Bei der Erörterung nationalsozialistischer Verbrechen wird den Alliierten von rechtsextremer Seite oft unterstellt, sie gingen von der kollektiven Schuld aller Deutschen aus, die sich auch auf künftige Generationen vererbe. Dass Nachgeborene, also die heutigen Jugendlichen und ihre Eltern, im moralischen oder rechtlichen Sinne an Verbrechen schuldig oder mitschuldig sind, die vor 1945 begangen wurden, ist natürlich nicht möglich. Aber auch direkt nach 1945 ist der Vorwurf der Kollektivschuld gegen die Deutschen insgesamt nicht ernsthaft erhoben worden. Keine Handlung der alliierten Besatzungsmächte nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staats wurde mit der "Kollektivschuld" der Deutschen begründet.
Zum Arsenal rechtsextremer Propaganda gehört weiterhin die Behauptung, die Alliierten hätten gestützt auf diese These die Bestrafung und "Umerziehung" der Deutschen sowie die Maßnahmen im Zuge der Entmilitarisierung (Demontage) und weitere wirtschaftliche Sanktionen (Reparationen) betrieben. Oft wird auch behauptet, an den Folgen der Kollektivschuldthese leide das deutsche Volk immer noch. Zur Verteidigung gegen den angeblichen Vorwurf einer deutschen Kollektivschuld unternehmen rechtsextreme Autoren große Anstrengungen, um auf Kriegsverbrechen der Alliierten hinzuweisen, die "jüdische Mitschuld" an der nationalsozialistischen Politik darzutun, die Zahl der Opfer des Holocaust zu minimieren und den Völkermord zu verharmlosen.
Während des Zweiten Weltkriegs spielte der Gedanke einer deutschen Kollektivschuld in der öffentlichen Meinung der angelsächsischen Länder allerdings eine Rolle. Aufgrund von Nachrichten über die Judendeportationen, die Konzentrationslager, die deutsche Kriegsführung im Osten und auf dem Balkan, die deutsche Besatzungspolitik wurden in den dortigen Medien Betrachtungen über den barbarischen "deutschen Nationalcharakter" angestellt, Gräueltaten als "typisch deutsch" angeprangert und Verbindungslinien aus der deutschen Geschichte (Friedrich der Große, Bismarck, Wagner, Nietzsche als Kronzeugen für Eroberungslust, Machtbesessenheit, Antisemitismus, Herrenmenschentum) zum Nationalsozialismus gezogen. Solcher schiefen Argumentation traten jedoch ebenso frühzeitig wie energisch deutsche Emigranten in den USA und Großbritannien entgegen, und die maßgeblichen Politiker der Alliierten machten sich den Vorwurf nicht zu eigen. Auch in der sowjetischen Kriegspropaganda spielte der Gedanke einer Kollektivschuld überhaupt keine Rolle.
Nach 1945 war die Kollektivschuldthese nicht das Motiv alliierter Deutschlandpolitik. In den Nürnberger Prozessen wurden die Angeklagten nach dem Nachweis ihrer individuellen Schuld verurteilt. Im Verfahren gegen die I. G. Farben (Prozess VI vor dem US-Tribunal in Nürnberg) wurde im Urteil eindeutig klargestellt: "Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll mit der Begründung, dass sie Verbrechen gegen den Frieden begangen hätten. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen, und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt."
Prominente Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Theodor Heuss, Karl Barth und Karl Jaspers bekannten sich zur kollektiven Verantwortung des deutschen Volkes als einer moralischen Forderung. In diesem Sinne wurde das Problem in den ersten Nachkriegsjahren öffentlich diskutiert. In der "Stuttgarter Erklärung" vom 19. Oktober 1945 sprachen die evangelischen Bischöfe von einer "Solidarität der Schuld", in der sich der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands mit dem ganzen Volk wisse.
Als moralisches und theologisches Problem (auch in der Version als "kollektive Scham") ist die Frage gemeinsamer historischer Verantwortlichkeit für das, was im deutschen Namen geschah, immer noch aktuell, auch über den Kreis derer hinaus, die damals Hitlers Politik billigten und seine Erfolge bejubelten. Als politische und juristische Forderung zur Durchsetzung von Ansprüchen war die Kollektivschuldthese nie propagiert worden.
Die Kollektivschuldthese hatte in der Diskussion um den Nationalsozialismus in Deutschland von Anfang an den Zweck der Abwehr und der Ablenkung: Wenn man sich über das unsinnige Konstrukt kollektiver Schuld entrüstete, brauchte man sich nicht mit den historischen Fakten selbst auseinander zu setzen. Deshalb wird die "Kollektivschuldthese" als vermeintliches Instrument zur Demütigung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg von rechtsradikalen Propagandisten immer wieder aufs Neue beschworen.
Literatur
Jaspers, Karl: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979.
Possony, Stefan T.: Zur Bewältigung der Kriegsschuldfrage. Völkerrecht und Strategie bei der Auslösung zweier Weltkriege, Köln 1968.