Die Debatte um den Wiederaufbau der Ukraine begann schon wenige Wochen nach dem russischen Angriff vom 24. Februar 2022. Bereits im Juli bekannte sich die Europäische Union zum Wiederaufbau des Landes in enger Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Staat und der Zivilgesellschaft. Seitdem hat die Wiederaufbaudebatte – anders als in der Ukraine selbst – international an Dynamik verloren. Der anhaltende Krieg und die Frage der Waffenlieferungen überlagern die Thematik, zudem fehlt es gerade innerhalb der EU an politischer Führung und entsprechenden Ressourcen. Dabei wären aufgrund der Erfahrungen mit früheren Wiederaufbaukontexten und der Multidimensionalität derartiger Kampagnen ein früher Start und umfangreiche Investitionen in eine strategische Planung nötig. Schon jetzt müsste in die erforderlichen Kapazitäten investiert werden, die einen Beginn des Wiederaufbaus erst ermöglichen. Auch werden in der Ukraine schon heute die politischen und rechtlichen Grundlagen für den Wiederaufbau und damit folgenreiche Tatsachen geschaffen. Die internationalen Partner sollten ihre Anstrengungen daher umgehend intensivieren und auf eine enge Verknüpfung der Kampagne mit dem seit 2014 in der Ukraine begonnenen Reformprojekt sowie einem eventuellen EU-Beitrittsprozess achten.
Dimensionen der Wiederaufbaudebatte
Die neben dem laufenden Krieg vielleicht größte Herausforderung sind die vielen Dimensionen, die sich hinter dem Konzept Wiederaufbau verbergen. Hierzu zählen unter anderem die Themen Sicherheit, Modernisierung, Zeithorizont, innerukrainische und internationale Voraussetzungen sowie die (immateriellen) Kriegsfolgen.
Erstens sind sich im Grunde alle Beobachter einig, dass Wiederaufbau und Sicherheit zwei Seiten derselben Medaille sind. Ersterer wird nur gelingen, wenn die Ukraine ein akzeptables Minimum an sicherheitspolitischer Stabilität aufweist und somit langfristige Investitionen in das Land sinnvoll sind. Dabei geht es sowohl um die kurzfristige Ertüchtigung der ukrainischen Luftabwehr zur Beruhigung der Gebiete jenseits der Front als auch um langfristige Sicherheitsarrangements. Diese sind – wie auch das unlängst von der "Working Group On International Security Guarantees for Ukraine" veröffentlichte Dokument zu "Sicherheitsgarantien"
Zweitens wurde bereits bei der ersten Wiederaufbaukonferenz in Lugano, bei der im Juli 2022 mehr als 40 Staaten zusammen mit internationalen Organisationen über Hilfe beim Wiederaufbau berieten, festgehalten, dass es sich im Fall der Ukraine nicht um einen klassischen Wiederaufbau handeln kann. Denn dies würde bedeuten, ein oft dysfunktionales und stark von postsowjetischen Hinterlassenschaften geprägtes Gemeinwesen wiederherzustellen. Vielmehr müsse der historische Moment genutzt werden, um eine "neue Ukraine" entstehen zu lassen.
Eine der umstrittenen Fragen ist drittens, wann mit dem Wiederaufbau der Ukraine begonnen werden sollte. In der Ukraine sind sich staatliche und nicht-staatliche Akteure darüber einig, dass dies unmittelbar und bereits während des laufenden Krieges passieren sollte und auch kann. Viele Projekte jenseits der Front belegen das. Die Befürchtung ist hier groß, dass ein Verschieben von entsprechenden Maßnahmen auf die Zeit nach dem Krieg den Menschen die Hoffnung nehmen und Geflüchtete von einer Rückkehr abhalten könnte. Die internationalen Partner sind skeptischer und wollen sich zunächst auf die militärische Unterstützung sowie auf Sofortmaßnahmen konzentrieren, die die Ukraine durch den zweiten Kriegswinter bringen.
Bezüglich der innerukrainischen Voraussetzungen gilt viertens, dass die Ukraine bereits heute nicht mehr das Land ist, das sie bis zum 24. Februar 2022 war. Neben den Zerstörungen der Infrastruktur haben der Krieg und das herrschende Kriegsrecht die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten deutlich verändert. Im politischen System ist ein starker Trend zur weiteren Stärkung der Exekutive und damit auch zur Marginalisierung anderer Verfassungsinstitutionen offensichtlich. Weite Teile der zentralstaatlichen und lokalen Administration sind durch Flucht ausgedünnt und durch die Bewältigung des Kriegsalltags überlastet. Die Zivilgesellschaft ist vor allem damit beschäftigt, den Abwehrkampf zu unterstützen. Die Wirtschaftsleistung ist um mindestens ein Drittel zurückgegangen, das Land von externer Budgethilfe abhängig.
Fünftens hat sich die internationale Gemeinschaft einerseits klar zum Wiederaufbau der Ukraine bekannt, andererseits ist unklar, ob sie die enormen Mittel und den anhaltenden politischen Willen für dieses außerordentlich große Projekt aufbringen kann. Anders als in der jüngeren Vergangenheit sind Wille und Möglichkeiten, hohe Milliardenbeträge für jahrzehntelange Wiederaufbaukampagnen aufzubringen, begrenzt. Zu hoch sind die Kosten der Hilfsprogramme, die westliche Staaten schon angesichts der energiepolitischen Folgen des russischen Angriffskrieges schultern müssen. Entsprechend mangelt es an Führungsbereitschaft gerade innerhalb Europas und an externen strategischen Impulsen für den Wiederaufbau.
Zu einem umfassenden Verständnis von Wiederaufbau nach einem Krieg gehört sechstens auch die Überwindung der immateriellen Kriegsfolgen. Hierzu zählen die Therapie der Traumatisierungen von Kämpfern und übriger Gesellschaft, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen (transitional justice) und die Demilitarisierung der politischen Kultur. Langfristig sind es diese "weichen" Faktoren, die den infrastrukturellen Wiederaufbau erst nachhaltig machen. Momentan spielt diese Dimension, abgesehen von den Rufen nach einem Sondertribunal für russische Kriegsverbrecher, eine stark untergeordnete Rolle.
Post-Lugano-Vakuum: Wo stehen die Wiederaufbaubemühungen?
Die ukrainische Präsidialadministration hat im Frühjahr 2022 ein Dokument vorgelegt, das den ukrainischen Wiederaufbauplan skizziert.
Die EU wollte laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "Nukleus" der Wiederaufbaubemühungen sein. Nach der Konferenz in Lugano und der dortigen Ankündigung, eine Plattform aus politischen Vertretern, hohen Beamten und Experten schaffen zu wollen, war aus Brüssel aber nur wenig Substanzielles zu vernehmen. Keiner der Mitgliedstaaten hat bisher Führungsinitiative erkennen lassen, und offenbar fehlt es auch an Geld. Das im August 2022 erschienene "Rapid Damage and Needs Assessment"
Euro.
Die Bundesregierung hatte mit einer Expertenkonferenz im Oktober 2022 den Faden von Lugano aufgenommen. Die Konferenz sollte eine belastbare Strategie der EU für diese "Kraftanstrengung für Generationen" entwerfen und eine Geberkonferenz vorbereiten.
Die ukrainische Regierung und die Zivilgesellschaft haben eine klare, wenn auch nicht deckungsgleiche Vorstellung vom Wiederaufbau. Bemerkenswert ist, mit welcher Dynamik und intellektuellen Tiefe Ukrainer in- und außerhalb des Landes trotz des Kriegsalltags an diesen Themen arbeiten. Gleiches kann von der internationalen Gemeinschaft nicht gesagt werden. Insbesondere auf Ebene der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten mangelt es nach Lugano an Dynamik. Es fehlen eine Konkretisierung des weiteren Vorgehens, verbindliche finanzielle Zusagen und Personalentscheidungen.
Zentralisierung und Erschöpfung: Politik und Gesellschaft der Ukraine im Krieg
In den westlichen Wiederaufbaudebatten dominieren die Fragen danach, wie die enormen Mittel für eine solche Kampagne aufzubringen sind, wie diese verwaltet werden sollen und wer die politische Führung übernimmt. Eine marginale Rolle spielen bisher die innerukrainischen Voraussetzungen des Wiederaufbaus. Nach den bemerkenswerten militärischen Erfolgen des ersten Kriegsjahres herrscht ein stark gestiegenes Vertrauen in die ukrainische Führung, in die einst für ihre Schwäche belächelten Institutionen und vor allem in die Zivilgesellschaft, der eine besondere Rolle beim Wiederaufbau zukommen soll. Allerdings hat der Krieg diese Akteure und ihr Zusammenspiel stark beeinflusst, weshalb hier im Hinblick auf einen erfolgreichen Wiederaufbau eine tiefere Analyse angebracht ist.
Auf institutioneller Ebene hat der Krieg eine Tendenz zur Stärkung der Exekutive gegenüber den anderen Verfassungsinstitutionen begünstigt, die bereits vor der Invasion zu beobachten war. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich so schon bis Ende 2021 die Kritik progressiv-liberaler Kräfte zugezogen, er würde einer Art "populistischem Autoritarismus" anhängen.
Für den Wiederaufbau ist diese Machtstellung des Präsidenten, die auch nach einem möglichen Friedensschluss lange Schatten werfen wird, nicht unproblematisch. Es ist bereits ersichtlich, dass die Präsidialadministration ihre eigene Version eines Wiederaufbaus entworfen hat, der es an Inklusivität und an Rückbezug auf das 2014 vereinbarte Reformprogramm mangelt. So wurde der hastig entworfene Nationale Wiederaufbauplan im Grunde unter nur symbolischer Mitarbeit der Zivilgesellschaft verfasst und weist daher vor allem eine starke Neigung zu politisch nützlichen Großprojekten auf.
Die Beziehung zwischen Zentrum und Regionen spielt im politischen System der Ukraine eine zentrale Rolle und hat sich in den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit immer mehr zur Sollbruchstelle eines funktionierenden Staatsaufbaus entwickelt. Daher ist sie auch für den Wiederaufbau von zentraler Bedeutung. Seit 2014 hat das Land eine Dezentralisierungsreform eingeleitet, die Subsidiarität und finanzielle Autonomie auf Gemeindeebene entscheidend gestärkt hat. Der Erfolg der Dezentralisierung gilt als eine der Grundlagen des erfolgreichen Abwehrkampfes der Ukrainer gegen die russische Invasion und für die anhaltende Stabilität des Landes.
Die westliche Vorstellung eines inklusiven Wiederaufbaus hebt stets auf die zentrale Rolle der ukrainischen Zivilgesellschaft ab. In der Tat hat sich die Zivilgesellschaft des Landes insbesondere nach der "Revolution der Würde" von 2014 eine Stellung innerhalb des politischen Systems erarbeitet, die im postsowjetischen Raum und darüber hinaus einzigartig ist. Nach 2014 wurden spezialisierte NGOs teilweise in den politischen Institutionenlauf eingebunden. Der Krieg hat die Zivilgesellschaft allerdings stark beeinträchtigt. Einerseits gab es eine Verschiebung weg von professionalisierten NGOs hin zu Freiwilligen,
Zukunftsstrategie: Das Dreieck Wiederaufbau, Reformen, EU-Beitrittsprozess
Aus Sicht des neutralen Beobachters war die Vergabe des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine am 23. Juni 2022 eine erstaunliche Entwicklung – vor allem, weil die Umsetzung des Assoziierungsabkommens von 2014 bis zum Kriegsbeginn 2022 ins Stocken geraten war. So ging es Präsident Selenskyj, ähnlich wie seinem Vorgänger Petro Poroschenko, vor allem um den mittelfristigen Machterhalt. Die entscheidende Reform des Justizwesens beispielsweise wurde nur bis zu dem Punkt von der Regierung unterstützt und vorangetrieben, ab dem die Interessen der Abgeordneten der präsidentiellen Mehrheitsfraktion beziehungsweise der Angehörigen des Präsidialamtes bedroht waren.
Die EU stand dieser Entwicklung vor dem Krieg mehr oder weniger machtlos gegenüber. Da eine Mitgliedschaft nicht zur Debatte stand und sich in der Ukraine der Eindruck verfestigte, dass mehr als ein Assoziierungsabkommen mittelfristig nicht realistisch sei, war die Konditionalitätspolitik der Union ausgehöhlt. Diese Entwicklung ist durch den Krieg noch verstärkt worden, da der erfolgreiche Abwehrkampf das Selbstbewusstsein der Ukrainer gegenüber der Außenwelt noch verstärkt hat und man Brüssel in der moralischen Bringschuld sieht. Der voraussichtlich Hunderte Milliarden Euro teure Wiederaufbau der Ukraine muss in diesem Spannungsfeld zwischen der limitierten Reformbereitschaft ukrainischer Eliten und fehlender Konditionalität externer Akteure analysiert werden. Im Zweifel tragen die enormen Mitteltransfers dazu bei, eine von den derzeitigen Kreisen um Präsident Selenskyj entworfene exklusive Version der Entwicklung der Ukraine zu verwirklichen und über lange Zeit festzuschreiben.
Für die EU ist ein baldiger Beginn des Beitrittsprozesses aus diesen Gründen fast schon alternativlos. Er ist wohl die einzige Möglichkeit, die Verwendung der jetzt schon investierten Ressourcen in Form von Waffen und Budgethilfen in einem festgesetzten rechtlichen Rahmen zu kontrollieren. Dies trifft umso mehr auf die Wiederaufbaumittel zu – hier hatten Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft schon vor der Entscheidung über den Kandidatenstatus betont, dass nur ein Beitrittsverfahren dafür sorgen könne, dass die Mittel in der Ukraine nicht zweckentfremdet werden.
Schluss
Nach mehr als einem Jahr Krieg stellen sich die Kriegsparteien und ihre Verbündeten zunehmend auf eine langfristige, mehrjährige Konfrontation ein. Auch aus diesem Grund genießt das Thema Wiederaufbau der Ukraine derzeit keine Priorität. Die westlichen Partner der Ukraine, darunter auch die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten, denken derzeit stärker in Sofortmaßnahmen, um das unmittelbare Überleben des ukrainischen Staates zu sichern. Der Wiederaufbau des Landes, als "Jahrhundert-Projekt" beschworen, sollte trotzdem auf der Agenda der internationalen Gemeinschaft bleiben. Die Ukrainer brauchen die Vision einer besseren Zukunft, um den Kampf gegen die russische Invasion durchstehen zu können. Die westlichen Partner des Landes sollten daran interessiert sein, dass die Nachkriegsukraine nicht durch dauerhafte Instabilität oder autoritäre Tendenzen zum politischen Bumerang für das europäische Projekt wird. Deshalb sollten vor allem die europäischen Partner der Ukraine schon jetzt in Strategie und Kapazitäten einer Wiederaufbaukampagne investieren und diese eng mit dem 2014 begonnenen Reformprojekt und einem zügig zu beginnenden EU-Beitrittsverfahren verknüpfen.