spiegel“-Archivs aus zahllosen verstreut publizierten militärischen Informationsdetails das Gesamtbild systematischer Vernachlässigung konventioneller Verteidigungskraft zugunsten nuklearer Rüstung zusammengesetzt worden war. Dabei fehlte es nicht an Sorgen um die Bundesrepublik, die den Text grundierten: "In der Patt-Lage könnte Amerika versucht sein, örtliche Erfolge der Sowjetarmee in Europa im Kampf mit den noch an Zahl unterlegenen Nato-Verbänden hinzunehmen, um den beiderseits tödlichen Schlagabtausch mit strategischen Kernwaffen zu vermeiden.“
Das Zitat führt zum eigentlichen Grund der Affäre. Dass er nicht in der Sorge um einen Landesverrat lag, sondern im Ärger des Bayern Strauß über das Hamburger Magazin, das ihm ständig auf die Finger klopfte, zeigen eine Reihe von bizarren Nebenerscheinungen. So begründete das Verteidigungsministerium die Dringlichkeit der erbetenen und gern gewährten Amtshilfe des Franco-Regimes bei der Festnahme von Ahlers in Spanien mit der Behauptung, Augstein sei bereits nach Kuba geflohen. Die Rivalität zwischen den Alphatieren Strauß und Augstein, die 1957 bei einem Besuch des Ministers im Haus des Herausgebers trotz ihrer Harmonie im Nationalgefühl nicht hatten zueinander finden können, war der Motor der Affäre. Das geht auch aus den Worten hervor, die Augstein 1966 fand, um die Motive seines Gegners zu charakterisieren: "Das Der-Staat-ist-in-Gefahr-Stück, das Strauß und Hopf vor Adenauer und den Bundesanwälten inszenierten, verlief nur zu Anfang erfolgreich. Selten ist eine fehlgeschlagene Justizintrige so nahezu vollständig aufgeklärt worden: Dank dem Bundesverfassungsgericht.“
Das Verfassungsgerichtsurteil vom 5. August 1966 war die einschneidendste Folge der "Spiegel“-Affäre, weil es die fundamentale Bedeutung der Pressefreiheit für den Staat und die Rechtsprechung wie für den gesellschaftlichen Diskurs in wegweisender Deutlichkeit bestimmte: "Der Staat ist (…) verpflichtet, in seiner Rechtsordnung überall, wo der Geltungsbereich einer Norm die Presse berührt, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen. Freie Gründung von Presseorganen, freier Zugang zu den Presseberufen, Auskunftspflichten der öffentlichen Behörden sind prinzipielle Folgerungen daraus; doch ließe sich etwa auch an eine Pflicht des Staates denken, Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten.“
Am Beispiel der Verteidigungspolitik konkretisierten die Verfassungsrichter die regulierende Funktion von Öffentlichkeit, die Journalismus und Presse nur erfüllen können, wenn der Staat ihre Unabhängigkeit respektiert und garantiert: Dem Interesse der militärischen Führung an Geheimhaltung sei gegenüberzustellen "das sich aus dem demokratischen Prinzip ergebende Anrecht der Öffentlichkeit an der Information und Diskussion der betreffenden Fakten; hierbei sind auch die möglichen heilsamen Folgen einer Veröffentlichung in Rechnung zu stellen. So kann etwa die Aufdeckung wesentlicher Schwächen der Verteidigungsbereitschaft trotz der zunächst damit verbundenen militärischen Nachteile für das Wohl der Bundesrepublik auf lange Sicht wichtiger sein als die Geheimhaltung.“
Nach der Affäre: Öffentlichkeit gewinnt kulturell an Boden
Die deutsche Gesellschaft und ihre Republik wären heute andere, wenn 1962 der Zugriff der Staatsgewalt auf den "Spiegel“ in Öffentlichkeit und Politik unwidersprochen geblieben wäre und der Verteidigungsminister sich gegen den publizistischen Widersacher durchgesetzt hätte. Die wichtigste kulturelle Folge war die Verbreitung der Einsicht, dass Pressefreiheit nicht nur ein professionelles Privileg von Journalisten und Verlegern ist, sondern eine notwendige Bedingung für die Selbstregulierungsfähigkeit moderner, stark parzellierter Gesellschaften, in denen Probleme und Missstände sonst verborgen und daher unbearbeitet blieben.
Der Politologe Thomas Ellwein schätzte sie 1966 noch ambivalent ein: "Die verfassungsmäßigen Voraussetzungen, die Probleme unserer Regierungspraxis und die obrigkeitsstaatliche Haltung, die allesamt die 'Spiegel‘-Affäre erst ermöglicht haben, wurden (…) zwar untersucht und kritisiert, praktisch aber kaum verändert.“
Nach der Affäre: Probleme von Öffentlichkeit
Wenn Pressefreiheit nicht nur – wie im Verfassungsgerichtsurteil vom 5. August 1966 festgehalten – verlangt, dass der Staat sich aktiv um ihre (verfassungs-)rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen kümmert, sondern darüber hinaus besondere Qualitäten der politischen und journalistischen Kultur voraussetzt, dann ist zu fragen, welchen Begriff von Qualitätsjournalismus, der Öffentlichkeit als Ressource von demokratischer Selbstregulierung bereitstellt, die "Spiegel“-Affäre geprägt hat. Es hat sich tief in den Diskurs über das Verhältnis von Politik und Medien eingegraben, dass Augstein sein Magazin als "Sturmgeschütz der Demokratie“ gepriesen hat. Aus der Metapher hallt nicht nur ein Kanonendonner nach, der die Affäre in der Erinnerung als eine Art Schlacht zwischen den Armeen verfeindeter Feldherren erscheinen lässt. Sie legt auch einen Begriff von Qualitätsjournalismus nahe, der ihn zu einer Angelegenheit von Spitzenpublikationen und -journalisten macht, die ihre investigativen Recherchen auf Verfehlungen des Spitzenpersonals der politischen Institutionen richten: eine ziemlich elitäre Konzeption der "vierten Gewalt“. Dass sich durch die vielfältigen neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets eine Öffentlichkeit konstituiert, die sich ihrerseits als Gegengewicht zur elitär verfassten politischen Öffentlichkeit versteht und gegenwärtig in der Piratenpartei ihr politisches Gefäß sucht, ist nur konsequent.
Ein weiterer problematischer Langzeiteffekt der "Spiegel“-Affäre betrifft das Hamburger Nachrichtenmagazin direkt. Die Meriten, die es sich durch die nach ihm benannte Affäre erworben hat, verdecken bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung seine bisweilen nationalen bis nationalistischen Affinitäten, die im Schielen nach Auflage, aber auch in der Frühgeschichte des "Spiegels“ und der Person seines langjährigen Herausgebers ihre Wurzeln haben. Otto Köhler hat in dessen kritischer Biografie die beiden Seiten Augsteins und seines Magazins nebeneinandergestellt.
Bleibt die Frage, wie die beiden Seiten des Januskopfes zusammenpassen. Ist es nicht ein Widerspruch, sich einerseits als Vorkämpfer des investigativen, politisch unabhängigen Journalismus zu profilieren, andererseits zeitlebens publizistisch für Wohl und Stärke des deutschen Vaterlands einzutreten? Der Widerspruch lässt sich auflösen. Denn unabhängiger Journalismus kann auf die Dauer systemstabilisierende Funktionen haben. Einer der ersten, der das wusste und praktizierte, war William Howard Russell (1820–1907), der berühmte Kriegskorrespondent der Londoner "Times“. So unbequem seine investigativen Reportagen für die aktuelle politische und militärische Führung waren – sie trugen dazu bei, dass die britischen Truppen eine bessere Ausrüstung und fähigere Generale erhielten und das Empire aus dem Krim-Krieg nach anfänglichen Misserfolgen am Ende siegreich hervorging.