Vor dem würdigen Bossenwerk der Düsseldorfer Kunstakademie hockt Joseph Beuys. Zu seiner Linken ist eine kleine Mauer aus übereinander gestapelten Kisten aufgebaut. Eine der Kiefernholzkisten wiegt der Künstler in seiner Hand, als ob er ihr Material und Gewicht prüfe. Beuys ist offenbar in ein Gespräch mit dem Verleger Wolfgang Feelisch vertieft. Ein lässig an das Säulenportal der Kunstakademie gelehnter junger Mann betrachtet das Geschehen auf dem Trottoir von oben. Vielfältig waren die künstlerischen Strömungen um 1968. Und doch lassen sich anhand einer einfachen Holzkiste Facetten der verschiedenen Tendenzen veranschaulichen. Auf den folgenden Seiten werden einige Werke, die exemplarisch Veränderungen in der Kunst um 1968 visualisieren, vorgestellt. Aufgrund ihrer vielseitigen Referenzen wird Beuys´ Intuitionskiste immer wieder als Vergleichsbeispiel herangezogen.
Die Kunst der späten 1960er und frühen 1970er Jahre ist noch heute einflussreich und inspirierend. Die Behauptung, dass junge zeitgenössische Künstler, die momentan Studenten der Kunstakademien sind und am Beginn ihrer Karriere stehen, sich noch immer an dieser Generation messen und abarbeiteten, vermag kaum zu provozieren. Zählt also um 1968 entstandene Kunst noch zur Kategorie 'zeitgenössisch'? Die Eingrenzung fällt schwer, da neue Tendenzen in der bildenden Kunst nicht erst im Jahr 1968 beginnen oder schon enden. 1972 bietet sich als das Jahr, in dem Harald Szeemann die Documenta V kuratierte und in dieser Ausstellung die wohl bis dahin umfassendste Präsentation künstlerischer Positionen der Zeit zusammenstellte, als eine mögliche zeitliche Begrenzung an. Doch auch Gerhard Richters erst 1988 entstandener Gemäldezyklus zum Deutschen Herbst "18. Oktober 1977", der nach Polizeifotos der Toten von Stammheim gemalt ist und sich durch Unschärfen und eine nahezu schwarzweiße Farbigkeit auszeichnet, könnte das Ende definieren. Für Joseph Beuys, dessen Intuitionskisten zwischen 1968 und 1985 12.000 mal hergestellt wurden, waren Kunst und Politik untrennbare gesellschaftliche Bereiche. Und vor allem der Anspruch, politisch zu sein, zeichnet Künstler und Kunstwerke der verschiedensten Tendenzen um 1968 aus. Gestritten wurde darüber, welche Kunst die Berechtigung habe, sich als politisch zu bezeichnen. Dabei stand ihre Kapazität zur Diskussion, auf andere gesellschaftliche Bereiche Einfluss zu nehmen. Eine zentrale Frage, die Künstler der 1968er Bewegung beschäftigte, lautete: Ist es möglich, das Verhältnis zwischen Kunst und Leben/Alltag neu zu gestalten? Das Austarieren dieser offenbar schwer zu vereinbarenden gesellschaftlichen Bereiche war bereits Thema der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Referenzen zu Dada, Surrealismus, Konstruktivismus und der Bauhausbewegung bestimmen um 1968 die Auseinandersetzungen der Künstler mit der Kunstgeschichte. Das Wiederanknüpfen an diese Avantgarden der 1910er und 1920er Jahre mit ihren utopischen Gesellschaftsentwürfen ist Ausdruck einer gezielten Abwendung von künstlerischen Tendenzen der Nachkriegszeit. Das, was die Vertreter der Abstraktion in den 1950er Jahren wie Informel, Abstrakter Expressionismus oder Farbfeldmalerei erst zum politischen Faktor werden ließ – ihre Konzentration auf eine strikte Analyse der eigenen künstlerischen Mittel und ihr Beharren auf Autonomie, die Kunst als jenen Bereich definierte, der frei von sämtlichen gesellschaftlichen Bedingung sei –, galt den Künstlern der 1968er Bewegung als geradezu feindliches Gegenmodell. Diskussionen über Kunst, die in den späten 1960er Jahren in den Kunstakademien, den Ateliers, in Ausstellungen und der Öffentlichkeit stattfanden, waren jedoch zugleich geprägt von Vorbehalten gegen die unter dem Begriff Avantgarde zusammengefasste Moderne. Trotz der politisch revolutionären Haltung der älteren Künstlergeneration und ihrer Utopien wurden Zweifel an ihrer politischen Wirksamkeit laut. Und dies, obwohl die einst provokanten Techniken und Materialien und die Erweiterung künstlerischen Arbeitens hin zu handlungsorientierten Aufführungsformen die von der bürgerlichen Gesellschaft anerkannte Funktion von Kunst bereits grundsätzlich in Frage gestellt hatten. Der Groll richtete sich vor allem gegen Marcel Duchamp, der zu Beginn des Jahrhunderts als Erfinder des Ready-made bis dahin vorherrschende Ideen von dem, was Kunst sein kann und leisten solle, ad acta gelegt hatte. Duchamp hatte das Malen aufgegeben. Stattdessen präsentierte er in Ausstellungen industriell hergestellte Alltagsgegenstände wie Flaschentrockner oder Pissoirs. Da sich Duchamp jedoch nicht konkret zum politischen Zeitgeschehen äußerte und von daher kaum vereinnahmen ließ, sondern lieber Schach spielte, wurde er von Künstlern der 1968er Bewegung als elitär und apolitisch gegeißelt. Beuys nahm 1964 Bezug auf Duchamp, indem er während einer Aktion auf ein Plakat den Satz schrieb: "Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet." Auch Beuys wurde kritisiert. Kollegen und Schüler warfen ihm vor, eher einen allgemeinen gesellschaftlichen Heilsplan zu verfolgen – die Befreiung von 'Entfremdung' – und weniger an konkreten gesellschaftlichen Bedingungen Kritik zu üben. Internationalität und Pluralismus zeichnen die Kunstszene der 1960er und frühen 1970er Jahre aus. Verschiedene Positionen, die sich bisweilen auch scharf von einander abgrenzten, existierten zeitgleich nebeneinander. Beispielhaft seien hier Strömungen wie Pop- und Minimal Art, Fluxus, Conceptual Art und Land Art aufgeführt. Sie zeichnen sich durch neue künstlerische Präsentations- und Handlungsformen aus, die Anleihen aus dem Theater aufgriffen wie Aktionen, Happenings und Performances sowie durch die Verwendung neuer Materialien, Techniken, Formate und Medien wie Fotografie und Video. Diese Veränderungen und Innovationen wurden als Tendenzen der Entgrenzung beschrieben.
Der Reichtum an bisher gezeigten Ausstellungen und publizierter Literatur zur Kunst und ihrer Stellung innerhalb der Protestbewegung bezeugt, dass anders als dies für manche politischen Ziele der Zeit gilt, um 1968 entstandene Kunst ihre Wirkung und Aktualität keineswegs eingebüßt hat. Spannend ist, dass es weiterhin Klärungsbedarf hinsichtlich grundlegender Informationen gibt: Wann und wo fanden Performances statt? Wer nahm daran teil? Hierfür ist das eingangs beschriebene Foto ein Beispiel, denn nicht nur die Deutung dessen, was auf dem Bild zu sehen ist, variiert, sondern auch seine Datierung. Die Angaben changieren zwischen 1968 und 1972, dem Zeitpunkt von Joseph Beuys' Entlassung aus der Kunstakademie Düsseldorf. Bis auf Ausnahmen lässt sich behaupten, dass erst seit Beginn der 1990er Jahre Autoren bemüht sind, die Mythen, die Künstler dieser Generation und ihre Kritiker mehr oder weniger gezielt um sich gewoben haben, zu entzaubern. Dies gilt vor allem für Joseph Beuys, der die Mythenbildung zu einem zentralen Aspekt seines Werks erhob.
Materialien, Techniken und künstlerische Handlungsformen
Auf den ersten Blick sind die Kisten, die sich vor Joseph Beuys auftürmen, nicht als Kunstwerke zu erkennen. Sie sind aus einem Grundbrett und vier schmaleren, wenig kunstvoll verarbeiteten Kiefernholzlatten zusammengebaut. Kräftige Astenden und Risse im Holz zeichnen ihre raue Oberfläche. Ihre rohe Struktur ist beispielhaft für den seit den späten 1950er Jahren sichtbar werdenden neuen Umgang der Künstler mit Materialien. Joseph Beuys war seit 1961 Professor für Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die Veränderungen hinsichtlich der Materialverwendung lassen sich vor allem in der Geschichte der Bildhauerei nachvollziehen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert zählten edle Metalle oder Steine zu den traditionellen Materialien. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich ein radikaler Bruch: Materialien und Techniken bildhauerischen Arbeitens wurden grundlegend erweitert. Fortan wurde nicht mehr nur modelliert und gegossen, sondern auch geschichtet, gestapelt, gesammelt, angehäuft, verpackt, geklebt und gebastelt. Dafür waren kunstfremde Materialien besonders geeignet. Zu Beginn des Jahrhunderts war Pablo Picasso einer der ersten Künstler, die mit Alltagsobjekten arbeiteten. Während seiner kubistischen Phase verwendete er Zeitungsfragmente, Tapeten oder das Strohgitter eines Stuhlgeflechtes. Picassos Bilder stießen bei Zeitgenossen auch aufgrund der Verwendung banaler Alltagsgegenstände auf Widerstand und hatten dem Vorwurf der Geschmacklosigkeit standzuhalten. Die provozierende Wirkung alltäglicher Materialien hatte sich bis in die späten 1950er Jahre kaum verbraucht. Künstler setzten sie gezielt ein, um herkömmliche Vorstellungen über das, was Kunst sei, zu hinterfragen. Dies gilt für Piero Manzoni, der seine Exkremente 1961 in einer Blechbüchse als 'Merda d´artista' (Künstlerscheiße) verkaufte, ebenso wie für die Werke aus Abfall, Schokolade, Wurst oder Käse von Dieter Roth.
Diese Beispiele könnten durch eine Vielzahl ergänzt werden, wobei selbst bei identischen Stoffen und Materialien die künstlerische Zielsetzung zeitgleich entstandener Werke erheblich divergiert. Joseph Beuys´ Times New Roman Oeuvre zeichnet sich durch eine konzentrierte Auseinandersetzung mit Material, insbesondere mit organischen Stoffen wie Filz, Fett, Honig und Wachs aus, die er hinsichtlich ihrer Temperatur, ihrer haptischen, akustischen und speichernden Eigenschaften untersuchte. Ebenso sind vorgefundene Materialien wie Müll Bestandteil seiner Aktionen und Werke. Während einer Demonstration am 1. Mai 1972 in Berlin-Neukölln kehrte der Künstler mit zwei Assistenten die auf der Straße zurückgebliebenen Reste zusammen und füllte sie in Plastiktüten, die mit dem Logo seiner 'Organisation der Nichtwähler' versehen waren. Am gleichen Abend präsentierte er das Aufgekehrte in der Galerie Rene Block. Erst dreizehn Jahre später verarbeitete Beuys erneut den Müll der Demonstranten zu einem Werk, das den eingekehrten Demoabfall archivierte. Gemeinsam mit dem von ihm benutzten Besen arrangierte er ihn in einer Vitrine.
Aktionen bilden das Zentrum des künstlerischen Werks von Joseph Beuys. Sie boten ihm die Möglichkeit, "Objekt und Skulptur, Raum und Zeit, Zeichnung und Sprache, Körper und Musik" im Rahmen einer Handlung miteinander zu verbinden. In den Aktionen näherte er sich dem von ihm propagierten 'Erweiterten Kunstbegriff' an, den er von einem, auf einzelne Werke konzentrierten Kunstverständnis abgrenzte. Damit griff er allerdings formalästhetische Ideen des 19. Jahrhunderts zum Gesamtkunstwerk auf. Vor allem in seinen Aktionen sah Beuys sich seinem Ziel nahe, eine 'Soziale Plastik' zu schaffen. Das kreative Handeln jedes Menschen sollte Kunst schaffen, und die Kunst sollte die Gesellschaft verändern.
Beuys´ Aktionen stehen im Kontext zahlreicher ephemer und handlungsorientierter Präsentationsformen der Kunst um 1968. Vor allem von Künstlerinnen wurden auf den Körper konzentrierte Performances, Aktionen oder Happenings genutzt, um sich mit Genderfragen auseinander zu setzten. Eines der bekanntesten Beispiele ist Valie Exports interaktives "Tapp- und Tastkino" von 1968. Die Künstlerin schnallte sich auf einer Münchner Straße einen Pappkarton vor die Brust, der durch eine Öffnung den Zugriff auf ihren Busen zuließ. Für eine halbe Minute durften Passanten die Brust der Künstlerin berühren. Export thematisierte auf diese Weise die gesellschaftliche Rolle des weiblichen Körpers, der durch den voyeuristischen männlichen Blick determiniert werde. Bei Beuys´ Aktion zum 1. Mai 1972, die er später in einer Vitrine komprimierte und als bleibendes Werk materiell fixierte, ging es um eine Kritik an den Methoden der Protestbewegung, konkret an der "Ideologiefixierung der APO". Teile der Demonstranten konterten diese Kritik. So warf ihm sein Schüler Jörg Immendorf eine apolitische und elitäre Haltung vor: "Wem nützt es, wenn der Beuys am 1. Mai, dem Kampftag für die politische und soziale Befreiung der arbeitenden Menschen, sein Kunstsüppchen kocht und [uns] aufgekehrte Flugblätter, verpackt in Tüten, als Kunst andrehen will?"
Der von Beuys in einer Schauvitrine einbalsamierte Müll bezeugt, welche reliquienhafte Bedeutung er dem Material beimaß. Beuys übertrug die den Stoffen zugewiesenen Eigenschaften auf gesellschaftliche Prozesse und konnte damit behaupten, seine Werke spiegelten Soziales und Politisches wider und könnten auf beide Bereiche einwirken.
Formate und Auflagen
Das nüchterne Material und das handliche Format verleihen der Intuitionskiste von Joseph Beuys den Charme eines Alltagsgegenstandes. In der Kunst der 1960er Jahre waren alle Formate möglich. Kleine unauffällige Maße zeichnen vor allem die Arbeiten der Fluxusbewegung aus. Kisten, Koffer und kleine Schächtelchen, deren Inhalt zum spielerischen Mitmachen aufforderte, wurden oft als Auflagenobjekte, sogenannte Multiples, in Verlagen produziert. Zu den bekannteren Fluxusverlagen zählen die 1974 von Dick Higgins gegründete Something Else Press und Wolfgang Feelischs VICE Versand, über den die Beuys-Kiste zu einem Preis von zunächst acht DM angeboten wurde. Die kleinen Formate der Fluxusbewegung sind Ausdruck eines gesellschaftspolitischen Anspruchs. Vor allem George Maciunas, Theoretiker der Bewegung, hatte sich zum Ziel gesetzt, antielitäre Kunst für alle herzustellen. Das kleine Format der Fluxusobjekte verweist, wie auch hinsichtlich ihrer Formate gegenteilig angelegte Werke, auf eine neu eingeforderte Rezeptionsweise von Kunst.
Waren bei den Fingerboxes des japanischen Fluxuskünstlers Ay-O Feinfühligkeit und Tastsinn der Rezipienten gefragt, so verlangten große, raumfüllende, installative Werke wie Allan Kaprows "Yard" die Bereitschaft der Betrachter, sich körperlich aktiv den Galerieraum zu erschließen. Kaprow hatte 1961 den Hof der Martha Jackson Gallery in New York mit Autoreifen gefüllt. Besucher mussten über die Reifen klettern und waren dabei auch dem Geruch des Gummis ausgeliefert. Ob eher kleine unscheinbare oder nahezu unüberschaubare Formate: Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Grenzen zwischen Künstlern, Kunst und Betrachtern zusehends verschoben. Betrachter wurden zur aktiven Teilnahme an der Vollendung eines Kunstwerkes aufgefordert. Ein neuer Werkbegriff, der unter Kunst nicht mehr ein von genialer Künstlerhand geschaffenes Artefakt verstand, verbindet die theoretischen Vorstellungen der verschiedensten künstlerischen Tendenzen der 1960er und frühen 1970er Jahre. Radikal hatten diese Forderungen vor allem die Vertreter der Conceptuel Art gestellt. Sie überließen es Kuratoren oder Sammlern, Werke ihren Anweisungen entsprechend umzusetzen. Partizipation und Enthierarchisierung war nicht nur eine Forderung, die Künstler an Institutionen stellten, in denen ihre Arbeiten präsentiert wurden. Sie verlangten dies auch von Betrachtern ihrer Arbeiten.
Auch Beuys wollte seine kleine Kiste keineswegs als reines Anschauungsobjekt verstanden wissen. Dies demonstrierte er auf dem eingangs abgebildeten Foto, indem er sie in seinen Händen abwägend prüft. Das handliche Format forderte Käufer auf, sie zu gebrauchen. Neben einer möglichen Funktion als Ablage für Papier könnte die Holzkiste auch als Tablett oder Rahmen für andere Dinge dienen. Gegen eine solche Verwendung spricht allerdings eine Zeichnung, die Beuys im oberen Drittel jeder Kiste anlegte. In der Mitte ist der Begriff 'Intuition' gesetzt. Darunter, ebenfalls zentral, befinden sich zwei Linien, wobei die obere auf Grund ihrer Begrenzung zu beiden Enden als Strecke bezeichnet werden kann. Die untere, längere Bleistiftlinie ist nur auf ihrer rechten Seite begrenzt. Nach links, entgegen der Leserichtung, ist die Linie offen. Sie kann als ein ins Unendliche weisender Strahl bezeichnet werden.
Multiples sind einem Spannungsfeld ausgesetzt, das sich zwischen dem Anspruch auftut, zum einen 'Kunstwerk' zu sein und zum anderen ein massenhaft reproduziertes Objekt. Das bezeugt auch Beuys' kleine Kiste. Denn die handgefertigte Zeichnung ist hier von zentraler Bedeutung. Sie verleiht ihr den Titel 'Intuition' und gewährleistet nach Ansicht des Künstlers erst ihr Funktionieren als Kommunikationsmedium. Die Bedeutung des handgeschriebenen Wortes wird durch die rückseitige Signatur des Künstlers und die Datierung noch potenziert. 1970 kommentierte Beuys den hohen Aufwand, der mit dieser Handarbeit verknüpft war: "Bei den Holzkisten (Intuition) ist es schon eine erhebliche Arbeit – ich glaube, es sind schon über 5.000, die ich gemacht habe –, denn der Feelisch kommt alle naselang und da geht jedesmal ein ganzer Tag drauf, denn die Dinge muß ich ja selber machen, sonst werden sie nichts."
Die Intuitionskiste ist einerseits ein Massenprodukt, dessen Auflagenhöhe eher an Romane heranreicht. Zugleich betonte Beuys, das nur er selbst Hand anlegen könne, um das Multiple zu vollenden. Das Objekt war auf praktischer und theoretischer Ebene an diesen künstlerischen Eingriff gebunden. Ihre volle Wirkung konnte die Kiste erst durch das gleichsam schamanenhafte Handanlegen Joseph Beuys´ entfalten. Unter diesen Bedingungen wird der Künstler zum einzig möglichen Schöpfer eines Werks erhoben. Und so reiht sich Joseph Beuys wieder in eine lange Tradition genialer Künstler ein. Mit seiner Ansicht über die heilbringende gesellschaftliche Aufgabe des Künstlers vertrat er gewissermaßen eine der Conceptual Art entgegenstehende Position.
Der Weg zur Erkenntnis
Mittels der handschriftlichen Inschrift 'Intuition', die als Titel und Inhalt des Werkes fungiert, gravierte Beuys der Kiste ihre Bedeutung und eine – wenn auch verschlüsselte – Handlungsanweisung an ihre Nutzer ein. Der Begriff scheint sich geradezu appellativ an Betrachter zu wenden und sie aufzufordern, sich dieser Wahrnehmungsform hinzugeben. Beuys betrachtete Intuition als ein wesentliches Erkenntnisprinzip. Die Zeichnung im Kisteninnern hatte der Künstler bereits mehrfach in variierter Form angefertigt.
Das Wort 'Intuition' und die Linienstrukturen sind zum einen so auf der Grundplatte der Kiste angeordnet, dass die Linien den Begriff unterstreichen und damit besonders hervorheben. Weiterhin erinnert ihre Ordnung an Textzeilen, die damit zum Lesen anhalten. Die Strecke wird als Sinnbild für Bestimmtheit oder Begrenzung interpretiert, während der nach links offene Strahl für Unbestimmtheit, Unbegrenztheit und somit für Freiheit steht. Daher könnten der Begriff 'Intuition' und die mathematischen Zeichen Strecke und Strahl als Bilder für eine von Beuys propagierte Erneuerung des Erkenntnisprozesses interpretiert werden. Wahres Wissen ist nach Ansicht des Künstlers erst möglich, wenn rationales Denken, für das die Begrenzung steht, und Intuition, die nach Beuys einem freiheitlichen Prinzip folgt, sich sinnvoll ergänzen und erweitern. 1970 äußerte er: "Das, was die Menschen heute immer so als Parole rausbrüllen: erweitertes Bewusstsein. Das erweiterte Bewusstsein ist die Intuition."
Akzeptanz intuitiv erlangten Wissens war auch ein Teil des von Beuys vertretenen neuen Bildungsverständnisses, das ein zentraler Aspekt seines politischen Konzepts war. Damit thematisierte der Künstler eines der wichtigsten Anliegen vieler Gruppierungen der 68er Bewegung. Eine neue Gesellschaft und eine neue Form der Demokratie war nur denkbar, wenn auch Lehrpläne, institutionelle Strukturen, in denen Bildung vermittelt wurde, sowie die Definition dessen, was Wissen sei, reformiert oder gar revolutioniert werden. Seine Kritik am Bildungssystem manifestierte sich auch in dem Zulassungsstreit für Studierende an der Düsseldorfer Kunstakademie. Beuys nahm Studenten in seine Klasse auf, die den offiziellen Auswahlkriterien nicht entsprachen. Dies führte schließlich 1972 zu seiner Entlassung aus der Akademie.
Für Joseph Beuys waren Gespräche oder Auseinandersetzungen über politische Themen, zu denen auch Bildungsfragen zählten, Teil seines Konzepts der Sozialen Plastik. Dementsprechend erhob er die Diskussionen mit den Besuchern der Documenta V (1972) in Kassel zum Kunstwerk. Hier hatte er in dem ihm zur Verfügung gestellten Raum die "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" eingerichtet. Eine Neuordnung der Bildung und vor allem ein neues Verständnis von Wissenschaft und Empirie, in der Wissen nicht nur durch rein rationales Erkennen, sondern auch durch Intuition und Inspiration zu erlangen sei, verfolgte Beuys mit der Gründung der "Freien Internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung".
Beuys Konzept vom intuitiven Wissen entzieht sich gezielt ausschließlich rationaler Nachvollziehbarkeit. Intuition ist dabei ein wesentliches Kriterium des künstlerischen Schaffensprozesses und zeichnet jenen Künstler aus, der auf 'höheres' Wissen zurückgreifen kann. Das vom ihm Geschaffene und Geäußerte kann somit nicht hinterfragt werden. Seine Berechtigung findet lediglich im Kreis derjenigen Anerkennung, die sich auf vergleichbare Erkenntnisprozesse einlassen. Beuys´ Plädoyer fürs Intuitive fußt, wie auch die Bedeutung der künstlerischen Handarbeit, auf der Vorstellung vom genialen Künstler.
Weniger ernsthaft als sein Kollege Beuys scheint Sigmar Polke diese höhere Eingebungskraft der Künstler einzuschätzen. Jedenfalls ironisiert Polke in seinem Gemälde 'Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen' von 1969 humorvoll diese übersinnliche Gabe der Künstler. Weniger auf das Intuitive vertrauend, als vielmehr auf ein analytisches Verfahren setzend, nahm Hans Haacke seine gesellschaftliche Aufgabe als Künstler mit politischem Anspruch wahr. Haackes und Beuys´ politisch motivierte Kunst basiert gewissermaßen auf methodisch und formalästhetisch antagonistischen Verfahren.
Haackes konzeptuell angelegte Werke loten das Verhältnis zwischenText und Bild aus. Sie basieren auf Recherchen, bei denen er auf verschiedenste Quellen wie Archivalien, Zeitungsausschnitte oder Fotografien zurückgreift. Sie nutzen die Ästhetik wissenschaftlicher Dokumentationen. In der 1971 entstandenen Arbeit "Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, a Real-Time Social System, as of May 1, 1971" (Shapolsky et al. Manhattan Immobilienbesitz, ein gesellschaftliches Realzeitsystem, Stand 1. Mai 1971) legte er New Yorker Grundstücksspekulationen mit erheblichen sozialen Folgen offen. Die Installation bestand aus 146 Fotos mit Ansichten von Gebäuden, Tabellen von geschäftlichen Transaktionen, einer Erklärungstafel sowie Stadtplänen von Harlem und der Lower East Side. Für das "Manet- Projekt ´74" rekonstruierte Haacke die Geschichte des Spargel-Stilllebens von Eduard Manet bis zum Ankauf für das Kölner Wallraf-Richartzs-Museum. Diese aus zehn Offsetdrucken und einer Farbfotografie bestehende Provenienzforschung des Künstlers stellte die Namen und Biografien der aufeinander folgenden Eigentümer zusammen. Der den Nationalsozialisten dienende Bankier Hermann Joseph Abs erscheint hier nicht als generöser Mäzen, sondern als Nutznießer der Enteignung jüdischer Vermögen. Haackes Manet-Projekt v isualisierte Verflechtungen von Kultur, Politik und privater Wirtschaft. Die den Arbeiten immanente Kritik führte schließlich in New York und Köln zu einer Zensur und zum Ausschluss seiner Werke aus Ausstellungen.
Orte künstlerischen Handelns
Die Analyse der New Yorker Immobilienspekulationen und Haackes Untersuchung zur Eigentümergeschichte von Manets Spargelstilleben stellen die Annahme infrage, wonach Institutionen, an denen Kultur gesammelt, bewahrt oder ausgestellt wird, neutralen, von finanzieller oder politischer Macht unabhängigen Gesetzen folgen. Die in seinen Werken enthaltene Kritik am Macht erhaltenden bürokratischen Apparat der Institutionen spiegelt ein zentrales Thema politisch motivierter Kunst um 1968 wider, mit dem sich insbesondere Konzeptkünstler auseinander setzten. Die 1976 erstmals als Aufsatzsammlung in der Zeitschrift Artforum erschienene Schrift des Kritikers Brian O´ Doherty "Inside the White Cube" griff diese künstlerischen Ansätze auf und thematisierte kulturelle, soziale und politische Rahmenbedingungen der Orte, an denen die Künstler ihre Werke präsentierten. So malte beispielsweise Daniel Buren weiße und farbige Streifen im immer gleichen Abstand auf Galeriewände. Andere Arbeiten platzierte er im Stadtraum. Durch die Reduktion auf Streifen als malerische Grundstrukturen öffnete Buren den Blick für historisch bedingte und soziale Kontexte eines Ortes.
Kritik an Institutionen konnten Künstler insbesondere dann wirksam ausüben, wenn sie sich ihr Publikum selbst suchten. Die Straße als allgemein zugänglicher Ort bot sich an, da hier die durch gesellschaftliche Eliten dominierten Gesetze der Bildungseinrichtungen am ehesten außer Kraft gesetzt waren. Diese Verlagerung von Kunst in den öffentlichen Raum fand im Rahmen von performativen Aktionen, auf Demonstrationen sowie durch Parolen und Graffiti statt, mit denen Künstler den Stadtraum markierten. Internationale Wirkung und Verbreitung erfuhren Inschriften und Plakate, die Künstler in Paris während der Maiunruhen 1968 anbrachten. Die Plakate, deren Autorschaft oft nicht bekannt wurde, waren zuvor auf den Druckmaschinen in dem von Studenten gegründeten "Atelier Populaire des Beaux Art" in der École National des Beaux-Art hergestellt worden. Inhaltlich nahmen sie Bezug auf Schriften wie Guy Debords "Gesellschaft des Spektakels" oder Herbert Marcuses "Versuch über Befreiung", die das theoretische Fundament der künstlerischen Handlungen lieferten. In den Ateliers und Kunstakademien wanderten die Werke von den Staffeleien auf Fußböden und Wände. Die den Staffeleien anhaftende, formatbedingte Normierbarkeit und Kontrollierbarkeit sollte unterlaufen werden. Optimales Forum für die Verbreitung politischer Ansichten boten die Fassaden der Kunsthochschulen, wofür die mit Graffiti und Schriftzügen versehene Attika der Düsseldorfer Kunstakademie ein Beispiel ist. In dem Foto erklimmt ein Junge die Sockel der Akademie, auf dem hoch oben der Schriftzug: "DENKT die Würde des Menschen ist unverletzlich/ Leben Arbeit Geld Arbeit Geld Tod" aufgetragen ist. Ein Stück weit versinnbildlicht die kindliche Ersteigung der Architektur die mit dem Zugang zur Bildungseinrichtung verbundenen hohen Hürden, deren Auswahlverfahren auch Joseph Beuys hinterfragte.
Beuys nutzte den Ort vor der Akademie wiederholt für seine Aktionen. Wer wollte, konnte daran teilnehmen oder ihn aus der Vogelperspektive beobachten, wie der an die Säule gelehnte junge Mann auf dem eingangs beschriebenen Foto. Inwiefern Beuys´ auf gesellschaftspolitischen Forderungen basierende Aktionen außerhalb der Kunstszene Wirkung zeigten, lässt sich kaum bemessen. Dies gilt wohl generell für politische Kunst um 1968. Ein Grund hierfür mag auch sein, dass das dokumentarische und künstlerische Material seinen Fokus vor allem auf die Künstler selbst legt.
Die Künstlerin Inge Sauer war 1969 Studentin der Düsseldorfer Kunstakademie. Während einer Aktion, mit der Beuys die in seinen Unterrichtsräumen stattfindende "Arbeitswoche" der Lidl Akademie einleitete, richtet sie ihre Kamera auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort spielt sich der Alltag der Düsseldorfer AltstadtbewohnerInnen ab. Ausgerüstet mit Kittelschürzen oder kurzem Kostüm blicken die Frauen in die Kamera oder unterhalten sich. Entgegen der bisweilen sogar menschenverachtenden Kritik in der Presse, die Beuys als 'Kunstschwein' degradierte, registrieren sie weder ablehnend noch besonders wohlwollend, was gegenüber geschieht. Was sie dort sehen, hält sie nicht ab von einem Schwätzchen mit der Nachbarin auf der Straße.