Einleitung
Die Stimmung scheint gut: Wenn heute über den Arbeitsmarkt gesprochen wird, dann überschlagen sich die Erfolgsmeldungen. Die Zahl der Beschäftigten bricht mit 41 Millionen alle Rekorde und die Arbeitslosigkeit ist deutlich gesunken. Eine Arbeitslosenzahl an der Drei-Millionen-Grenze gab es nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) zuletzt 1992. Das macht Hoffnung, dass das Ziel Vollbeschäftigung zukünftig erreichbar sein könnte. Das war einmal anders: Arbeitssparender technischer Fortschritt, Kosten- und Produktivitätsdruck der globalen Konkurrenz und verfestigte Massenarbeitslosigkeit haben in den Debatten der vergangenen beiden Dekaden die Befürchtung genährt, das "Ende der Arbeitsgesellschaft" sei gekommen. Wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgehe, so wurde gefolgert, könne Vollbeschäftigung kein realistisches Ziel mehr sein. Unter diesen Bedingungen hielten die Einen die Zeit reif für die Förderung einer Alternativökonomie und für Strategien der Existenzsicherung außerhalb der Erwerbsarbeit.
Doch sowohl das Szenario des "Endes der Arbeitsgesellschaft" als auch das Leitbild einer "rundum-flexiblen" und prekären Vollbeschäftigungspolitik müssen heute als gescheitert angesehen werden. So unterstellte die Vorstellung eines Ausstiegs aus der Erwerbsarbeit unrealistisch weite Verteilungsspielräume, überschätzte die Möglichkeiten eines nicht-kommerziellen Alternativsektors und machte den Lebensentwurf einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit voreilig zum normativen Leitbild einer ganzen Gesellschaft. Und auch eine Politik der "prekären Vollbeschäftigung", die mit ihren Aktivierungs- und Deregulierungskonzepten auf den Ausbau eines ungeschützten Niedriglohnsektors setzt, vermag weder aus arbeitsmarkt- noch aus sozialpolitischer Sicht zu überzeugen. So zeigt schon eine ehrliche Bilanz der aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt, dass nicht einmal die angeblichen Erfolgszahlen einer genauen Überprüfung standhalten. Gründe genug, um nach einer Alternativstrategie zu suchen.
Prekarisierung und soziale Ungleichheit als Programm für Vollbeschäftigung?
Eine kritische Debatte über aktuelle und zukünftige Anforderungen an eine zeitgemäße (Voll-)Beschäftigungspolitik hat mit einer realistischen und ehrlichen Analyse der Arbeitsmarktentwicklung zu beginnen. Dabei lässt ein genauer Blick schnell deutlich werden, dass das Bild des weitgehend problemfreien Arbeitsmarktes die Wirklichkeit nur sehr verzerrt wiedergibt.
1. In Deutschland werden nicht alle Arbeitslosen in der offiziellen Statistik auch als arbeitslos erfasst. So gelten Über-58-Jährige, die zwölf Monate Hartz IV beziehen, ohne ein Jobangebot bekommen zu haben, nicht als arbeitslos. Auch Personen, die an Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen teilnehmen, werden nicht als arbeitslos erfasst. Nimmt man die Gruppe der Nicht-Erfassten hinzu, so liegt die Zahl der Arbeitslosen weit über der offiziellen Zahl und trübt damit deutlich die Erfolgsmeldungen. Dies gilt umso mehr, wenn zudem ein näherer Blick auf die Gruppe der Arbeitslosen geworfen wird. Dann stellt man fest: Langzeitarbeitslose profitieren vom Aufschwung kaum. Ihre Zahl nahm von Januar 2011 bis Januar 2012 nur um knapp 6% ab, während sie bei denjenigen, die nur kurz arbeitslos sind, um fast 12% zurückging. Hier droht ein Sockel verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit.
2. Die Erfolgsmeldungen über die quantitative Entwicklung der Erwerbstätigkeit sagen nichts über die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse - also darüber, welche Art der Erwerbstätigkeit sich dahinter verbirgt und ob diese eine sichere Perspektive bietet. Eine Analyse der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung zeigt, dass der Beschäftigungsaufbau seit der Wiedervereinigung von einem schleichenden strukturellen Wandel am Arbeitsmarkt begleitet war. Das Statistische Bundesamt führt aus, dass "nach Ergebnissen des Mikrozensus die Zahl so genannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse (...) von 1991 bis 2010 um mehr als 3,5 Millionen gestiegen (ist), während gleichzeitig die Zahl der in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten Erwerbstätigen um fast 3,8 Millionen sank".
Die Folge dieser Entwicklung ist die Zunahme sozialer Ungleichheit und die "Rückkehr sozialer Unsicherheit" in die Lohnabhängigenexistenz.
3. Die Ursachen der robusten Beschäftigungsentwicklung vor und während der großen Krise sind umstritten. So wird erstens mit Blick auf die Vorkrisenzeit oftmals argumentiert, die Lohnzurückhaltung - die durch die Deregulierung des Arbeitsmarkts verstärkt wurde - sei verantwortlich für den damaligen Beschäftigungsaufbau. Doch diese Argumentation greift offensichtlich zu kurz. Zwar profitierte der deutsche Arbeitsmarkt vom Aufschwung der Jahre 2005 bis 2008, im Vergleich zu früheren Aufschwungphasen wie auch im internationalen Vergleich ist der Beschäftigungsaufbau jedoch nicht außergewöhnlich stark ausgefallen. Und der stärkere Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Aufschwungphase geht in erster Linie auf die Entwicklung des Arbeitsangebots zurück. Zugleich aber hat sich die Lohnzurückhaltung negativ auf die Kaufkraft und das Konsumverhalten und damit die Binnenkonjunktur ausgewirkt.
Zweitens lässt sich die vielfach geäußerte These nicht belegen, die robuste Verfassung des Arbeitsmarkts in der Krise sei Resultat der Arbeitsmarktderegulierung und der dadurch beförderten Lohnzurückhaltung. Es waren vielmehr vor allem die Nutzung tariflicher Möglichkeiten betrieblicher Arbeitszeitverkürzung (Arbeitszeitkonten) sowie die Kurzarbeit, die in der Krise halfen, Beschäftigung zu sichern. Diese Instrumente haben mit den Arbeitsmarktreformen des vergangenen Jahrzehnts jedoch nichts zu tun. Sie waren Verhandlungsergebnis der Sozialpartner, und die Sonderregeln zur Kurzarbeit wurden erst bei Krisenausbruch ins Leben gerufen.
Diesen Befunden zum Trotz sind viele Verfechter der bisherigen Strategie nicht von ihrer Linie abzubringen. So fordert der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2011/12 eine Beibehaltung des arbeitsmarktpolitischen Deregulierungskurses und mahnt, dass im Falle einer wirtschaftlichen Abkühlung die "Rigiditäten auf Arbeitsmärkten wie Sperrklinken wirken werden und die erforderlichen Anpassungen behindern".
Wohlfahrtsstaatliche Vollbeschäftigungspolitik
Wer den Preis der zunehmenden Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, der Rückkehr der Unsicherheit und sozialer Exklusion bei verfestigter Sockelarbeitslosigkeit nicht zahlen will, muss sich fragen, wie eine alternative, wohlfahrtsstaatliche Vollbeschäftigungspolitik aussehen kann. Folgende Anforderungen müssen bei der Suche nach geeigneten Konzepten und Maßnahmen erfüllt werden.
1. Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit beruht auch auf dem Umstand, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften niedriger ist als das Arbeitskräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt. Im Zuge des demografischen Wandels muss mit einem Rückgang des Arbeitskräfteangebots und damit mit einer gewissen Entlastung am Arbeitsmarkt gerechnet werden. Gleichwohl wird auch in Zukunft die Frage auf der Tagesordnung bleiben, wie Arbeitsplätze nicht nur gesichert, sondern auch wie unter den Bedingungen einer sich wandelnden Industriegesellschaft neue geschaffen werden können. Erforderlich ist eine Politik der Ökologisierung und Sozialisierung der Erwerbsarbeit. Ersteres wird sich nur mit einer aktiven Wirtschafts-, Struktur- und Industriepolitik erreichen lassen, die Konzepte zur ökologischen Industrieproduktion fördert und die notwendige Energiewende vorantreibt. Die Sozialisierung der Erwerbsarbeit, im Sinne einer sozial verträglichen Erwerbsarbeit, stellt darauf ab, Felder des individuellen und gesellschaftlichen Bedarfs als neue Beschäftigungssektoren zu erschließen (beispielsweise im Pflegebereich).
2. Gegenwärtig dominiert ein geradezu verschwenderischer Umgang mit der Arbeitsfähigkeit der Menschen. Die Arbeitsintensität steigt über alle Branchen und Berufsgruppen hinweg, der Zeitdruck wächst und die Arbeitszeiten werden länger. Zudem arbeitet mittlerweile die Mehrheit der Beschäftigten in "atypischen Arbeitszeitlagen", darunter viele in Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit. Die Grenzen der Belastbarkeit sind für viele erreicht. Gerade die Zunahme psychisch beanspruchender Arbeitsbedingungen führt für immer mehr Beschäftigte zur Überforderung, chronischen Ermüdungserscheinungen bis hin zum Burnout. Neben den gesundheitlichen Auswirkungen auf die Betroffenen dürfen die volkswirtschaftlichen Folgekosten dieser Entwicklung nicht übersehen werden.
3. Spätestens mit der Diskussion um die Deckung des zukünftigen Fachkräftebedarfs muss sich eine moderne Vollbeschäftigungspolitik mit dem Problem auseinandersetzen, dass qualifizierte Fachkräfte zu einem knappen Gut werden könnten. Konzepte, die darauf setzen, vorhandenes Arbeitskräftepotenzial durch Intensivierung der Arbeit, längere Arbeitszeiten und Erhöhung des Renteneintrittsalters zu vernutzen und Arbeitnehmerschutzrechte als Einstellungshemmnis attackieren, sind angesichts der skizzierten Zunahme arbeitsbedingter Erkrankungen kein sinnvoller Ausweg. Ebenso problematisch ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Selbst wenn man den Aspekt, dass es sich bei der Rente mit 67 um einen nicht wünschenswerten sozialpolitischen Rückschritt handelt, unberücksichtigt lässt, ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit keine tragfähige Option. Denn: Es gibt keine Veranlassung zu glauben, dass mit rentenpolitischen Maßnahmen die Erwerbsbeteiligung Älterer tatsächlich erhöht wird. Damit wird kein Arbeitsplatz altersgerecht gestaltet und kein Sinneswandel bei der Einstellungspolitik der Unternehmen erreicht. Lediglich die Rentenabschläge derer, die am Ende ihres Arbeitslebens den bruchlosen Übergang in die Rente nicht schaffen, werden größer. Es ist offenkundig: Mehr Druck, mehr Leistung und weniger Schutz sind keine Antworten. Nötig ist die Förderung der Erwerbsarbeit von Frauen, die Erhöhung der Erwerbsquoten Älterer und die Verbesserung der Chancen gering Qualifizierter. Der Weg dorthin führt über die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die altersgerechte Arbeitsgestaltung und eine aktive Qualifizierungspolitik.
4. Colin Crouch hat in seiner These vom drohenden "postdemokratischen Zeitalter" darauf hingewiesen, dass eine Mixtur aus Passivität der Bevölkerung, ausgeklügelten Manipulations- und Marketingstrategien der politischen Eliten und einer ausufernden politischen Lobbymacht transnationaler Unternehmen zur Bedrohung für die Demokratie wird.
Solidarische Neuordnung des Arbeitsmarktes
Es wäre eine Überforderung der Arbeitsmarktpolitik, von ihr die Lösung der gegenwärtigen Arbeitsmarktprobleme zu verlangen. Über Arbeitsmarktpolitik alleine lässt sich der Schwenk hin zu einer am Leitbild Gute Arbeit ausgerichteten Vollbeschäftigungsstrategie nicht bewerkstelligen. Hierzu bedarf es einer anderen Wirtschafts- und Steuerpolitik. Arbeitsmarktpolitik stellt jedoch ein unverzichtbares Element in einem beschäftigungspolitischen Gesamtkonzept dar. Dabei ist zu konstatieren, dass das Herumdoktern an einzelnen Problemen als arbeitsmarktpolitischer Beitrag unzureichend wäre. Notwendig ist vielmehr eine solidarische Neuordnung des Arbeitsmarktes, die darauf zielt, Prekarität und Armut für Beschäftigte und Arbeitslose zu vermeiden und für beide Perspektiven und Sicherheit zu schaffen. Unverzichtbar ist daher eine grundlegende Reform der Arbeits- und Sozialverfassung. Elemente einer entsprechenden Reformstrategie sind:
Einführung eines gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns.
Damit könnte eine über Wirtschaftszweige und Sektoren hinweg reichende generelle Untergrenze der Entlohnung sichergestellt und Lohndumping und Downsizingprozesse unterbunden werden.
Regulierung von Leiharbeit und die Umsetzung des Grundsatzes "Gleiche Arbeit, gleiches Geld, gleiche Rechte".
Nach wie vor sind die gesetzlichen Regelungen unzureichend. Leiharbeiter sind weiterhin Beschäftigte zweiter Klasse, denen der gleiche Lohn und die gleichen Arbeitsbedingungen verweigert werden, und der Missbrauch der Leiharbeit existiert nach wie vor. Mit der Umsetzung des Grundsatzes "Gleiche Arbeit, gleiches Geld, gleiche Rechte" würde hier wirkungsvoll gegengesteuert.
Neuausrichtung und Verbesserung der Qualität der Arbeitsförderung.
In den vergangenen Jahren orientierte sich die Arbeitsförderung vorrangig an dem Ziel einer möglichst kurzen Verweildauer in Arbeitslosigkeit und schnellen Vermittlung, während die Qualität und Nachhaltigkeit der vermittelten Beschäftigung eine untergeordnete Rolle spielte. Künftig muss die Verbesserung der Beschäftigungsstruktur und die Vermeidung unterwertiger Beschäftigung - beides gesetzlich festgeschriebene Ziele der Arbeitsförderung - zum Herzstück der Arbeitsförderung werden. Damit würde nicht zuletzt auch ein Beitrag zur Fachkräftesicherung geleistet.
Verbesserung der sozialen Absicherung für Arbeitslose.
Hier ist ein Bündel von Maßnahmen notwendig. Sie reichen von einer bedarfsgerechten Ermittlung und Ausgestaltung der Hartz IV-Regelsätze, die ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet, bis hin zu einer Veränderung der Anspruchsgrundlage für Arbeitslosengeld I. Um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I zu haben, müssen Erwerbslose derzeit innerhalb der zurückliegenden zwei Jahre mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben. Vielen befristet Beschäftigten gelingt es nicht, diese Voraussetzung zu erfüllen. Eine Verlängerung der Rahmenfrist auf drei Jahre würde dazu beitragen, dass viele befristet und instabil Beschäftigte Anspruch auf Arbeitslosengeld I erhielten und vom Abrutschen in Hartz IV verschont blieben.
Neue Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose, die vor Lohndumping schützen.
Für Hartz-IV-Empfänger gilt derzeit grundsätzlich jede Arbeit als zumutbar. Einzige Haltelinie nach unten ist das Minimalkriterium der Sittenwidrigkeit (sittenwidrige Löhne sind rechtswidrig und so auch für Hartz-IV-Empfänger unzumutbar). Wird eine zumutbare Arbeit abgelehnt, drohen dem Betroffenen Leistungskürzungen. Dieses System hat die Ausbreitung prekärer, niedrig entlohnter Arbeit erheblich vorangetrieben. Will man hier umsteuern, sind veränderte Zumutbarkeitsregelungen nötig, die auf administrativen Zwang zur Aufnahme prekärer Arbeit verzichten und Elemente des Berufs-, Qualifizierungs- und Verdienstschutzes enthalten. Auch Arbeitslose müssen ein Recht auf tariflich entlohnte beziehungsweise ortsübliche Löhne haben.
Fazit: Nicht Niedriglöhne, ausufernde Arbeitszeiten, verschleißende Arbeitsbelastungen und Druck auf Arbeitslose, sondern ein starkes Flächentarifvertragssystem, faire Löhne und sichere Beschäftigung, Investitionen in Bildung und Qualifizierung sowie humane Arbeitsbedingungen weisen die richtige Richtung für eine an Guter Arbeit orientierte, wohlfahrtsstaatliche Vollbeschäftigungspolitik.