In Deutschland befanden sich 2020 rund 58.000 Menschen in Haft, das entspricht 70 Gefangenen auf 100.000 Einwohner.
Diese Zahlen machen deutlich, dass das Gefängnis überall auf der Welt ein zentrales Strafmittel ist. Oft ist es sogar das wichtigste überhaupt – zumindest, wenn man von den Geldstrafen absieht, die zwar vielerorts den Löwenanteil aller von Strafgerichten ausgesprochenen Sanktionen ausmachen, aber ebenfalls dazu beitragen, die Haftanstalten mit Insassen zu füllen, nämlich dann, wenn Verurteilte nicht in der Lage sind, sie zu bezahlen. Eine solche Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen in Deutschland aktuell etwa zehn Prozent aller in den Justizvollzugsanstalten einsitzenden Menschen.
Das Gefängnis als Institution ist eine globale Erfolgsgeschichte. Wie lässt sich das erklären? Lange Zeit galt die Strafhaft als eine rein westliche Erfindung. Zur Welt gekommen ist sie, so die herkömmliche Interpretation vieler Historikerinnen und Historiker, in den strafpolitischen Debatten der Aufklärung und den nachfolgenden Bestrebungen zur Reform des traditionellen Strafvollzugs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre anschließende Verbreitung erfolgte im Rahmen eines umfassenden Diffusionsprozesses, zum Beispiel im Rahmen kolonialer Eroberungen. Diese Perspektive wird heute allerdings mehr und mehr infrage gestellt, wobei sich die Forschung insbesondere in zwei Richtungen neu ausrichtet: Zum einen interessiert sie sich verstärkt für eine Genealogie des Gefängnisses, die nach dessen Wurzeln in früheren Epochen der Geschichte fragt und den Blick über reine Formen der Strafhaft hinaus auf eine Reihe von Praktiken der Einsperrung lenkt, die in verschiedenen institutionellen Kontexten stattfanden und unterschiedlichen Zwecken dienten. Zum anderen kommen zunehmend außereuropäische Traditionslinien der Haft in den Blick, wie sie sowohl in kolonialen als auch in vorkolonialen Gesellschaften sichtbar werden. Insgesamt entsteht so ein erheblich vielfältigeres Bild, das die Ursprünge der Gefängnisstrafe chronologisch wie geografisch auffächert.
Verzweigte Genealogie
Zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum intensiver mit der Geschichte des Gefängnisses auseinandergesetzt haben sich Rechtshistoriker in den Jahren um 1900. Ihre Perspektive war in erster Linie ideen- und institutionengeschichtlich geprägt, denn sie interessierten sich vor allem für die Herkunft des sogenannten Besserungsstrafvollzugs, der im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zum vorherrschenden Paradigma des Umgangs mit Straftäterinnen und Straftätern geworden war. Zwei Interpretationen befanden sich dabei miteinander im Wettstreit: Für Gotthold Bohne ließ sich das Prinzip "Strafe durch Besserung" bis in die spätmittelalterlichen Städte Norditaliens zurückverfolgen, wo es seit dem 12. Jahrhundert bereits zahlreiche Gefängnisse gegeben hatte.
Diese letzte Sicht blieb in der Geschichtswissenschaft lange Zeit vorherrschend. Erst in den vergangenen Jahren haben die städtischen Kerker von Siena, Florenz, Bologna oder Venedig neue Aufmerksamkeit erfahren, zum Beispiel bei Guy Geltner, der aufgezeigt hat, dass diese seit dem 13. Jahrhundert nicht nur als Untersuchungsgefängnisse dienten, sondern auch zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen genutzt wurden.
Die "Geburt des Gefängnisses" in die Jahrzehnte um 1800 verlagert, hat vor allem die sogenannte revisionistische Geschichtsschreibung, die in den 1970er Jahren einsetzte. Sie wird so genannt, weil sich ihre Vertreterinnen und Vertreter – allen voran Michel Foucault, aber auch David Rothman, Pierre Deyon, Michael Ignatieff oder Michelle Perrot – vehement gegen die älteren Interpretationen der Rechtsgeschichte wandten, für die das Gefängnis ein Zeichen des Fortschritts und der Humanisierung des Strafens gewesen war.
Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Institutionen der Einsperrung hingegen gerieten nun weitgehend aus dem Blick. Das konnte bis zu der Behauptung reichen, im Ancien Régime habe es überhaupt keine Freiheitsstrafen gegeben.
Daneben erfuhr das Feld der Gefängnisgeschichte wichtige Erweiterungen durch Untersuchungen, die sich mit der Geschichte der Armenfürsorge auseinandersetzten. Diese nahm in der Frühen Neuzeit immer stärker institutionelle Züge an, zu denen auch die Einsperrung von Bettlern, Vaganten und anderen Angehörigen gesellschaftlicher Randgruppen gehörte, die in Zuchthäuser und vergleichbare Anstalten gebracht und dort zur Arbeit gezwungen wurden.
Insbesondere die "Wahlverwandtschaft"
Geografische Verortung
Anders als noch vor 30 Jahren geht die Forschung aktuell also nicht mehr davon aus, dass es nur eine Geschichte des Gefängnisses gibt. Vielmehr existieren viele verschiedene Stränge, die sich im Laufe der Jahrhunderte miteinander verflochten und im Endergebnis die moderne Freiheitsstrafe hervorgebracht haben. Offen muss hingegen im Moment die Frage bleiben, wie die Ursprünge des Gefängnisses geografisch zu verorten sind. Die außereuropäischen Räume der Welt gehören nach wie vor zu den eher seltenen Terrains der Gefängnisgeschichte – auch wenn selbst in diesem Bereich Veränderungen spürbar sind.
So ist in den vergangenen Jahren vor allem die sogenannte diffusionistische Perspektive unter Druck geraten, die davon ausgeht, dass die Gefängnisstrafe von Westeuropa und Nordamerika aus ihren Siegeszug über den Globus angetreten habe. Ohne Zweifel wurden Gefängnisse in zahlreichen Regionen als Teil einer kolonialen Herrschaftsarchitektur von westlichen Kolonialmächten eingeführt, etwa in vielen Ländern Afrikas, wie eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Florence Bernault festgestellt hat. In Angola zum Beispiel trat die Haft in einer institutionalisierten Gestalt zuerst am Ende des 15. Jahrhunderts im Zuge der Gründung portugiesischer Handelsniederlassungen auf. Sie diente einerseits zur Inhaftierung von Kriminellen, meist Portugiesen, die zu einer Verbannungsstrafe verurteilt worden waren, andererseits aber auch dazu, Sklaven festzusetzen. Als Orte für solche Praktiken der Einsperrung fungierten häufig militärische Anlagen wie Forte oder Festungen, aber auch "zivile" Gefängnisse in den Städten – meist einfache Räume in Lagerhäusern oder Verwaltungssitzen – lassen sich nachweisen. Weiße und schwarze Gefangene wurden hier in der Regel gemeinsam verwahrt.
In Indochina hingegen, das zeigen die Arbeiten von Peter Zinoman, hat sich das moderne Gefängnis aus dem Modell des Kriegsgefangenenlagers heraus entwickelt. Es spielte dort eine ausschließlich repressive Rolle als ein gegen die einheimische Bevölkerung gerichtetes Disziplinierungsinstrument, das nach 1850 von den französischen Kolonisatoren im Dienst eines rassistischen Unterdrückungsapparats eingeführt wurde.
Ganz anders in China: Wie Frank Dikötter dargestellt hat, war die Herausbildung von modernen Haftanstalten dort auch von der konfuzianischen Erziehungsauffassung motiviert. Die an westlichen Modellen orientierte Bewegung einer Reform der chinesischen Gesellschaft führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Errichtung einer Reihe neuer Gefängnisse. Zwar folgten diese okzidentalen Vorbildern, lassen sich aber nicht als bloße Imitationen und Ergebnisse eines reinen Imports von Ideen verstehen. Die Durchsetzung eines auf dem Prinzip der Besserung der Gefangenen beruhenden Modells der Strafhaft war in China einerseits Teil einer globalen Reformbewegung, andererseits aber auch Teil einer "lokalen Neuausprägung des traditionellen Glaubens an die verändernde Kraft von Erziehung".
Andere Historikerinnen und Historiker gehen noch weiter und weisen nach, dass Praktiken der Einsperrung in einigen Ländern außerhalb Europas auch jenseits eines kolonialen Kontextes existierten und auf eigenständigen Traditionen beruhen. In Japan, so Daniel Botsman, gab es bereits im 17. Jahrhundert regelrechte Gefängniskomplexe. Der bekannteste von ihnen war die Tokioter Anlage von Kodenmacho, die – wie manche europäische Gefängnisse auch, etwa The Fleet in London
Das Gefängnis als eine rein "westliche" Erfindung anzusehen, fällt deshalb immer schwerer. Allerdings liegen nur wenige Untersuchungen zu außereuropäischen Räumen vor. Auch behandeln diese die Geschichte der Strafhaft und anderer Formen der Einsperrung oft als einen Nebenaspekt. Ob es so etwas wie eine "globale" Existenz des Gefängnisses vor dem 19. Jahrhundert gegeben hat, bleibt deshalb bis auf Weiteres offen. Fest steht lediglich, dass es auch in anderen Teilen der Welt vielfältige Formen der Einsperrung gegeben hat, die sich von denen im Europa des Ancien Régime kaum unterschieden. Carlos Aguirre weist etwa auf eine Reihe von Haftorten im kolonialen Lateinamerika hin: "Inquisitionsgefängnisse und Stadttore, Militär- und Polizeiwachen, religiöse Zufluchtsorte für mittellose Frauen und privat betriebene Haftanstalten wie Bäckereien oder Textilmanufakturen, wo Sklaven und Kriminelle eingesperrt und zur Arbeit gezwungen wurden, oder Torbauten von ländlichen Haciendas und Plantagen, wo man widerspenstige Arbeiter züchtigte."
Neue Erkenntnisse lassen sich deshalb insbesondere von der Geschichte kolonialer Herrschaftspraktiken erwarten, dienten die Formen der Machtausübung in den Kolonien doch nicht selten als eine Art von Laboratorium für die Art des Herrschens in den Metropolen. Bereits die ersten Zuchthäuser auf europäischem Boden entstanden nicht zufällig in Regionen wie den Niederlanden und England, die intensiv in den Welthandel eingebunden und Drehscheiben der "ersten Globalisierung" waren. In einer 1587 erschienenen Schrift diskutierte etwa Dirk Coornhert, der Stadtschreiber von Haarlem und Gouda, die Vor- und Nachteile von Galeerenstrafe, Zwangsarbeit und Einsperrung – seine Schrift gilt als einer der Auslöser für die wenige Jahre später erfolgte Gründung des ersten Zuchthauses in Amsterdam.
Auch die Gefängnisreform des 19. Jahrhunderts, das zeigen aktuelle Forschungen von Stephan Scheuzger, verlief nicht nur im Rahmen eines vermeintlich ausschließlich vom Westen ausgehenden globalen Modernisierungsprozesses.
Schluss
Das moderne Gefängnis kam nicht in England, Frankreich und den USA zur Welt, um sich anschließend als Idee und konkrete Praxis über den Erdball zu verbreiten, sondern es entstand im Rahmen eines globalen Austauschprozesses, der sich mit dem traditionellen Modell eines Wissenstransfers zwischen einem Zentrum und seinen Peripherien nicht adäquat erfassen lässt. Die Freiheitsstrafe, wie wir sie heute kennen, war im 19. Jahrhundert das Kind einer globalen Verflechtung, die insbesondere auch lateinamerikanische und asiatische Räume einbezog. Diese globale Dimension des Gefängnisses im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigt sich nicht zuletzt an den internationalen Gefängniskongressen, die immer stärker auch von Vertretern aus Brasilien, Chile, Argentinien, Mexiko, Japan, China, Indien oder der Türkei besucht wurden.
Diesem Rückfall in die nationale Engstirnigkeit kann die Beschäftigung mit der Geschichte der Einsperrung etwas entgegensetzen. Die Erforschung von Vergangenheit und Gegenwart des Gefängnisses war lange von Denkmodellen dominiert, die westlich ausgerichtet und von den Erfahrungen dessen geprägt sind, was man gemeinhin "die Moderne" nennt. Heute hingegen trägt sie dazu bei, uns bewusst zu machen, dass die Freiheitsstrafe viele Ursprünge hat und nicht nur im Westen zur Welt gekommen ist.