Globalisierung und technologischer Wandel haben zu strukturellen Veränderungen geführt, deren soziale Auswirkungen moderne Industriestaaten vor wachsende Herausforderungen stellen. Laut Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schlägt sich die zunehmende Verlagerung einfacherer Produktionsprozesse ins Ausland und die damit verbundene Spezialisierung auf Tätigkeiten mit höheren Qualifikationsanforderungen je nach Rigidität der Lohnstruktur entweder über wachsende Lohndifferentiale oder über eine zunehmende Arbeitslosigkeit unter gering qualifizierten Arbeitskräften in wachsender Ungleichheit nieder. Diese These wurde als Krugman-Hypothese bekannt. Krugman prognostizierte zudem, dass das Zusammenwachsen der europäischen Staaten zu denselben Spezialisierungs- und Konzentrationsprozessen wie in den Vereinigten Staaten von Amerika führen würde.
Tatsächlich zeichnete sich über die vergangenen drei Jahrzehnte ein zunehmend klarer Trend steigender Einkommensungleichheit ab, zunächst im angelsächsischen Raum und, mit zeitlicher Verzögerung, schließlich auch in Kontinentaleuropa. Dass das Auseinanderklaffen der Einkommensschere zu sozialen Spannungen führen kann, zeigen jüngste Massenproteste wie die Studentenproteste in Chile oder die Sozialproteste gegen zu hohe Lebenshaltungskosten in Israel. All dies sind Proteste, die sicherlich auch die jüngste Debatte über soziale Inklusion und die Gewinner und Verlierer von Wirtschaftswachstum in Europa beeinflusst haben.
Angesichts der Tatsache, dass Debatten wie diese der Entwicklungszusammenarbeit mitnichten fremd sind, stellt sich die Frage, ob sich einige der in diesem Kontext gewonnenen Erkenntnisse auch auf Industriestaaten übertragen lassen, wie etwa das populäre pro-poor-growth-Konzept, das sich am besten mit dem Begriff "breitenwirksames Wachstum“ übersetzen lässt. Die Kernidee des Konzepts ist es, wirtschaftliches Wachstum als eine gezielte Maßnahme zur Bekämpfung von Armut einzusetzen. Es geht also darum, eine Wachstumsstruktur zu fördern, welche die Fähigkeit ärmerer Bevölkerungsschichten erhöht, am gesamtwirtschaftlichen Wachstum zu partizipieren, das heißt dazu beizutragen und davon zu profitieren. Die folgende Analyse hat zum Ziel, die Übertragbarkeit des Konzepts sowie seiner Instrumente auf den Kontext moderner Industriestaaten zu prüfen.
Konzept des pro-poor growth
Maßgeblichen Einfluss auf Popularität und Verbreitung des pro-poor-growth-Konzepts hatte eine bewusst provokant formulierte These der Ökonomen David Dollar und Aart Kraay: "Wachstum ist gut für die Armen.“
Wirtschaftswachstum allein reicht also nicht aus, um Armut zu reduzieren. Vielmehr ist neben der Intensität auch die Beschaffenheit des Wirtschaftswachstums entscheidend für seine Armutswirkung. Wie aber muss Wirtschaftswachstum beschaffen sein, um pro-poor zu sein? Und, darauf aufbauend, wie können solche Wirtschaftsstrukturen gefördert werden? Diese Fragen bilden das Grundgerüst des pro-poor-growth-Konzepts. Dessen Aufgabe ist es, Wege aufzuzeigen, die pro-poor-Wachstumsstrukturen fördern.
Dies kann auf einem direkten und auf einem indirekten Weg erfolgen. Von direktem pro-poor growth wird dann gesprochen, wenn Wachstum primär in den Regionen und Sektoren erfolgt, in denen die Armen leben und wirtschaftlich aktiv sind. Ein Beispiel aus dem entwicklungspolitischen Kontext ist die "Grüne Revolution“, die in den 1960er Jahren mit der Verbreitung von äußerst ertragreichem Saatgut ihren Anfang nahm und die Erträge von Reis, Weizen und Mais in Asien und Lateinamerika verdoppelte. Die Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft waren treibende Kraft hinter dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum dieser Regionen, gleichzeitig waren es insbesondere verarmte Kleinbauern, die mit ihrer Arbeit das Wachstum befeuerten – und davon profitierten.
Auf der anderen Seite wird von indirektem pro-poor growth dann gesprochen, wenn ärmere Bevölkerungsgruppen zwar nur sehr bedingt in das Wirtschaftswachstum eingebunden sind, aber durch nachträgliche Umverteilung dennoch profitieren. Beispielsweise konnte die Wachstumsstruktur Brasiliens über viele Jahre hinweg mit Fug und Recht als anti-poor beschrieben werden: Armut und Ungleichheit stiegen stetig. Bis die brasilianische Regierung im Jahre 2003 ein äußerst ambitioniertes Sozialprogramm eingeführt hat, das sogenannte Bolsa-Familia-Programm. Die entsprechenden Sozialtransfers erreichen mittlerweile über elf Millionen arme Haushalte und haben zu einer spürbaren Reduktion von Armut und Ungleichheit geführt.
Während die hier beschriebenen Grundgedanken des pro-poor-growth-Konzepts unstrittig sind, gehen die Meinungen bereits bei so grundlegenden Fragen, wie beispielsweise pro-poor growth definiert und gemessen werden sollte, stark auseinander. Der wenig ambitionierte absolute Ansatz bezeichnet jede Form von Wirtschaftswachstum, die das Einkommen armer Bevölkerungsschichten erhöht als pro-poor. Der relative Ansatz verwendet dagegen nur dann den Begriff pro-poor growth, wenn das durchschnittliche Einkommen ärmerer Bevölkerungsschichten stärker wächst als das Durchschnittseinkommen der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Wenn Einkommensunterschiede abgebaut werden. Angesichts der Tatsache, dass wachsende Ungleichheit nicht nur zukünftiges Wirtschaftswachstum hemmt, sondern auch zu spürbaren sozialen Spannungen führen kann, folgt dieser Beitrag dem relativen Ansatz.
Was die Messung von pro-poor growth angeht, wurde im Laufe der Zeit eine ganze Fülle von Instrumenten entwickelt. Den wohl besten Leitfaden für die Auswahl geeigneter Instrumente lieferte Stephan Klasen im Jahre 2004.
Die growth incidence curve bildet den Einkommenszuwachs zwischen zwei Zeitpunkten pro Perzentil
Tabuthema Armut in Deutschland
Während sich die Einkommensschere in den USA bereits zu Beginn der 1980er Jahre deutlich auseinander bewegte, schien Deutschland, oder genauer Westdeutschland, über eine relativ lange Zeitperiode hinweg von diesem Phänomen verschont zu bleiben. Lohn- und Einkommensverteilung wiesen eine geradezu bemerkenswerte Stabilität auf.
Tatsächlich wurde die Relevanz des Themas für die Bundesrepublik lange Zeit angezweifelt. Das zeigte sich deutlich auf dem Weltgipfel für Soziale Entwicklung im Jahre 1995 in Kopenhagen. Alle Teilnehmenden des "Weltsozialgipfels“ verpflichteten sich dem Ziel der weltweiten Beseitigung von Armut, wobei Industrienationen explizit einbezogen wurden.
Diese Haltung änderte sich mit den Wahlen von 1998: Am 25. April 2001 wurde der erste deutsche Armutsbericht vorgelegt. Deutschland verwendet seither offiziell den zwischen den EU-Mitgliedstaaten vereinbarten Begriff der Armutsrisikoquote
Die "Enttabuisierung“ des Themas Armut in Deutschland kam nicht zu früh: Ab Mitte der 1990er Jahre traf das Phänomen steigender Armutsraten und wachsender Ungleichheit auch Deutschland (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Ins Auge sticht vor allem der deutliche Anstieg von Einkommensarmut und -ungleichheit (Gini-Koeffizient) seit spätestens 1998. Interessant ist auch der starke Anstieg der Ungleichheit im Jahre 2006, dem Jahr der Einführung von "Hartz IV“. Ebenfalls deutlich zu erkennen ist die Reduktion der Einkommensungleichheit während und ihr Anstieg direkt nach einer Rezession (2002 bis 2004 und 2008 bis 2010), eine Entwicklung, die typisch ist für einen konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaat im Sinne Esping Andersens:
Interessante Aufschlüsse liefert auch der kontinuierliche Anstieg der Armutsrisikoquote ab 1997 in einer Phase wirtschaftlichen Aufschwungs mit der erwarteten Reduktion der Arbeitslosenquote und dem Anstieg des Nettoäquivalenzeinkommens. Es ist ein Beleg für die Beobachtung, dass seit Mitte der 1990er Jahre die Lohnunterschiede sowohl zwischen als auch innerhalb der Qualifikationsgruppen deutlich gestiegen sind.
Eine dritte interessante Beobachtung ist, dass die übliche Konstellation von Rezession und steigender Arbeitslosigkeit in der dritten und stärksten ökonomischen Krise von 2008 bis 2010 nicht gilt. Die Arbeitslosenquote verzeichnet lediglich einen marginalen Anstieg und setzt bereits ein Jahr später ihren im Jahre 2005 begonnenen Rückgang fort. Dieser Effekt ist hauptsächlich auf das Instrument der Kurzarbeit zurückzuführen, die "deutsche Antwort“ auf die ökonomische Krise: Zwischen 2008 und 2009 stieg die Zahl der Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter von etwa 100.000 auf mehr als 1,1 Millionen an.
Die Übersicht vermittelt eine Ahnung davon, wie viele verschiedene Einflussfaktoren auf die Wirtschaftsstruktur eines Landes einwirken. Aufgabe der growth incidence curve ist es zu bestimmen, ob das wirtschaftliche Wachstum in einem bestimmten Zeitraum insgesamt pro-poor war oder nicht.
Growth incidence curves für Deutschland
Der Beobachtungszeitraum von 1994 bis 2001 ist durch drei interessante Phasen charakterisiert: eine Phase von sinkendem Nettoäquivalenzeinkommen in Verbindung mit sinkender Ungleichheit (1995 bis 1997), steigendem Nettoäquivalenzeinkommen bei relativ konstanter Ungleichheit (1997 bis 1999) und schließlich sinkendem Nettoäquivalenzeinkommen verbunden mit einem Anstieg der Ungleichheit (1999 bis 2001). Abbildung 2 (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version) zeigt die growth incidence curve für die erste und die letzte Phase.
Deutlich zu erkennen ist die Veränderung der Wachstumsstruktur von pro-poor (1995 bis 1997) zu pro-rich (1999 bis 2001). Liegen die Wachstumsraten der armen Perzentile im Zeitraum von 1995 bis 1997 noch deutlich über der durchschnittlichen Wachstumsrate, ist die growth incidence curve bereits in der nächsten Phase (1997 bis 1999) relativ konstant (hier nicht abgebildet) und schließlich klar steigend (1999 bis 2001). Insgesamt lässt sich festhalten, dass die beschriebenen Probleme der Globalisierung, insbesondere relativ hohe Arbeitslosigkeit und deutlich zunehmende Lohndifferentiale, auch in Deutschland deutliche Spuren hinterlassen haben.
Wie aber hat sich die Wachstumsstruktur während der ökonomischen Krisen von 2002 bis 2004 und von 2008 bis 2010 entwickelt? Jürgen Faik kommt zu dem Schluss, dass in einem konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland ökonomische Krisen zu einer ausgeglicheneren Einkommensverteilung führen und zwar insbesondere durch steigende Sozialleistungen sowie die für eine ökonomische Krise typischen Einkommensverluste im oberen Einkommenssegment. Eine steile These, doch tatsächlich zeigt die growth incidence curve für den Zeitraum von 2003 bis 2010 (hier nicht abgebildet) einen ähnlichen Verlauf wie in den Jahren von 1995 bis 1997. Die Wachstumsstruktur scheint sich also tatsächlich ausgerechnet in einem Zeitraum, in den gleich zwei ökonomische Krisen fallen, deutlich pro-poor entwickelt zu haben – nicht auf direktem, sondern auf indirektem Weg durch nachträgliche Umverteilung.
Ein deutsches pro-poor-growth-Konzept?
Eine Analyse des Wirtschaftswachstums in Deutschland hat gezeigt, dass eine Übertragung des Grundgedankens des pro-poor-growth-Konzepts auf Industriestaaten relevant und durchaus gewinnbringend sein kann. Auch das Instrument der growth incidence curve scheint geeignet zu sein, um wirtschaftliches Wachstum auch in Industrienationen im Hinblick auf seine Wirkung auf Armut und Ungleichheit zu untersuchen: Deutlich zeigen die growth incidence curves die Mitte der 1990er Jahre einsetzende Veränderung der Einkommensverteilung zu Lasten der Armen. Ebenso deutlich zeigen sie die Veränderung der Einkommensverteilung zugunsten der Armen während ökonomischer Krisen. Interpretationen aber bleibt das Instrument schuldig. So ist es beispielsweise nicht in der Lage zwischen dem hauptsächlich direkten pro-poor growth der 1980er und beginnenden 1990er Jahre und dem jüngsten indirekten pro-poor growth zu unterscheiden.
Um politische Handlungsempfehlungen formulieren zu können, ist daher eine weitergehende Analyse unerlässlich. Hier ist in der Regel auch keine Übertragung der Erkenntnisse aus der entwicklungspolitischen pro-poor-growth-Debatte möglich; zu spezifisch sind die Handlungsempfehlungen auf den entwicklungspolitischen Kontext zugeschnitten. An dieser Stelle müssen Industrienationen wie die Bundesrepublik ihr ganz eigenes pro-poor-growth-Konzept entwickeln. Angesichts der beschriebenen Spezialisierung auf Tätigkeiten mit höheren Qualifikationsanforderungen und der Tatsache, dass Bildungserfolge in Deutschland stark vom Bildungsniveau der Eltern abhängen,
Schließlich bleibt noch zu bemerken, dass sich die vorangegangene Analyse ausschließlich auf den monetären Aspekt von Armut und Ungleichheit bezieht. Das ist jedoch eine recht eingeschränkte Sichtweise, bedenkt man die Reichweite des Begriffs Armut. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen beispielsweise beschreibt Armut als den Mangel an Möglichkeiten, das eigene Wohlbefinden zu steigern. Schlechte Gesundheitsversorgung, negative Umwelt- und Klimabedingungen beispielsweise schränken diese Möglichkeiten ein.