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Gefängnisnation USA | Gefängnis | bpb.de

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Gefängnisnation USA Eine Geschichte der Macht

Heather Ann Thompson

/ 13 Minuten zu lesen

"Die massenhafte Kriminalisierung von Minderheiten und sozial Benachteiligten, Hochsicherheitsgefängnisse und Einzelhaft, der gefängnisindustrielle Komplex – das sind nicht nur globale Realitäten, sondern zunehmende globale Realitäten, ein amerikanischer Albtraum, aus dem die Welt nicht erwacht."

(Baz Dreisinger, 2015)

Im Sommer 2020 kam es in den Straßen amerikanischer Metropolen wie Chicago, aber auch in weniger bekannten Städten wie Kenosha in Wisconsin Nacht für Nacht zu Unruhen und Protesten. Tausende Menschen forderten das Ende einer Entwicklung, die in den USA zu einer massiven Krise geführt hatte: Die Polizei tötete ungestraft unbewaffnete Schwarze Bürgerinnen und Bürger. Die Proteste waren nicht nur aufgrund ihrer Größe bemerkenswert, sondern auch aufgrund ihrer Militanz und Zusammensetzung: Menschen jeder Herkunft und aus allen Generationen gingen auf die Straße. Bemerkenswert war auch, dass sie nicht einfach die Bestrafung der beteiligten Polizistinnen und Polizisten verlangten, sondern das komplette System der amerikanischen Polizei reformieren wollten.

Parallel zu diesen Graswurzel-Protesten gegen Polizeigewalt, aber in anderen Ländern weitgehend unbemerkt, wurde auch gegen Rassismus und die Ungerechtigkeit des amerikanischen Gefängnissystems mobilgemacht. Tatsächlich verweisen Aktivistinnen und Aktivisten seit mindestens einem Jahrzehnt darauf, dass die USA – eine liberale Demokratie und vermeintliche Verfechterin der Bürgerrechte und Freiheiten – mit ihrer Gefangenenzahl weltweit an der Spitze stehen. Das hat in jüngster Zeit zu landesweiten Gefangenenstreiks und anderen Aktionen gegen die Bedingungen in den überfüllten amerikanischen Haftanstalten geführt.

Obwohl man in den USA diskutiert, wie die gravierenden Schäden behoben werden können, die die Gesellschaft aufgrund ihres Kurses im Strafvollzug erlitten hat, wissen die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner erschreckend wenig darüber, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Dabei ist ein Großteil der Entwicklung gut dokumentiert und erforscht. Dieses Wissen sollte nicht vernachlässigt werden, zumal eine ähnliche Entwicklung auch in anderen Ländern möglich ist.

Krise der Masseninhaftierung

Dass die USA derzeit eine Krise der Masseninhaftierung erleben, ist keine Übertreibung. Die Zahlen sind geradezu erschütternd: 2.068.800 Menschen verbüßen in Bundes- oder bundesstaatlichen Gefängnissen eine Haftstrafe, das entspricht einer Inhaftierungsrate von 629 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Darüber hinaus stehen fast 7 Millionen Menschen unter staatlicher Aufsicht, nachdem sie das Gefängnis wieder verlassen haben oder zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wurden. Schätzungen zufolge sind derzeit über 80 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner vorbestraft, was in den USA bedeutet, dass es ihnen nahezu unmöglich ist, Arbeit oder eine Wohnung zu finden, und auch die Aussichten auf finanzielle Unterstützung bei Weiterbildungsmaßnahmen sind gering.

Bei den Inhaftierten handelt es sich überwiegend um People of Color. Ihr Anteil unter den Häftlingen ist weitaus höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. So berichtet die Organisation Sentencing Project: "Für Schwarze Männer ist die Wahrscheinlichkeit einer Inhaftierung sechsmal höher als für weiße Männer, für Latinos ist sie um das 2,5-Fache erhöht. Bei Schwarzen Männern in der Altersgruppe zwischen 30 und 40 befindet sich etwa jeder Zwölfte in Haft." Darüber hinaus stammen die Inhaftierten überproportional häufig aus der Gruppe der US-Bevölkerung, die von allen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes über die geringsten Mittel verfügt.

Der dramatische Anstieg der amerikanischen Häftlingszahlen und der extrem hohe Anteil an People of Color und einkommensschwachen Menschen ist eine relativ neue Entwicklung. Tatsächlich zeigt sich diese Schieflage der USA im Vergleich zu anderen Ländern erst seit den 1980er Jahren. Das komplette Ausmaß des Schadens, den derart hohe Inhaftierungsraten verursachen, wurde noch später erst ersichtlich – und war dann alarmierend: In manchen Vierteln war ein Großteil der männlichen Bewohner im Gefängnis. Zahllose Kinder wurden durch die Inhaftierung von Familienmitgliedern noch ärmer oder praktisch zu Waisen. Die massenhafte Inhaftierung verschärfte zudem die Krise in der Gesundheitsversorgung und viele weitere Probleme.

Mit dem wachsenden Wissen über die Kosten dieser Entwicklung ist im vergangenen Jahrzehnt der Druck auf Entscheidungsträgerinnen und Politiker gestiegen, das amerikanische Strafrechtssystem zu reformieren. Es gab sogar einige Änderungen zumindest mit Blick auf die Höhe und Anzahl der Haftstrafen sowie mit Blick auf Drogendelikte. Im Vergleich zur Situation zu Beginn der 1970er Jahre, also vor dem massiven Anstieg der Häftlingszahlen, fällt die Veränderung jedoch kaum ins Gewicht.

Erklärungsstränge

Das amerikanische Gefängnissystem gilt aus europäischer Sicht als eine Art Sonderfall. In Deutschland beispielsweise befinden sich gerade einmal rund 58000 Personen im Gefängnis, was einer Inhaftierungsrate von 70 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner entspricht. Und das ist nur der Anfang einer langen Reihe von Unterschieden im Umgang mit Verbrechen und Strafen. Deutsche wie Amerikaner, die sich mit den Justizsystemen beider Länder auseinandergesetzt und diese auch besucht haben, sind sich einig, dass die Haftstrafen für Verurteilte ebenso wie der Betrieb der Gefängnisse an sich in Deutschland deutlich logischer, humaner und effektiver ist.

Viele gehen davon aus, dass die extrem hohen Inhaftierungsraten und die brutale Gefängniskultur in den USA auf das hohe Maß an Gewalt – vor allem Waffengewalt – im Land zurückzuführen sind. Im Vergleich zu bestimmten europäischen Ländern steckt darin natürlich eine gewisse Wahrheit. Dennoch lässt sich die hohe Inhaftierungsrate in den USA bei Weitem nicht nur mit der Kriminalitätsrate erklären. Tatsächlich haben sich die Kriminalitäts- und Inhaftierungsrate in den USA im Laufe der Zeit immer weiter auseinanderentwickelt, wie eine umfassende Studie der National Academy of Sciences zum Zusammenhang von Kriminalität und Masseninhaftierung schlüssig belegt.

Eine weitere weit verbreitete Annahme lautet, die Masseninhaftierung hänge damit zusammen, dass in den USA Menschen über Jahrhunderte versklavt wurden. Die Wurzeln und Logik der Masseninhaftierung seien damit "uramerikanisch". Tatsächlich spricht einiges dafür, dass das heutige amerikanische Justizsystem eng mit der amerikanischen Geschichte verbunden ist. Allerdings ist die Realität wesentlich komplizierter, und die Auswirkungen sind auch für Menschen außerhalb der USA alarmierender, als man vielleicht annehmen würde. Angefangen bei der Eroberung des nordamerikanischen Kontinents, über die Kolonialzeit und bis ins 19., 20. und 21. Jahrhundert profitierten Landbesitzer und Großindustrielle von der Arbeit der Versklavten, von Heimarbeit und der Ausbeutung der Industriearbeiter. Die Kriminalisierung der Armen und der People of Color war dabei ein bewährter Mechanismus für die Reichen und Weißen, Macht zu erlangen und zu bewahren in einem Land, aus dem schließlich die Vereinigten Staaten wurden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass weder der Mechanismus noch seine Begründung an eine bestimmte Zeit oder einen konkreten Ort gebunden waren.

Die Geschichte der Unterdrückung der People of Color reicht weiter zurück als die Sklavenhaltung, die in den USA bis 1865 erlaubt war. Bereits weiße Entdeckungsreisende und Siedler vertrieben die Ureinwohner von ihrem angestammten Land. Allerdings wurde die vollständige Kontrolle über die sogenannten Indianer, souveräne indigene Völker, letzten Endes nicht mit Waffengewalt erreicht, sondern durch ihre Kriminalisierung – indem man sie als "Wilde" einstufte, in Reservate zwang und ihre Kinder in Internate verschleppte, bei denen es sich im Grunde um Haftanstalten handelte.

Dazu kommt ein weiterer wichtiger Faktor: In der Zeit, in der sich die Sklavenhaltung und Plantagenwirtschaft zu zentralen Bestandteilen der amerikanischen Kolonialwirtschaft entwickelten, wurden häufig Handlungen kriminalisiert, die mit der sozioökonomischen Stellung der Akteure zusammenhingen. Ob die weißen Siedler oder später, nach der Amerikanischen Revolution, Bürger nun in den ersten Gefängnissen der Nation landeten, weil sie es gewagt hatten, zu streiken, oder schlicht, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten: Die Geschichte zeigt, dass es bei der Strafverfolgung immer auch darum ging, nicht nur die zu belangen, die Schaden anrichteten, sondern auch diejenigen, die Machtverhältnisse infrage stellten.

Macht und Race

Die Ausübung von Macht war in den Vereinigten Staaten schon immer mit der Race-Frage verbunden. Dass das Land zuerst von indigenen Völkern besiedelt war und die Sklaverei bis 1865 der wirtschaftliche Motor des Landes war, hat das amerikanische Justizsystem dauerhaft geprägt. So, wie die Ansprüche der Weißen auf die Nation und ihre Ressourcen durch zutiefst rassistische Vorstellungen von den Ureinwohnern als "Wilde" untermauert wurden, die unfähig zu staatlicher Organisation wären oder dazu, ihren Besitz selbst zu verwalten, stützte man sich auch immer auf Argumente wie die, dass Schwarze ein "abweichendes Verhalten" an den Tag legen oder "von Natur aus" zu Kriminalität neigen würden. Sklaven wurden wieder und wieder als sexuelle "Rohlinge" dargestellt, die weißen Frauen nachstellten, wenn sie nicht kontrolliert und gebändigt wurden, und die stehlen würden, wenn man sie nicht beaufsichtigte. Wie der Historiker Khalil Gibran Muhammad herausgearbeitet hat, wurde Schwarzsein in Amerika immer als kriminell markiert.

Auch nach der Abschaffung der Sklaverei waren reiche Weiße zur Erhaltung ihres bisherigen Wohlstands auf billige Arbeitskräfte angewiesen. Zur Sicherung ihres Reichtums setzten sie auf Kriminalisierung. Es ist kein Zufall, dass die gut situierten weißen Autoren des 13. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit um die Ausnahmeregelung ergänzten, dass die Bestrafung eines Verbrechens davon ausgenommen sei. Damit hatten sie eine Möglichkeit geschaffen, die Versklavung der afroamerikanischen Bevölkerung weitere hundert Jahre fortzusetzen. Später wurden weitere Gesetze verabschiedet, die praktisch alles kriminalisierten, was Befreite tun konnten. "Aufgrund der neu verabschiedeten Gesetze, die auf die befreiten Schwarzen zielten, und der bereits bestehenden Gesetze, die nun mit besonderer Härte gegen die befreiten Schwarzen angewandt wurden, sowie aufgrund legaler und illegaler Anstrengungen der weißen Bevölkerung in den Südstaaten, das Verhalten der Schwarzen und deren Bereiche zu kontrollieren, stieg innerhalb von nur einer Generation nach der Abschaffung der Sklaverei der Anteil Schwarzer Häftlinge in den Gefängnissen auf 30 Prozent."

Dass die Belegung der amerikanischen Gefängnisse nach dem Bürgerkrieg innerhalb von wenigen Jahrzehnten von mehrheitlich weiß zu mehrheitlich Schwarz wechselte, hatte nichts mit der Kriminalität der Inhaftierten zu tun, aber sehr viel mit den Bedürfnissen derjenigen, die im Land das Sagen hatten. Obwohl sich die Konturen und Details in den folgenden Jahren und in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder änderten, in denen die Kriminalitäts- und Inhaftierungsrate schwankten und bezeichnenderweise keine Korrelation aufwiesen, bestimmte die Kriminalisierung des Schwarzseins, von Armut und allen potenziellen Bedrohungen der bestehenden Machtverhältnisse weiterhin darüber, wer in Amerika hinter Gitter kam und wer nicht.

Eine wesentliche Rolle spielte dabei auch die Polizei. In den 1960er Jahren war die Überwachung und Gängelung der Schwarzen Bürgerinnen und Bürger durch die Polizei so eklatant geworden und ihre überproportionale Inhaftierung so deutlich, dass die Bürgerrechtsbewegung enorm an Boden gewann und die weiße Autorität mehr denn je infrage gestellt wurde. Infolge der landesweiten Proteste und Aktionen wurden zwischen 1954 und 1972 viele Gesetze grundlegend überarbeitet, weiße Privilegien überprüft und Maßnahmen zur Chancengleichheit erweitert. Und weil die Bürgerrechtsbewegung auch das Engagement für sozial Benachteiligte und eine Sozialrechtsbewegung sowie weitere Bewegungen in Gang gebracht hatte, die sich für mehr wirtschaftliche Gerechtigkeit einsetzten, wurden die Vorrechte der Wohlhabenden in einem noch nie dagewesenen Maße hinterfragt. Die weiße Elite Amerikas und die Privilegien der weißen Bevölkerung waren stärker herausgefordert als je zuvor in der Geschichte der USA.

Bei der Reaktion auf diese Bedrohung griff man auf eine altbekannte und bewährte Strategie zurück: Kriminalisierung aufgrund von Klassenzugehörigkeit und Hautfarbe. Obwohl die People of Color, die in den 1960er Jahren in Städten wie Philadelphia, Newark, Detroit, Watts oder Rochester auf die Straße gingen, ganz klar gegen die Schikanen und Brutalität der Polizei protestierten, die sie so lange erduldet hatten, und sich gegen eine unverhältnismäßige Inhaftierung wandten, wurden ihre Proteste von weißen Politikern als irrationale und bedrohliche Unruhen dargestellt, als Randale von Schlägern und Kriminellen, die die Lebensweise der Weißen und die Demokratie zerstören wollten. In einer mehr oder weniger offen rassistischen Sprache wurde den weißen Wählerinnen und Wählern vermittelt, der einzige Ausweg sei ein "hartes Durchgreifen" gegen "diese Kriminellen". Man müsse die Polizei stärken und für Ordnung sorgen.

Innerhalb eines Jahrzehnts schnellten die Inhaftierungsraten in den USA in die Höhe. Der sogenannte war on crime erinnerte an die Gegenreaktion auf die Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung direkt nach dem Bürgerkrieg. People of Color wurden in einer Art und Weise kriminalisiert, die bei Weißen nicht vorkam. In der Zeit nach der Bürgerrechtsära nutzte man dafür den sogenannten war on drugs, eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfung der Drogenkriminalität. Während es 1970 gerade einmal 322.300 Verhaftungen im Zusammenhang mit Drogendelikten gegeben hatte, waren es im Jahr 2000 beeindruckende 1.375.600. Entsprechend verbüßte die Mehrheit der Inhaftierten in amerikanischen Gefängnissen im Jahr 2010 eine Haftstrafe aufgrund von Drogendelikten, weniger als 10 Prozent saßen wegen Gewaltverbrechen ein. Ironischerweise begann der war on crime deutlich vor dem massiven Anstieg der Gewaltverbrechen im Land, doch die hohen Gefangenenzahlen führten schließlich zu einer echten Kriminalitätskrise in den Innenstadtbezirken, die ohnehin besonders verwundbar waren.

Die Vereinigten Staaten als Mahnung

Das außerordentliche Trauma, das durch die Masseninhaftierung in den ohnehin schon marginalisierten und verletzlichen Teilen der amerikanischen Gesellschaft entstanden ist – die sozialen Verwerfungen, der Schaden für die Kinder, die enormen Ressourcen, die nicht in Schulen und Stadtviertel investiert werden, die Krankheiten, die mit der Masseninhaftierung verbundene Gewalt, die Arbeitslosigkeit, die Verzweiflung und die fehlende Sicherheit – sollte jeden in Europa veranlassen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie es überhaupt zu einer derartigen Situation kommen konnte. Welchen Preis die sozial Benachteiligten und darunter vor allem die People of Color in den USA für die Politik der Masseninhaftierung zahlen, lässt sich nur schwer in Zahlen bemessen. Es ist ein exponentiell wachsender Preis, der über Generationen weitergegeben wird und sich noch immer summiert.

Daher sollten sich auch andere Länder mit der Masseninhaftierung in den USA und ihrer Geschichte befassen, denn es wäre naiv, sich beruhigt zurückzulehnen in dem Glauben, dass die Situation im eigenen Land eine andere sei. Die Geschichte der Masseninhaftierung ist keine Geschichte der regionalen Verhältnisse, sondern eine der Macht, und aus dieser Geschichte sollte man seine Lehren ziehen. Die Krise in der amerikanischen Strafverfolgung widerspricht jeder Vorstellung, dass die Zahl der Gefängnisse in irgendeinem objektiven Verhältnis zur Kriminalitätsrate steht. Dass in amerikanischen Gefängnissen oder Haftanstalten überproportional viele People of Color einsitzen, sagt absolut nichts über ihre kriminelle Neigung aus. Das gilt auch für die unverhältnismäßig hohe Zahl von Häftlingen aus sozial benachteiligten Verhältnissen im Vergleich zu Häftlingen mit Geld und Einfluss.

Die Größe des amerikanischen Gefängnissystems sowie die rassistisch und klassistisch bedingte Disproportionalität bei der Masseninhaftierung lassen kaum Rückschlüsse auf "Verbrechen" und "Strafe" im traditionellen Wortsinn zu, verweisen aber auf das Ausmaß und die Intensität der von der weißen Elite wahrgenommenen Bedrohung seit den 1960er Jahren. Sie sagen viel über die Vorstellungen von einer von People of Color ausgehenden Kriminalität aus sowie darüber, dass man den Armen keinen Wert beimisst, aber kaum etwas darüber, wer der amerikanischen Gesellschaft tatsächlich schadet.

Nur weil in deutschen Gefängnissen keine zwei Millionen Häftlinge einsitzen, heißt das nicht, dass eine Entwicklung wie in den USA unmöglich ist. Wenn in einer Gesellschaft überproportional viel von "öffentlicher Sicherheit", "Recht und Ordnung" oder "wir müssen unsere Bürger vor Einwanderung schützen" die Rede ist, aber in Wirklichkeit ein Prozess der Kriminalisierung im Gang ist, bei dem sozial Benachteiligte oder People of Color nicht als vollwertige Bürgerinnen und Bürger gesehen, sondern als Bedrohung dargestellt werden, dann ist das eine Entwicklung, die durchaus außer Kontrolle geraten kann. Das Beispiel der USA in den vergangenen Jahrzehnten zeigt, dass diese Entwicklung unbedingt vermieden werden sollte.

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Heike Schlatterer, Pforzheim.

ist Professorin für Geschichte an der University of Michigan und Autorin von "Blood in the Water: the Attica Prison Uprising of 1971 and Its Legacy", für das sie 2017 den Pulitzer-Preis in der Kategorie Geschichte erhielt.
E-Mail Link: hthompsn@umich.edu