Einleitung
Sicherlich erinnern sich die meisten an die Szene im Spielzeugladen aus dem Loriot-Sketch "Weihnachten bei Hoppenstedts": Opa Hoppenstedt möchte ein Weihnachtsgeschenk für sein Enkelkind kaufen. Die Frage der Verkäuferin nach dem Geschlecht des Kindes gestaltet sich jedoch als etwas problematisch:
Na, sie werden doch wohl wissen, ob Ihr Enkelkind ein Junge oder ein Mädchen ist.
Wieso?
Wie heißt denn das Kleine?
Hoppenstedt, wir heißen alle Hoppenstedt.
Und mit Vornamen?
Dickie, Dickie Hoppenstedt
Und es äh es ist ein Mädchen?
Nee ...
Also ein Junge?
Nee nee nee nee nee.
Nachdem auch die Frage nach der Kleidung nicht weiterführt, greift die Verkäuferin zu deutlicheren Mitteln: Wenn Ihr Enkelkind ein Zipfelchen hat, wüsste man ...
Zipfelchen?
Mein Gott, dann hat es eben kein Zipfelchen!
Mein Enkelkind hat alles, was es braucht! Gesunde Eltern, ein anständiges Zuhause und Zucht und Ordnung!
Loriot führt uns hier - wie so oft - die Absurditäten und Grotesken des zwischenmenschlichen Zusammenlebens vor Augen. Das Geschlecht des Kindes ist für die Verkäuferin relevant, um bei der Auswahl des Geschenkes angemessen zu beraten, die Zuordnung scheint jedoch für den Großvater nicht ganz so leicht zu sein und eigentlich auch nicht notwendig, da das Kind "alles hat, was es braucht". Hier wird zum einen die Problematik der eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung angesprochen, und es zeigt sich zum anderen sehr deutlich, welche herausragende Rolle Geschlecht in unserem Alltag spielt. Die Existenz von zwei deutlich voneinander unterschiedenen Geschlechtern erscheint als zweifelsfreie und selbstverständliche Tatsache. Zwar beginnen geschlechtsspezifische Stereotypisierungen an Wirksamkeit zu verlieren, doch sind sie nach wie vor überall präsent. Fast alle alltäglichen Dinge beruhen auf der binären Geschlechtseinteilung - also der Einteilung in ausnahmslos zwei Geschlechter, angefangen damit, welche öffentliche Toilette wir benutzen. Doch ist diese Einteilung wirklich so eindeutig und "natürlich", wie sie alltagspraktisch erscheint? In der Soziologie ist zunächst nichts natürlich, sondern alles gesellschaftlich; interessant ist jedoch, was jeweils als "natürlich" gilt. Aufgrund der Omnirelevanz von Geschlecht in unserer Gesellschaft kann es hierfür nicht einen einzelnen Grund geben; in der Regel ist alles ein Stück komplexer als erhofft. Auch naturwissenschaftlich ist die Unterscheidung, was genau Männer und Frauen sind und wodurch der Unterschied zwischen ihnen festzumachen ist, mehr als uneindeutig. Es stellt sich also die Frage, wie ein verhältnismäßig kleiner anatomischer Unterschied so große soziale Folgen haben kann.
Warum Biologie kein Schicksal ist
Auf die Tendenz, die Differenzierung in zwei Geschlechter auf biologische Unterschiede zu reduzieren, haben angloamerikanische Feministinnen in den 1960er Jahren mit der Abgrenzung von sex und gender reagiert. Der Begriff sex wird in der Regel mit "biologisches Geschlecht" übersetzt und anatomisch definiert. Der Begriff gender wird meist in der Bedeutung von "sozialem Geschlecht" verwendet und zielt auf die soziale Konstruktion von geschlechtsspezifischen Rollen und Attributen ab. Die Trennung von sex und gender hat enorme Vorteile gebracht, um gegen einen Alleinerklärungsanspruch der Geschlechterunterscheidung durch biologische Determination argumentieren zu können. Sie enttarnte gender als soziales Konstrukt und deckte auf, dass dichotome Geschlechterzuschreibungen, Geschlechterrollen und Hierarchisierungen historisch entstanden sind und durch gesellschaftliche Strukturierungen, Aushandlungen und Bedeutungszuschreibungen zustande kommen.
In der aktuellen Geschlechtersoziologie wird die Unterscheidung in sex und gender jedoch kaum noch verwendet. Das, was zunächst einen argumentativen Vorteil darstellte, erwies sich recht schnell als zu undifferenziert und damit als Nachteil. Durch den Rückbezug auf sex konnten Geschlechterunterschiede nach wie vor auf den biologischen Unterschied reduziert werden. Dies ist unter anderem aus zwei Gründen problematisch. Zum einen zeigt sich schon die Biologie selbst als uneindeutiger und komplexer, als in der Lesart des Alltagsverständnisses. Zum anderen gerät damit aus dem Blick, dass es sich auch bei Naturwissenschaften um gesellschaftliche Unternehmungen handelt.
In der Biologie wird sex ausdifferenziert in chromosomales Geschlecht (XX, XY), gonadales Geschlecht (innere Fortpflanzungsorgane), hormonelles Geschlecht (Hormonkonzentrationen) und morphologisches Geschlecht (Genitalien und sekundäre Geschlechtsmerkmale). Die Beschreibung der Geschlechtlichkeit eines Menschen fällt also schon auf dieser Ebene sehr komplex aus und wird in der Regel mehr als ein Kontinuum denn als zwei klar zu unterscheidende Pole betrachtet.
Auch die Biologie schließt nach Stefan Hirschauer an ein kulturell etabliertes Alltagswissen von Zweigeschlechtlichkeit an und nutzt Alltagsmethoden der Geschlechtszuschreibung, um ihren Untersuchungsgegenstand zu identifizieren: "Denn zur Feststellung von 'Geschlechtsunterschieden' und (biologischen) 'Geschlechtsmerkmalen' müssen immer bereits 'Geschlechter' unterschieden sein."
Diskurs der Geschlechterdifferenz
Die Geschlechterordnung könnte also je nach historischer und räumlicher Konstellation etwas anderes bedeuten, und doch ist sie eine wirkmächtige, herrschaftsdurchtränkte soziale Realität. Durch die in unserer Gesellschaft vorausgesetzte, zweigeschlechtliche und heterosexuelle Normalität entsteht der Zwang, sich dieser Norm zu unterwerfen. Für Judith Butler, der bekanntesten Protagonistin der Diskurs- beziehungsweise poststrukturalistischen Theorie, ist jede Bezugnahme auf die biologischen und materiellen Bereiche des Lebens eine sprachliche: "Wenn auf das 'biologische Geschlecht' Bezug genommen wird als etwas, was dem sozialen Geschlecht vorgängig ist, wird es selbst zum Postulat, zu einer Konstruktion, die in der Sprache als das offeriert wird, was der Sprache und der Konstruktion vorhergeht."
So kann auch Geschlecht keine ontologische Tatsache, keine vordiskursive Gegebenheit sein, sondern muss als Effekt von Diskursen verstanden werden. Das heißt nicht, dass es das Phänomen ohne den Begriff nicht gäbe. Es gibt keine Bezugnahme auf einen reinen Geschlechtskörper, die nicht zugleich eine Formierung dieses Körpers wäre.
Intelligible und verworfene Körper sind zusammen das Ergebnis immer wieder performativ inszenierter Prozesse. Mit Performativität meint Butler die Macht der Diskurse, durch ständige Wiederholungen Wirkung zu produzieren. Dabei handelt es nicht um einen einzelnen absichtsvollen Akt, sondern um eine sich ständig wiederholende, zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung, welche er benennt, selbst erzeugt.
Was ist, ist geworden
Die Infragestellung der Natürlichkeit der Geschlechterdifferenzierung taucht allerdings nicht erst in (post)modernen Theorien auf. Die Philosophin Simone de Beauvoir stellt schon 1949 in ihrem Werk "Das andere Geschlecht" fest, dass Menschen nicht als Frauen zur Welt kommen, sondern zu Frauen werden.
Sozialisation umfasst demnach den komplexen Prozess, in dem Menschen die Kultur, Normen und Regeln ihrer Gesellschaft lernen, reproduzieren und dadurch befähigt werden, gemäß ihrer Stellung in der Gesellschaft zu handeln.
Auch wenn es eine Vielzahl von Lebensbedingungen gibt, wie beispielsweise Bildung, sozioökonomischer Status, Alter und Herkunft, welche die Sozialisation von Menschen beeinflussen, ist das Erlernen von Geschlechtlichkeit eine übergeordnete Entwicklungsaufgabe, die alle anderen Lernerfahrungen durchdringt. Geschlecht ist nach wie vor eines der dominantesten Ordnungskriterien in unserer Gesellschaft und bildet ein sehr handlungswirksames und grundlegendes gesellschaftspolitisches Strukturierungsprinzip. Um sozial überleben zu können, müssen wir einem Geschlecht zugeordnet und als solches erkennbar sein. Daher gehen Vergesellschaftung und Sozialisation immer auch mit Vergeschlechtlichung einher. Das kulturelle, soziale und politische System unserer Gesellschaft ist von der Annahme geprägt, dass sich Menschen eindeutig danach unterscheiden lassen, ob sie männlich oder weiblich sind. Mit dieser Klassifikation sind spezifische Wahrnehmungen, Zuschreibungen, Hierarchien und Vorannahmen verbunden, die wiederum weitere soziale Interaktionen beeinflussen.
Seit den 1990er Jahren wird die Vorstellung einer eindeutigen und stabilen geschlechtlichen Identität, die im Sozialisationsprozess erzeugt wird, hinterfragt. Der Perspektive vergeschlechtlichter Sozialisation wird vorgeworfen, das alltagsweltliche Modell von Geschlecht als binärer Kategorie durch die Voraussetzung eines geschlechtsspezifischen Unterschieds selbst zu reifizieren, indem es zum Ergebnis von Sozialisationsprozessen erklärt wird.
Was wir tun, um ein Geschlecht zu sein
In der mikrosoziologischen Perspektive richtet sich der Blick auf alltägliche Praktiken und Interaktionen, durch die Zweigeschlechtlichkeit nicht nur dargestellt, sondern - so ein zentrales Ergebnis dieser Perspektive - erst hervorgebracht wird.
Doing gender funktioniert also sowohl über das alltägliche Verhalten als auch über die alltägliche Wahrnehmung.
In ihrem alltäglichen Verhalten bringen Menschen permanent zum Ausdruck, in welche Geschlechtskategorie sie eingeordnet werden. Jedes Individuum ist dafür verantwortlich, das eigene Geschlecht "richtig" darzustellen und muss lernen, den eigenen Körper so darzustellen, als sei er natürlich so. Die Ressourcen dafür sind beispielsweise Kleidung, Mimik, Gestik, Stimme oder Nutzung von Räumen.
Jeder alltäglichen Wahrnehmung von Menschen und jeder sozialen Interaktion geht zudem eine Geschlechtszuordnung der Interaktionspartner_innen voraus. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen der Geschlechtszuweisung, welche einmalig bei der Geburt erfolgt und sich an den Genitalien orientiert, und der Geschlechtszuschreibung (Geschlechtsattribution), bei der es sich um einen kontinuierlichen interaktiven Prozess handelt, der ebenfalls an gesellschaftlichen Normen und Regeln orientiert ist. Jedes Individuum ist als Interaktionspartner_in gleichzeitig verpflichtet und befähigt, einer anderen Person ein Geschlecht, das sozial und kulturell sinnhaft ist, zuzuschreiben. Wenn wir einer Person kein Geschlecht zuordnen können, bekommen wir gravierende handlungspraktische Probleme. Die Blamage einer Verwechslung grenzt situativ sowohl den_die Verwechselte_n aus der Ordnung anerkannt eindeutiger Geschlechter als auch den_die Sich-Irrende_n aus der Gemeinschaft kompetenter Teilnehmer_innen aus.
Mehrdimensionalität von Geschlecht
Nach Suzanne Kessler und Wendy McKenna gibt es einen common sense der Zweigeschlechtlichkeit in unserer Gesellschaft. Dieser gehe davon aus, "dass es ausschließlich zwei Geschlechter gibt, dass diese zwei Geschlechter biologisch/natürlicherweise gegeben sind und sich im Laufe eines Lebens niemals ändern, dass alle Personen ausnahmslos und natürlicherweise einem Geschlecht angehören und dass die Genitalien als der objektive Beweis eines Geschlechts gelten".