Bürgerschaftliches Engagement
Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements beschreibt Tätigkeiten, die
geleistet werden.
Eine traditionsreiche Variante bürgerschaftlichen Engagements ist ehrenamtliches Engagement, das in formal-organisierter Form etwa in Führungs- und Leitungspositionen von Vereinen und Kommunalpolitik geleistet wird. Eine zweite Variante bürgerschaftlichen Engagements ist freiwilliges Engagement, – ein Begriff, der in Abgrenzung zum Ehrenamt die Selbstbestimmung des Engagements von Bürger*innen hervorhebt (Olk/Hartnuß 2011).
Zivilgesellschaftliche Organisationen
Bürgerschaftliches Engagement erfolgt in der Regel organisiert. Die Spannbreite der Organisationen reicht dabei von hoch bis hin zu gering formalisierten Organisationen, d. h. von Stiftungen, über Vereine, Genossenschaften und gemeinnützige GmbH bis hin zu selbstorganisierten Initiativen und Gruppen. Ihrem Selbstverständnis zu Folge verstehen sich diese Nonprofit-Organisationen nicht als Teil von Staat und Wirtschaft, d. h. nicht als staatliche oder erwerbswirtschaftliche, sondern als zivilgesellschaftliche Organisationen, die zum Gemeinwohl der Gesellschaft beitragen wollen (Strachwitz/Priller/Triebe 2020).
Ausgangssituation
Das bürgerschaftliche Engagement – die individuelle, freiwillige, unentgeltliche, öffentliche und gemeinschaftliche Tätigkeit jenseits der Familie – ist eine wichtige gesellschaftliche Ressource und Ausdruck einer starken Zivilgesellschaft (Putnam 2001). Seit der deutschen Vereinigung kann sich bürgerschaftliches Engagement auch in Ostdeutschland entfalten. Indessen lagen in beiden Teilen Deutschlands unterschiedliche Ausgangsbedingungen für die Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements und zivilgesellschaftlicher Organisationen vor, die bis heute nachwirken.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Entwicklung von Engagement und Zivilgesellschaft seit den 1960er Jahren durch den Wertewandel und die Pluralisierung der Gesellschaft geprägt. Begünstigend wirkte sich die Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft seit Ende der 1960er Jahre aus, die in den 1970er und 1980er Jahren durch politische Reformen und neue soziale Bewegungen verstärkt wurde, die maßgeblich zur Entwicklung von bürgerschaftlichem Engagement und zivilgesellschaftlichen Organisationen beigetragen haben (Brand/Büsser/Rucht 1986; Raschke 1985). Positiv auf die Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland haben sich insbesondere die kommunale Selbstverwaltung und der föderale Staatsaufbau, die relative politische Autonomie gesellschaftlicher Interessengruppen sowie die gesellschaftliche Vielfalt und Bedeutung zivilgesellschaftlicher Organisationen, vor allem von Vereinen, Bürgerinitiativen, Genossenschaften und Stiftungen, ausgewirkt.
In der DDR hingegen waren Staat und Gesellschaft grundlegend anders verfasst. Auf dem Gebiet der späteren DDR konnten Erfahrungen mit Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat nur kurz in der Zeit der Weimarer Republik von 1919 bis Anfang 1933 gemacht werden, bevor sich die nationalsozialistische Diktatur etablierte. Mit der Gründung der DDR entstand eine Diktatur, die als zentralisierte Organisationsgesellschaft (Pollack 1990) strukturiert war und in der es keine freien Assoziationen gab. Staat, Parteien und Massenorganisationen wurden von der Sozialistischen Einheitspartei zentral gelenkt und kontrolliert (Meuschel 1993). Das Engagement der Bürger*innen wurde staatlich reglementiert und als "apolitisches" Engagement zugelassen und gefördert. Besondere Ausprägungen erfuhr das Engagement in den "Nischen der Gesellschaft", das heißt in Kirchengemeinden, Nachbarschaften und privaten Räumen. Dementsprechend wurde die DDR auch als "kleinbürgerlich nivellierte Nischengesellschaft" (Gaus 1983) beschrieben. Zudem waren – anders als in der alten Bundesrepublik – Betriebe bis zum Ende der DDR wichtige Orte und ressourcenstarke Akteure eines erklärtermaßen apolitischen gesellschaftlichen Engagements. Insgesamt hat das Engagement in der DDR durch Abwanderungsbewegungen vor der Errichtung und nach dem Fall der Mauer sowie durch Auswanderung und Ausbürgerung zu DDR-Zeiten fortlaufend engagementstarke Personengruppen verloren. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Transformation (Joas/Kohli 1993) verloren Betriebe und Massenorganisationen als Organisationen des Engagements an Bedeutung, während Kirchen und Bürgerbewegungen eine kurze Blütezeit erlebten (Wielgohs/Schulz 1993). Die Ansätze bürgerschaftlichen Engagements und zivilgesellschaftlicher Organisationsbildung wiederum wurden im Zuge des Institutionentransfers von West nach Ost zugleich unterstützt und überformt.
Daten und Strukturen
Das bürgerschaftliche Engagement wird in Deutschland seit 1999 regelmäßig wissenschaftlich untersucht und bewertet. So werden mit dem Freiwilligensurvey alle fünf Jahre mehr als 25.000 Menschen zu ihrem Engagement befragt (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014) und die Bundesregierung legt in jeder Legislaturperiode einen von Expert*innen erstellten Engagementbericht vor (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012, 2020). Dem aktuellen Freiwilligensurvey (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014) zufolge engagieren sich in Deutschland 43,6 Prozent der über 13-Jährigen (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 21). Der Freiwilligensurvey verdeutlicht zudem die thematischen Schwerpunkte des Engagements: Sport und Bewegung ist mit 16,3 Prozent der größte Bereich, danach folgen Schule und Kindergarten (9,1 Prozent), Kultur und Musik (9,0 Prozent), Soziales (8,5 Prozent), Kirche und Religion (7,6 Prozent), Freizeit und Geselligkeit (5,8 Prozent), außerschulische Jugendarbeit und Bildungsarbeit für Erwachsene (4,0 Prozent). Demgegenüber haben Politik und Interessenvertretung, Umwelt, Natur- und Tierschutz, Unfall- und Rettungsdienste, freiwillige Feuerwehr sowie die berufliche Interessenvertretung außerhalb von Betrieben deutlich geringere Anteile (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 114).
Die Befunde des Freiwilligensurveys zeigen auch, dass die Engagementquote in ländlichen Regionen, d. h. in Städten und Gemeinden mit bis zu 5.000 Einwohnern, vergleichsweise hoch ist (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 558). Engagement verstärkende Effekte haben – so die Befunde des Freiwilligensurveys – Bildung, Einkommen, Kirchenmitgliedschaft und Sozialkapital, d. h. soziale Kontakte und Netzwerke (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 439-464, 241-242, 499-520). In geschlechterpolitischer Perspektive betrachtet engagieren sich Männer häufiger als Frauen und zudem in deutlich unterscheidbaren Tätigkeitsfeldern: Männer engagieren sich überdurchschnittlich häufig in ehrenamtlichen Führungs- und Leitungspositionen, während sich Frauen verstärkt in personenbezogenen Tätigkeiten, insbesondere im Sozialbereich und hier vornehmlich zugunsten von Kindern und Jugendlichen, engagieren (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 637-646). Ein klarer Zusammenhang besteht zudem zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und Engagement: So sind Angehörige der Mittelschicht überdurchschnittlich häufig engagiert. Auch Erwerbstätigkeit wirkt sich anders als Erwerbslosigkeit verstärkend auf Engagement aus (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 451-452). Aufgeschlüsselt nach Altersgruppen wird deutlich, dass sich Menschen im Alter zwischen 14 und 49 Jahren am häufigsten engagieren, während das Engagement im höheren Lebensalter (> 65 Jahre) abnimmt (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 105). Engagement findet in der Regel in organisierter Form statt. Dementsprechend ist die Mitgliedschaft in Vereinen hoch, aber bei Jüngeren, d.h. der Altersgruppe der 14-29jährigen, ist die Organisationsbindung vergleichsweise niedrig (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 247).
Im innerdeutschen Vergleich der Engagementquoten zeigt sich auf Länderebene ein zweifaches Gefälle von Süd nach Nord und von West nach Ost: In Süddeutschland engagieren sich mehr Bürger*innen als in Norddeutschland, zudem engagieren sich Bürger*innen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik häufiger als in Ostdeutschland. In Ostdeutschland weist das Engagement einige Besonderheiten auf (Gensicke/Olk/Reim/Schmithals/Dienel 2009). So wirken sozialkulturelle Prägungen der DDR-Gesellschaft auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch nach. Der Soziologe Detlef Pollack hat die DDR als eine unmoderne Variante von Organisationsgesellschaft beschrieben. Während moderne Gesellschaften durch gesellschaftliche Differenzierung und organisationale Pluralität geprägt sind, hat das DDR-Regime versucht, die Gesellschaft monolithisch zu organisieren. Mit dieser Staatsdoktrin waren Vorstellungen von der Entfaltung "gesellschaftlichen Eigensinns" (Mau 2019: 103) und der Herausbildung einer vielfältigen und relativ eigenständigen Zivilgesellschaft nicht vereinbar.
Hinzu kommt, dass staatlicherseits in der DDR die Säkularisierung der Gesellschaft vorangetrieben wurde, so dass der Anteil der Konfessionslosen in der DDR im internationalen Vergleich betrachtet sehr hoch war. Folglich waren religiöse Einstellungen nicht gesellschaftlich prägend und entfalteten auch keine Anreize für Engagement. Ein tätiges und erklärtermaßen apolitisches Engagement war innerhalb staatlicher Massenorganisationen, im Sport, in Feuerwehren, im Katastrophenschutz und im Rettungswesen möglich (Angerhausen et al. 1998). Demgegenüber war ein gesellschaftspolitisches Engagement in der DDR nicht oder nur bedingt und eingeschränkt unter dem Dach der Kirchen und am Ende der DDR in Bürgerinitiativen und -bewegungen möglich. Vor allen aber waren in der DDR informelle nachbarschaftliche Hilfen – ob aus Not oder Solidarität sei dahingestellt – üblich und häufig. Eine Besonderheit, die im Ost-West-Vergleich auch heute noch in einem leicht höheren Engagement in diesem Feld in Ostdeutschland zum Ausdruck kommt (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 253-283). In Kenntnis des in Ostdeutschland besonders ausgeprägten informellen nachbarschaftlichen Engagements lässt sich auch die spontan abrufbare und hohe Engagementbereitschaft in den neuen Bundesländern bei akuten Bedarfslagen, wie etwa den Hochwassern der Jahre 1997 und 2010 sowie der Unterstützung von Geflüchteten im Jahr 2015, erklären.
Anhand dieser Skizze wird deutlich, dass die Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern historisch anders gewachsen und konturiert ist als in den alten Bundesländern, was im bürgerschaftlichen Engagement und in zivilgesellschaftlichen Organisationen seinen Niederschlag findet. So lag die Engagementquote in Ostdeutschland im Jahr 2014 bei 38,5 Prozent und in den alten Bundesländern bei 44,8 Prozent (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 577), wobei erhebliche innerdeutsche Unterschiede im Vergleich der länderspezifischen Engagementquoten bestehen, wie etwa im Vergleich von Sachsen-Anhalt (37,1 Prozent) und Baden-Württemberg (48,2 Prozent) (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2014: 591) deutlich wird. Diese Unterschiede im Engagement der Bürger*innen korrespondieren mit der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen in den neuen Bundesländern. So sind die Zahl und die sozialräumliche Dichte zivilgesellschaftlicher Organisationen, ihr Mitgliederbestand und ihre Ressourcenausstattung auch nach nunmehr 30 Jahren Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern geringer als in den alten Bundesländern (Aktive Bürgerschaft 2020, Zivilgesellschaft in Zahlen 2017).
Die Gründe für eine nach wie vor niedrigere Engagementquote und für schwächer entwickelte zivilgesellschaftliche Organisationen in Ostdeutschland sind vielschichtig. Zunächst einmal hatte der Zusammenbruch der DDR-Gesellschaft für viele Bürger*innen in Ostdeutschland tiefgreifende biografische Erfahrungen zur Folge. Die Abwicklung von Betrieben, die hohe Erwerbslosigkeit und die Entwertung von Qualifikationen dürften sich demotivierend auf die individuelle Bereitschaft, sich zu engagieren, ausgewirkt haben (Gensicke/Olk/Reim/Schmithals/Dienel 2009, Holtmann 2020, Mau 2019). Hinzu kommt, dass Prozesse der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation mit der Implosion der DDR und im Zuge der Konstitution der neuen Bundesländer durch den Institutionentransfer von West nach Ost überformt wurden, was für einige Engagierte Enttäuschung bedeutet, für andere aber auch günstige Gelegenheiten geschaffen hat. Ein derartiger Institutionentransfer war für einen schnellen staatlichen Beitritt unabdingbar, aber bis "implantierte" Institutionen gedeutet, interpretiert, verändert und akzeptiert sind, vergeht Zeit, wobei das Risiko, dass es zu Abstoßungseffekten kommt, fortbesteht (Czada/Lehmbruch 1998, Wiesenthal 1995).
Engagement in der Organisationsgesellschaft
Auch die DDR war eine Organisationsgesellschaft, aber ohne Demokratie, Rechtsstaat, Organisationsfreiheit und Pluralismus (Pollack 1990). Für jeden Handlungsbereich war jeweils eine quasi-staatliche Organisation monopolartig zuständig. Mit dem Zerfall der DDR endeten auch diese staatlich vorgegebenen Organisationsmonopole, so dass sich fortbestehende Organisationen, wie etwas das Deutsche Rote Kreuz und die Volkssolidarität, freiwillige Feuerwehren, Sportorganisationen und Kulturvereinigungen, innerhalb des übertragenen Institutionensystems neu verorten mussten. So hat etwa die Volkssolidarität in der Institution der Freien Wohlfahrtspflege und als Mitgliedsorganisation des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes den Systemwechsel "überlebt" (Angerhausen et al. 1998). Gleichzeitig mit dem Institutionensystem der Bundesrepublik Deutschland wurden die entsprechenden Organisationen transferiert. Diesem Transfergedanken lag die Erwartung zugrunde, dass sich die übertragenen Institutionen und Organisationen, wenn sie staatlicherseits mit Macht und Geld ausgestattet werden würden, im Laufe der Zeit "wie von selbst" mit Leben füllen würden. Doch auch 30 Jahre nach der Implosion der DDR weist die Mehrzahl transferierter zivilgesellschaftlicher Organisationen in Ostdeutschland im Vergleich mit den entsprechenden Organisationen in den alten Bundesländern in der Regel eine geringere personelle, sachliche und finanzielle Ressourcenausstattung auf (so schon Zimmer/Priller 2004).
In Deutschland sind Vereine die von Engagierten mit Abstand bevorzugte Organisationsform (Krimmer 2019, Priller/Alscher/Droß/Paul/Poldrack/Schmeißer/Waitkus2012). Genossenschaften als eine traditionsreiche Organisationsform wirtschaftlichen Engagements erleben seit einigen Jahren eine Renaissance (Kluth 2017), während die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, ihre Mitgliedsorganisationen, Dienste und Einrichtungen, mit dem Ausbau des deutschen Sozialstaates seit den 1970er Jahren ein kontinuierliches Wachstum verzeichnen und zudem seit Jahrzehnten die Zahl von rund 3 Millionen engagierten Bürger*innen vermelden (Backhaus-Maul/Speck/Hörnlein/Krohn 2015). In den vergangenen Jahrzehnten sind im Bundesgebiet flächendeckend 415 Bürgerstiftungen mit einem Stiftungskapital von 423 Mio. Euro gegründet worden (Aktive Bürgerschaft 2020). Ein Teil der zivilgesellschaftlichen Organisationen hat sich zur Vertretung ihrer engagementpolitischen Interessen eigens in einem Verband zusammengeschlossen, dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (2020a). Vielerorts sind Freiwilligenagenturen und -zentren entstanden, die Bürger*innen und Organisationen engagementbezogen beraten und Vermittlungsleistungen erbringen (Speck/Backhaus-Maul/Friedrich/Krohn 2012). Und die Bundesregierung hat im Jahr 2020 die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt zur Förderung von bürgerschaftlichem Engagement auf lokaler Ebene im gesamten Bundesgebiet gegründet (Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt 2020).
In der Vergangenheit fand Engagement in der Bundesrepublik Deutschland überwiegend in formal strukturierten Organisationen, d. h. insbesondere in Vereinen, Genossenschaften, Bürgerinitiativen und Stiftungen statt. Diese Organisationen waren zugleich Garanten gesellschaftlicher Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums: Sie trugen zur sozialen Integration und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit auch zur Legitimation des politischen Systems bei. Seit einigen Jahrzehnten wird ein tiefgreifender Bedeutungsverlust traditionsreicher intermediärer, also zwischen Bürgern und Staat vermittelnder Organisationen festgestellt (Streeck 1987), was für organisierte Formen des Engagements Folgen hat: Zivilgesellschaftlichen Organisationen fällt es, wie auch Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Unternehmensverbänden, zunehmend schwerer, engagierte Bürger*innen als Mitglieder zu gewinnen und an sich zu binden (Winter/Willems 2007).
Trotz des gesellschaftlichen Wandels verkennt manch eine traditionsreiche zivilgesellschaftliche Organisation dessen Dynamik, lobt die eigenen Routinen und verfällt in ein schlichtes "weiter so", während der soziale Wandel – forciert durch die SARS-CoV-2-Pandemie – digital rasant beschleunigt wird. So sind in vielen traditionsreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen in den vergangenen Jahren Veränderungen und Innovationen im Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement deutlich erkennbar geworden (Backhaus-Maul et al. 2015):
Zeitgemäße Engagementvorstellungen finden Eingang in die Vorstellungswelt und die Handlungspraxis von Organisationen.
Organisationen bemühen sich im Engagement um individuelle Passungsverhältnisse und universelle – organisationsübergreifende – Zugänge für am Engagement interessierte Bürger*innen.
Innerhalb von Organisationen werden Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für Engagement und Engagierte im Sinne eines "Freiwilligenmanagements" geklärt.
Die Orientierung im Engagement wird medial und organisatorisch durch eine individuelle Engagementberatung erleichtert.
Vielfältige Engagementangebote und Auswahlmöglichkeiten werden eröffnet (kurz-, mittel- und langfristiges Engagement; wählbare Handlungsfelder).
Stellenbeschreibungen für Engagement werden erstellt.
Möglichkeiten zur Mitentscheidung und Mitgestaltung für Engagierte in fachlichen und organisationalen Angelegenheiten werden eröffnet.
Engagementbezogene Weiterbildungsangebote werden vorgehalten.
Engagementbezogene Zertifikate werden erstellt und nicht zuletzt werden zeitgemäße Formen der Anerkennung und Würdigung des Engagements entwickelt.
Trotz derartiger Organisationsreformen wird in der Fachöffentlichkeit und in der Wissenschaft seit einigen Jahren die Frage diskutiert, wie es gelingen kann, traditionsreiche zivilgesellschaftliche Organisationen zügiger zu umfassenden und grundlegenden Veränderungen zu bewegen (Gmür/Andeßner/Greiling/Theuvsen 2018, Priller/Alscher/Droß/Paul/Poldrack/Schmeißer /Waitkus 2012, Zimmer/Simsa 2014). Sind wirtschaftlicher Wettbewerb, politischer Druck, fachliche Einsicht und wissenschaftliche Forschung wirksame Anreize oder bieten vielleicht Startup-Unternehmen, Sozialunternehmer (Social Entrepreneurs) und auch soziale Bewegungen, Selbsthilfe- und Initiativgruppen sowie das "Phänomen Greta" erste Orientierungen für die Organisationsgesellschaft der nahen Zukunft?
Aber auch rechtspopulistische und rechtsradikale soziale Bewegungen könnten in einem gänzlich anderen Sinn Einfluss auf Vorstellungen und Strukturen von bürgerschaftlichem Engagement und zivilgesellschaftlichen Organisationen haben und nehmen. Bisher wurde mittels normativer Zuschreibungen versucht, diesen Formen des Engagements, die in Teilen der neuen Bundesländer überdurchschnittlich häufig sind, den zivilgesellschaftlichen Charakter abzuerkennen. So werden in öffentlichen, fachpolitischen und wissenschaftlichen Diskussionen mit dem Begriff der Zivilität Gütekriterien wie Gewaltfreiheit, Demokratie und Toleranz (Strachwitz/Priller/Triebe 2020) aufgerufen, um sich gegen rechtspopulistische und -radikale Formen des Engagements als "dunkle Seite der Zivilgesellschaft" (Roth 2003, Forschungsjournal Soziale Bewegungen 2017) abzugrenzen.
Insgesamt prägt der gesellschaftliche Wandel das bürgerschaftliche Engagement, das in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren und in Ostdeutschland seit drei Jahrzehnten eine deutliche Tendenz zur Individualisierung, Pluralisierung und Fragmentierung in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht erkennen lässt. Dabei sind innerdeutsche Unterschiede bei bürgerschaftlichem Engagement und zivilgesellschaftlichen Organisationen nach wie vor feststellbar: In Ostdeutschland können bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen nicht auf traditionelle sozialkulturelle Milieus zurückgreifen, während auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik ein fortschreitender Bedeutungsverlust traditioneller zivilgesellschaftlicher Organisationen festzustellen ist. Infolgedessen könnte es aus unterschiedlichen Richtungen zu einer Konvergenz der Engagementquoten kommen. Gleichzeitig deutet sich eine neue gesamtdeutsche Tendenz im bürgerschaftlichen Engagement und seiner Organisationsweise an: Gering formalisierte Formen bürgerschaftlichen Engagements erlangen zunehmende Bedeutung. Das Engagement in selbstorganisierten Initiativen und Gruppen sowie in gering formalisierten Nachbarschaften und Bekanntenkreisen nimmt zu. Was aber nicht automatisch bedeutet, dass Engagement in formalen Organisationen im gleichen Umfang an Bedeutung verliert. Auf jeden Fall aber ist davon auszugehen, dass im Zuge des generationalen Wandels das bürgerschaftliche Engagement verstärkt digitalisiert wird. Bürgerschaftliches Engagement wird zukünftig verstärkt durch digitale Kommunikation, weniger durch Entscheidungsprozesse in formalen Strukturen geprägt werden (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020); ein instruktives Beispiel für diese Entwicklung ist die bundesweite Initiative Fridays for Future.
Digitalisierte und gering formalisierte Formen bürgerschaftlichen Engagements treten eher spontan und eruptiv in Erscheinung, sind in der Regel flexibel und können aber auch unzuverlässig und nicht von Dauer sein. Dieses Engagement ist medial einerseits schnell erzeugbar und abrufbar sowie andererseits leicht beeinflussbar und hochgradig manipulierbar. Parallel dazu wird es selbstverständlich auch weiterhin die formalen Organisationen bürgerschaftlichen Engagements, allen voran Vereine, und ebenso langfristig und dauerhaft Engagierte geben. Nur der Trend geht in Richtung Individualisierung, Informalität und Digitalisierung, eine Entwicklung, die formale Organisationen vor Aufgaben und Probleme stellt und gering formalisierte Varianten bürgerschaftlichen Engagements begünstigt.
Engagementpolitik und öffentliche Engagementinfrastruktur
Bürgerschaftliches Engagement ist eine selbstbestimmte Handlungsform, die sich direkter politischer Steuerung entzieht. Gleichwohl kann bürgerschaftliches Engagement gefördert und unterstützt werden (Olk/Klein/Hartnuß 2010).
Das Engagement der Bürger*innen ist in allen sie betreffenden Angelegenheiten ein integraler Bestandteil der in Art. 28 des Grundgesetzes geregelten kommunalen Selbstverwaltung, in deren Rahmen kreisfreie Städte und Landkreise Aufgaben im Auftrag von Bund und Ländern sowie freiwillige und pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben erbringen (vgl. den Beitrag "Kommunale Selbstverwaltung in Ost- und Westdeutschland"). Bei den freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben können Kommunen darüber entscheiden, ob und wie sie diese Aufgaben erbringen, bei den pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben können sie über die Art und Weise der Erbringung entscheiden. In jedem Fall aber hat die Beteiligung von Bürgern bei der Erbringung kommunaler Selbstverwaltungsaufgaben ordnungspolitisch Vorrang und ist von Kommunalpolitik und -verwaltung zu fördern. In der kommunalen Engagementförderung geht es nicht darum, bürgerschaftliches Engagement zu steuern und zu finanzieren. Vielmehr sollten die institutionellen und organisationalen Rahmenbedingungen zur Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements gefördert und verbessert werden. In diesem Sinne wäre anstelle fragmentierter Einzelaktivitäten eine öffentliche Engagementinfrastruktur zu fördern (Zimmer/Backhaus-Maul 2012), die für alle Bürger*innen öffentlich zugänglich ist und innerhalb derer etwa Vereine, Bürgerstiftungen, Bürgerinitiativen und Freiwilligenagenturen arbeitsteilig kooperieren.
In der aktuellen engagementpolitischen Diskussion, so wie sie von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien und Verbänden geführt wird, lässt sich ein fachpolitischer Konsens identifizieren (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012, 2020; Olk/Klein/Hartnuß2010; Backhaus-Maul/Nährlich/Speth 2012). Demzufolge sollten staatlicherseits, d.h. von Bund und Ländern, die gesetzlichen Grundlagen sowie die institutionellen Bedingungen des Engagements weiter verbessert werden. So will der Gesetzgeber die sozial-, haftungs- und steuerrechtlichen Regelungen bürgerschaftlichen Engagements verbessern und administrative Regelungen, die bürgerschaftliches Engagement erschweren, abbauen. Aktuell wird in der Reform des Gemeinnützigkeitsrechts die steuerrechtliche Förderungswürdigkeit gesellschaftspolitischer Anliegen zivilgesellschaftlicher Organisationen diskutiert (Deutscher Juristentag 2018). Im Sinne einer mittelfristigen institutionellen Förderung bürgerschaftlichen Engagements geben Bund, Länder und Kommunen zu erkennen, dass sie die Entwicklung einer öffentlichen Engagementinfrastruktur fördern wollen, ohne bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen, wie etwa Bürgerstiftungen, Freiwilligenagenturen, Genossenschaften und Vereine sowie selbstorganisierte Initiativen und Gruppen, steuern zu wollen. Von der Bundesregierung ist zu diesem Zweck im Jahr 2020 die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt als öffentlich-rechtliche Stiftung gegründet worden (Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt 2020), die Kritiker*innen als obere Bundesbehörde charakterisieren (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement 2020b).
Fazit und Ausblick
Die Ost-West-Unterschiede in der Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements und zivilgesellschaftlicher Organisationen verweisen auf unterschiedliche sozialkulturelle und politische Ausgangsbedingungen. In der alten Bundesrepublik war das sozialkulturelle und demokratische Fundament von bürgerschaftlichem Engagement und zivilgesellschaftlichen Organisationen breiter und historisch tiefer. In Ostdeutschland hingegen erfolgte erst nach dem Ende der DDR-Diktatur unter Rückgriff auf Organisationsstrukturen im kirchlichen Kontext, von neugegründeten Bürgerbewegungen und -initiativen sowie ehemaliger Massenorganisationen ein flächendeckender Auf- und Ausbau sowie Transfer zivilgesellschaftlicher Organisationen.
Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen können in Ostdeutschland nicht auf traditionelle sozialkulturelle Milieus zurückgreifen, während auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik ein fortschreitender Bedeutungsverlust traditioneller zivilgesellschaftlicher Organisationen festzustellen ist. Angesichts dieser gegenläufigen Entwicklungen könnte es zu einer Konvergenz der Engagementquoten kommen. Gleichzeitig deutet sich eine neue gesamtdeutsche Tendenz im bürgerschaftlichen Engagement und seiner Organisationsweise an: Gering formalisierte Formen bürgerschaftlichen Engagements erlangen zunehmend an Bedeutung. Das Engagement in selbstorganisierten Initiativen und Gruppen sowie in gering formalisierten Nachbarschaften und Bekanntenkreisen nimmt zu.
Die politische Förderung bürgerschaftlichen Engagements beziehungsweise die Engagementpolitik ist durch Besonderheiten des Föderalismus geprägt, der Bund und Ländern in diesem Handlungsfeld gesetzgeberische Kompetenzen zuweist. Kommunen hingegen wird die Zuständigkeit für bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung zugewiesen; als freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben unterliegt sie aber politischen, fachlichen und finanziellen Restriktionen. So können freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben kurzfristig eingestellt werden, wenn etwa der politische Wille und entsprechende finanzielle Mittel fehlen. Gleichzeitig sind aber zivilgesellschaftliche Organisationen und eine öffentliche Engagementinfrastruktur auf eine mittel- und langfristige politische Unterstützung und Förderung angewiesen.
Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Organisationen werden in postmodernen Gesellschaften gegenüber klassischen Interessenverbänden wichtiger. Damit stellt sich die grundlegende Frage, ob zivilgesellschaftliche Organisationen die Aufgaben der gesellschaftspolitischen Interessenartikulation, der gesellschaftlichen Selbstorganisation, der Vergemeinschaftung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf Dauer effektiv und effizient bearbeiten und bewältigen können (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt 2020).