Migration als existenzielle Krise in der Anfangsphase
In den 1990er und Anfang der 2000er Jahre migrierten zehntausende sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland. Denn als ethnisch und religiös unterdrückte Minderheit in der Interner Link: Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde es Jüdinnen und Juden ermöglicht, nach dem sogenannten Kontingentflüchtlingsgesetz eine Zuflucht in Deutschland zu suchen. Die Aufnahme jüdischer Kontingentflüchtlinge hatte aber auch durchaus zum Zweck, jüdisches Leben nach der Shoah als Akt der Versöhnung in Deutschland wiederzubeleben.
Mit ihrer Ankunft mussten sie zunächst einmal neue soziale, psychologische, materielle und religiöse Ressourcen mobilisieren. Die einen, um die mit der Migration verbundenen Krisen zu bewältigen; die anderen, um den neuen Anforderungen im Aufnahmeland gerecht zu werden; wiederum jene, die ihre Stellung neu definierten und weiterentwickelten sowie andere, die ihre kulturellen Wahrnehmungen überdenken und neujustieren mussten. Der Migrationsprozess als Ganzes verursachte oft Schwierigkeiten im alltäglichen Leben: so z.B. existenzielle Unsicherheiten, Identitätsveränderungen, oder Diskrepanzen zwischen der Selbstwahrnehmung als Individuum/Gruppe und der Fremdwahrnehmung in der Aufnahmegesellschaft. Dabei wurden vor allem Normativitäten infrage gestellt. Auf der einen Seite wird Vielfalt in Deutschland, insbesondere in bestimmten Settings , mittlerweile durchaus positiv konnotiert. Auf der anderen Seite bestand und besteht nach wie vor der an den Lebensentwürfen der Mehrheit bemessene "Druck des Normalseinmüssens“ . In der Folge wurden die russischsprachigen Juden und Jüdinnen nach ihrer Einreise mit ganz unterschiedlichen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich daraus ergaben, dass sie nun im kapitalistischen Westen und damit in einem ganz neuen Gesellschaftssystem lebten.
Dessen "Nachteile“ wurden ihnen zwar stets in der Interner Link: Sowjetunion vorgetragen, aber von dessen Praxis hatten sie sich doch keine Vorstellung machen können. Ihr Alltag wurde nun von einem anderen politischen, ökonomischen und kulturellen System, mit ökonomischem Überfluss (der Ohnmacht und Überforderung auslöste) sowie anderen Sprach-, Denk- und Verhaltensmustern bestimmt. Exemplarisch dafür steht das Verhältnis der Arbeitswelt zur Alltagsorganisation und Lebensführung. In der Arbeitswelt gab es Phänomene wie Selbstvermarktung im Beruf, ein ganz anderes Arbeitsrecht oder gesetzlich geregelte Arbeitsverhältnisse, Teilzeitjobs, unterschiedliche Steuerklassen ("wir wussten nicht, was Brutto ist“ , so eine Interviewpartnerin, IP ), ein komplexes Versicherungssystem (mit/ohne Selbstbeteiligung). Die Ausbildung fußte auf einem dreigliedrigen Schulsystem, einer dualen Berufsausbildung und im tertiären Bereich auf anderen Studienfächern und auf einem an Selbstständigkeit orientierten Studienleben. Die IP berichten von einer ganzen Reihe an gewöhnungsbedürftigen Aspekten des neuen Lebens: "Ein Konto zu haben und nicht das Geld in die Hand zu bekommen gegen eine Unterschrift, wie es in der Sowjetunion gewesen ist“; die neuen Begriffe "Geld machen“ und "Geld aufbewahren“ zu verinnerlichen und zum Beispiel Geld in Altersvorsorge zu investieren; oder vergleichsweise viel einfacher vor Gericht ziehen zu können. Andere IP wiederum sprachen über Veränderungen des Zeitgefühls: "Ich war sicher, Zeit kann man doch nicht planen“; "pünktlich (und nicht plus minus 15 Minuten) auf der Arbeit erscheinen zu müssen“; Begriffe zu lernen wie "Zeitmanagement“, "Jahres- und Urlaubsplanung“; immer alles weit im Voraus festzulegen, "Zeit terminieren“; "dass die Buspläne an der Haltestelle hängen, und dass das tatsächlich etwas bedeutet und Menschen sich danach richten, anstatt nach der Arbeit (oft unerwartet) für Lebensmittel in einer Schlange zu stehen und gar nicht zu wissen, wann man nach Hause kommt“; "einen Termin für den Besuch vereinbaren“ zu müssen und nie mehr mit der gewöhnlichen Situation konfrontiert zu sein, dass "du nach der Arbeit nach Hause kommst und da sind unangekündigte Gäste, die bereits auf dich warten“. Auch der individualisierte Wunsch, eine "eigene Privatsphäre“ zu haben, kollidierte bei Vielen mit ihren einst gewohnten engen Wohnverhältnissen; ebenso kultivierte Gastfreundschaft und häufige Besuche mit prächtig aufgetragenen Tischen als Teil sozialer Interaktionen. So berichtet ein IP: "Viele Jahre habe ich gar nicht verstanden, wenn jemand hier sagte: ‚Ich muss mich zurückziehen, ich brauche meine Ruhe‘, weil für mich auch alles ruhig und schön war, wenn meine Eltern oder Freunde manchmal für mehrere Tage zu Besuch bei mir in der Wohnung waren. Ich war es gewohnt, dass viele Menschen zusammen sind“. Eine andere IP berichtet über ihre Irritation bei der Rückfrage des eingeladenen Besuchers: "Muss ich schon gegessen haben, wenn ich zu Dir komme?“, denn sie war es gewohnt, jeden, auch unangekündigten Gast immer und ungefragt (unabhängig von der finanziellen Lage) zu bewirten. Insbesondere für Erwachsene war es schwer, einerseits nicht aufzufallen und angemessen auf derartige soziale Normen adäquat zu (re-)agieren, andererseits aber den Raum für die eigene Biographie und Persönlichkeit zu beanspruchen, da sein zu dürfen und zu agieren, "so wie Du wirklich bist“. Und schließlich war eine der größten Herausforderungen im Migrationsprozess, trotz akademischer Abschlüsse ohne ökonomisches Kapital einzuwandern und sich oft am unteren Ende der sozialen Hierarchie wiederzufinden. Ihre erworbenen Kompetenzen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen sowie ihr ‚ehemaliger‘ sozialer Status wurden oft nicht anerkannt. Die Kluft zwischen dem Selbstbild und der ihnen nun zugewiesenen gesellschaftlichen Position war besonders für ältere Menschen schwer zu überwinden.
Sprachschwierigkeiten in Alltag und Kultur
Viele begleitet eine Sprachlosigkeit im weiteren Sinne: die Angst, Fragen zu stellen; die Angst, wenn das Telefon klingelt; die Angst, falsch zu reagieren. Oder die Angst als Jude oder Jüdin inadäquat auf z.B. folgende Frage (einer Deutschlehrerin im Sprachkurs) zu antworten: "Warum sind Sie nach Deutschland gekommen? Wir freuen uns natürlich, aber ich kann es mir sehr schwer vorstellen. Fühlen Sie kein Mitleid gegenüber Ihren, im Holocaust umgekommenen Verwandten?“ Ein anderer, mit einer ähnlichen Frage konfrontierter IP berichtet bzgl. der Migration ins Land der Täter und der darin implizierten Erwartung, Auskunft über tiefste familiäre Leiderfahrungen zu geben bzw. sich als integer zu rechtfertigen: "Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte, aber ich habe auch gesehen, dass sie es nicht böse meinte, sondern wirklich gar nicht verstand. Ich wurde einfach stumm“ . Mit Blick auf die Sprachlosigkeit und mithin auf Sprachschwierigkeiten ist eine weitere Dimension zu erwähnen: Denn so, wie Sprache auch die Intellektualität und soziokulturelle Schicht widerspiegelt, so fiel es jenen, die sich in ihrer Muttersprache elaboriert und gewählt ausdrücken konnten umso schwerer, sich nur mit einem rudimentären Deutschwortschatz ihrem Selbstbild und ihren Erwartungen an sich selbst entsprechend verständigen zu können. Schwer fällt es auch, unausgesprochene gesellschaftlich tabuisierte Themen und Ausdrücke wahrzunehmen und zu lernen, "worüber man lieber in der Öffentlichkeit schweigen sollte“, Beamtensprache zu verstehen, Witze komisch zu übersetzen und nicht zuletzt zu erkennen, oft nicht einfach "normal“ mitlachen zu können.
"Die Russen sind da!“
Viele wurden, fast 50 Jahre nach dem Krieg, mit stigmatisierenden, auf den Krieg bezogenen Ausdrücken konfrontiert, wie z.B. "Die Russen sind da!“ oder "Polen ist offen“. Das erzeugte bei jüdischen Menschen aus der Sowjetunion als Siegermacht im Land der Shoah einen doppelten Konflikt: denn in vielen Familien hatten Soldaten gekämpft, die zum Teil gefallen waren, oder es wurden Familienmitglieder ermordet und Opfer der Shoah. Eine IP, die selbst Shoah-Überlebende ist und zur Gruppe der sogenannten jüdischen Kinderüberlebenden (Child Survivors) gehört, berichtet von einer Erfahrung aus ihrem Sprachunterricht: "Die Deutschlehrerin sagte uns, ihre Mutter sei ganz irritiert gewesen, als sie hörte, dass ihre Tochter ‚Russen‘ unterrichtet: ‚Das sind ja die, die Vergewaltiger!‘ Und dann war es still. Und ich sagte daraufhin: Wissen Sie, wenn ich in der Nacht schweißgebadet in Panik aufwache, weil auf der Straße jemand Deutsch redet und mein Fenster offen ist, brauche ich eine Weile, um zu begreifen, wo ich bin und, dass alles in Ordnung ist. Die Lehrerin hat dieses Thema nie wieder berührt.“
Vielleicht hatte man in der deutschen Bevölkerung Shoah-Überlebende einerseits und jüdische Genies andererseits erwartet – und stattdessen waren in der medialen Darstellung und Alltagswahrnehmung "Russen“ gekommen.
Der ursprüngliche Stolz, einen kulturell europäischen Habitus zu besitzen, war durchaus ein Grund gewesen nach Deutschland und nicht nach Israel auszuwandern. Doch wurde diese Entscheidung angesichts der Erfahrungen rund um die Wahrnehmung der osteuropäischen Herkunft und einer geschichtlich tief verwurzelten Ost-West-Dichotomie infrage gestellt. Gleichzeitig schien diese Entscheidung von Zugewanderten rechtfertigungs- und erklärungsbedürftig: nämlich als Juden und Jüdinnen ausgerechnet nach Deutschland ausgewandert zu sein, wie eine IP es formulierte: "Du brauchst tausende Begründungen, hierher zu kommen und dann tausende Rechtfertigungen, hier zu bleiben.“
Wiederum wurden ökonomische Auswanderungsgründe in das Land der Täter von machen nicht-Juden als unpassend und gefühllos bzw. als zu pragmatisch bewertet. In diesem Zusammenhang sagte ein IP: "Ich möchte mir nichts Ideologisches mehr in meinem Leben anhören müssen. Wir hatten genug ‚ismen‘ in unserem Leben in der Sowjetunion, man sollte auch ein Recht haben, für sich zu leben“.
Annäherung an die eigene Identität
Eine erste Annährung an und Auseinandersetzungen mit der eigenen jüdischen Tradition, Religion und Geschichte begann nach der Interner Link: Perestroika Mitte der 1980er Jahre und setzte sich dann in Deutschland fort. Hier gab es einen gewissen Spielraum für individuelle jüdische Identitäten. In der atheistischen Sowjetunion hingegen war jegliches Ausleben jüdischer Religion oder Tradition nicht gestattet. Gleichzeitig verstand man dort jüdische Zugehörigkeit als angeborene Nationalität, welche z.B. in offiziellen Formularen immer direkt nach dem Familiennamen und Geburtsdatum eingetragen wurde. Und dieser Eintrag hatte reale Nachteile angesichts eines institutionellen und alltäglichen Antisemitismus. Jüdische Zugehörigkeit wurde in erster Linie als historisch "schlechtes Schicksal“ interpretiert, oder "am falschen Ort in der falschen Haut“ geboren zu sein. Die absolute Mehrheit der russischsprachigen Juden und Jüdinnen konnte ihre jüdische Identität nur mit wenigen positiven Inhalten auffüllen und besaß kaum Kenntnisse bezüglich der Torah bzw. jüdischer Tradition. Neben die jahrzehntelange sowjetische Unterdrückung der jüdischen Religion, neben die alltäglichen Diskriminierungs- und Antisemitismuserfahrungen trat noch ein weiterer Aspekt: oft wurden ihnen ihre fehlenden Kenntnisse über jüdische Religion und Kultur sowie der verinnerlichte russisch-sowjetische Habitus in den Medien auch noch vorgehalten: als Beweis ihres Nicht-Wirklich-Jüdisch-Seins. Interessanterweise haben viele Menschen gerade durch die russischsprachige Renaissance des Judentums nach der Perestroika und über die russische Sprache einen Zugang zu ihren Wurzeln, der Torah und den Traditionen der Vorfahren (viele erst in Deutschland) gefunden – und pflegen diese bis heute intensiv auf Russisch.
Widersprüchlichkeiten russischsprachiger jüdischer Zuwanderung
Der Kennenlern- und Transformationsprozess in Deutschland hat sich alles andere als leicht erwiesen. Ein zentrales Problem war die lediglich gespürte Aufforderung, sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen oder zu integrieren – auch wenn dies nicht ausdrücklich vonseiten der Politik, Medien und Wissenschaften gefordert wurde. Gleichzeitig war der individuelle Wunsch vorhanden, mit dem eigenen Wissen, den mitgebrachten Vorstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen, aber auch mit allen Widersprüchlichkeiten und Schwierigkeiten in der neuen Gesellschaft akzeptiert und anerkannt zu werden. Für viele stellte sich dann Folgendes heraus: Man kommt in eine demokratische Gesellschaft, in der das Prinzip der Religionsfreiheit herrscht und auch den Idealbildern nach zu urteilen als Bereicherung zelebriert wird – um dann festzustellen, dass es schwierig sein kann Religiosität im Alltag offen auszuleben. Zuweilen wurde sichtbare Religiosität auch als ein Störfaktor für routinierte Abläufe in der Praxis gesehen. Konkret kommt das zum Beispiel zum Tragen, wenn junge Menschen jüdische Ruhe- oder Feiertage einhalten wollen und deshalb nicht in die Schule oder Universitäten kommen, an Samstagen nicht an Veranstaltungen teilnehmen, oder alternative Prüfungstermine verlangen, wenn diese mit jüdischen Feiertagen kollidieren. In einem Fall berichtet eine IP, dass die Grundschullehrerin ihrem Sohn nur zum kurzen Gebet vor dem Frühstück erlaubt habe, die Kippa aufzusetzen, denn normalerweise müssten "alle Kinder bei uns in der Schule ohne Kopfbedeckung laufen“ und wenn sie es ihm erlaube, "kommen dann auch die muslimischen Kinder fünf Mal am Tag mit ihren Teppichen“ .
Auch berichten russischsprachige jüdische IP, dass von ihnen geradezu erwartet wird, Israel zu kritisieren. Vor dem Hintergrund, in ein demokratisches Land mit seiner kultivierten und hochgeschätzten Meinungsfreiheit eingewandert zu sein, wirkt diese Verpflichtung auf eine uniforme Position und der Anspruch dergestalt in einen gemeinsamen Dialog zu treten irritierend. Das potenziert sich, wenn Juden und Jüdinnen in Deutschland, die oft weder Hebräisch sprechen noch die israelische Staatsbürgerschaft haben, als Vertreter bzw. Vertreterin Israels wahrgenommen werden. Viele werden sowohl im Alltag als auch in Interner Link: Institutionen stellvertretend für israelische Politik verantwortlich gemacht und verbal angefeindet. In der Regel werden israelbezogene Angriffe auch strafrechtlich nicht als Antisemitismus anerkannt bzw. bleiben ohne Konsequenzen.
"Besuchen Sie öfters Ihre Heimat?“ lautet eine weitere beklemmende Frage, die auch an russischsprachige Juden und Jüdinnen der zweiten Generation gestellt wird. Unabhängig davon, ob dabei Israel oder die Ukraine gemeint ist, werden im "Denken wie üblich“ nationale Begriffe wie "Heimat“ vorausgesetzt sowie die fehlende "deutsche Heimat“ suggeriert. Oft werden Loyalitätsgefühle zu Israel pauschal unterstellt – was selbst schon wieder einem typisch antisemitischen Denkmuster entspricht, insofern als Jüdinnen und Juden aus der Eigengruppe ausgeschlossen werden und ihnen gleichzeitig vorgeworfen wird, der Mehrheitsgesellschaft gegenüber nicht loyal sein zu können. Demgegenüber treffen tatsächliche, in der Biografie, in der Geschichte und den Erfahrungen mit Diskriminierung und Antisemitismus wurzelnde Loyalitätsgefühle gegenüber Israel auf große Skepsis, Abwehr und Kritik. Dies wird von den Betroffenen selbst als befremdend oder ausgrenzend erlebt.
Eine gewisse Kontinuität erleben viele im Vergleich zur ehemaligen Sowjetunion und Deutschland: so wurde der Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion von Vielen als Grund ihrer Auswanderung genannt. In Deutschland aber sehen sie sich abermals mit Antisemitismus konfrontiert, zunehmend auch mit offenen aggressiven sowie mit anderen Formen des Antisemitismus: etwa dem Post-Shoah bzw. Interner Link: sekundären Antisemitismus (Bsp.: Judensterne mit der Beschriftung "Nicht geimpft“ auf Interner Link: Querdenker-Demonstrationen), oder mit Interner Link: israelbezogenem Antisemitismus (etwa durch Plakate "Israel ist unser Unglück, Schluss damit“) .
Eine überraschende Erkenntnis für russischsprachige Juden und Jüdinnen wiederum war, dass sie selbst erst einmal im Deutschen lernen mussten, ohne Hemmungen und frei in der Öffentlichkeit das Wort "Jude“ auszusprechen, war dies doch im Russischen ("Yevrei“) ein stigmatisierendes Wort. Gleichzeitig bemerkten sie, dass viele Nichtjuden in Deutschland das Wort "Jude“ eher mit "jüdische Mitbürger“, "Menschen mosaischen Glaubens“, "Israeliten“ oder "Menschen anderer Religion“ zu umschreiben versuchten, oder aber das Wort "Jude“ nur vorsichtig über die Lippen brachten. Sie schienen eine Stigmatisierung dabei zu spüren oder fast Angst zu haben, sie damit beleidigen zu können. Dass das Wort "Jude“ sowohl im russischen als auch im deutschen Kontext als Schimpfwort wahrgenommen und verwendet werden kann, hatte Konsequenzen: Bei vielen führte es dazu, dass sie offen nach russischen, europäischen oder anderen Aspekten ihrer Identität lebten, die jüdische Zugehörigkeit aber wegen Bedenken vor unbequemen Konfrontationen oder vor Antisemitismus verbargen bzw. dies noch immer tun. Eine IP beschreibt es folgendermaßen: "Wenn jedem im Raum der Atem stockt, abrupt eine Gesprächspause, begleitet durch schweigendes Unbehagen im Raum herrscht, es also leise wird, weil man sagt, dass man Jude ist“. Eine andere IP formuliert: "Wenn alle plötzlich komisch, also extrem enthusiastisch, überfreundlich und aufgeregt oder aber skeptisch und distanziert werden, nachdem sie erfahren haben, dass Du jüdisch bist“. Diese Reaktionen verweisen auf stereotype Bilder von "den Juden“, die angesichts der Shoah zwischen Angst und Faszination changieren und vor allem im Widerspruch zu den stereotypen Bildern der "osteuropäischen Einwanderer“ stehen. Diese stereotypen Wahrnehmungsmuster werden weder der Lebensrealität noch der Identität russischsprachiger Juden und Jüdinnen gerecht. Sie machen die Erfahrung, dass sie entlang von Idealbildern, etwa über das "christlich-jüdische Erbe“ Deutschlands, der Mehrheitsgesellschaft zugerechnet werden, oder vor dem Hintergrund der Judenvernichtung gar als "nationale Bereicherung“ ausgegeben werden. Gleichzeitig sind sie mit den üblichen Problemen der Diskriminierung von Migranten sowie Antisemitismus konfrontiert. Vor diesem Hintergrund wird denn auch die Schwierigkeit deutlich, sämtliche Aspekte ihrer (russischen, europäischen, jüdischen oder einer sich entwickelnden deutschen) Identität ihren Wünschen nach auszuleben und mit ihren multiplen, sich teils widersprechenden Zugehörigkeiten Anerkennung zu finden.
Ein weiterer, immer noch bestehender wichtiger Widerspruch ist die Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen deutschen Erbe und den eigenen jüdischen Familienbiografien in der Sowjetunion. Die immer wieder in die Gegenwart reichende deutsche NS-Vergangenheit – sich äußernd in latenten/manifesten antisemitischen Einstellungsmustern bis hin zu tätlichen Angriffen – stellt eine unveränderbare, schwer aushaltbare Kulisse dar. Denn solche Erfahrungen kollidierten mit der eigenen Erinnerungskultur: so wurde der aus der Sowjetunion mitgebrachte Wunsch, innerhalb der Gemeinden den Siegertag am 8. (in der SU am 9.) Mai zu zelebrieren und an diesem Tag mit sowjetischen Orden und Medaillen als Veteranen sichtbar in die Gemeinde zu kommen, zunächst mit großer Vorsicht und Befremdung wahrgenommen. Wie eine russischsprachige jüdische Sozialarbeiterin es darstellte: "Am Anfang hat man sie (jüdische Veteranen mit den Orden, J.B.) wie Clowns und gar nicht als tatsächliche Helden in der Gesellschaft gesehen. Die Orden waren in Deutschland mit Nazischam assoziiert und sie werden nicht mit Stolz, wie in der SU zum 9. Mai, in der Öffentlichkeit getragen. Es hat gedauert, bis man diese Menschen auch in den Gemeinden als wahre jüdische Helden und ihren jüdischen Beitrag zur Befreiung vom NS-Regime anerkannt hat.“ Mittlerweile ist die 9. Mai-Feier in den jüdischen Gemeinden ein fester Bestandteil des Jahreskalenders. Allerding wurde und wird diese Quelle des kollektiven Stolzes durch den sozioökonomischen Status der älteren Gemeindemitglieder (oft ehemaligen Soldaten in der Roten Armee) stark relativiert. Ein IP sagte hierzu: "Ich muss gestehen: Als wir angekommen sind und die Deutschen uns geholfen haben – sie brachten Kleider oder so – musste ich weinen. Die Deutschen! Haben uns geholfen! Unser ganzes Leben haben wir sie als Feinde gesehen und wir waren die Sieger! Und nun unterstützen sie uns mit Sozialhilfe, und wir kriegen nichts von unserem Russland – Mutterland-, von der Siegermacht!“
Viele äußern auch ein Gefühl der Ungerechtigkeit darüber, dass Abschlüsse der russischsprachigen deutschen Interner Link: Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern, die teilweise ihr Studium an denselben Universitäten in der SU absolviert hatten, anerkannt wurden; ebenso, dass die Dauer ihrer Erwerbstätigkeit in der SU auf ihre Rente angerechnet wurde und sie dadurch einen privilegierten Status erhielten. Den sogenannten Kontingentflüchtlingen stand im Gegensatz dazu nur die als Erniedrigung empfundene Grundsicherung zu. Viele IP sprechen bis heute von einer moralisch schwer auszuhaltenden Lage. Vor allem, da man sie trotz ihrer mehrjährigen Erfahrung in hochqualifizierten Bereichen mit Arbeitslosen oder anderen bedürftigen Gruppen gleichsetzte und ihnen somit ihren potenziellen gesellschaftlichen Beitrag verweigerte.
Wachstum und Entwicklung jüdischer Gemeinden
Nach unterschiedlichen Quellen sind zwischen 210.00 und 220.00 russischsprachige Juden nach Deutschland immigriert. Heute ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die drittgrößte in Europa und stellt ein großes Potenzial für das jüdische Leben in Deutschland dar. Während 1990 die jüdischen Gemeinden 29.089 Mitglieder zählten, ist die Mitgliedszahl im Jahr 2006 auf den Höchstwert 107.794 angestiegen. 2020 liegt sie bei 93.695 in 103 Gemeinden. Hierbei geht es um halachische oder nach orthodoxem Gesetz konvertierte Jüdinnen und Juden. Weitere circa 150.000 Menschen, die als Israelis (mit deutscher Abstammung der (Ur-)Großeltern) oder als Kontingentflüchtlinge (darunter viele mixed families) eingewandert sind, sind keine Mitglieder jüdischer Gemeinden. Die Interner Link: Zentralwohlfahrstelle der Juden in Deutschland (ZWST) sowie jüdische Gemeinden, die den Prozess der sozialen Eingliederung russischsprachiger Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion unterstützen sollten, standen seit den 1990er Jahren vor einer ihrer größten Herausforderungen: eine zahlenmäßig kleine Minderheit von ‚Alteingesessenen‘ (5-7 Prozent) musste eine überwältigende Mehrheit (ca. 93-95 Prozent) russischsprachiger Juden und Jüdinnen integrieren. De facto mussten beide Gruppen zusammen eine neue jüdische Gemeinschaft kreieren. Durch die Zuwanderung seit damals sind nunmehr über 90 Prozent der Gemeindemitglieder in Deutschland russischsprachig.
Zum einen ging es darum, die große Zahl an Zugewanderten bei den vielfältigen Migrationsproblemen in allen Lebensbereichen intensiv zu unterstützen. Zum anderen ging es darum, sich mit dem neuen Geflecht, der erweiterten Konstitution des Gemeindecharakters und den Auswirkungen der Zuwanderung auf die Zukunft jüdischer Gemeinden in Deutschland auseinanderzusetzen und entsprechend zu agieren. In vielen Städten und Bundesländern sind durch die Zuwanderung neue und ausschließlich oder zum Großteil russischsprachige jüdische Gemeinden entstanden oder neuformiert worden – eine Entwicklung, die auch kompetentes geschultes Personal erforderte, welches dann auch eng mit den staatlichen Organisationen kooperierte. In der Anfangsphase mussten erst einmal russischsprachige Rabbiner sowie russischsprachige Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gefunden werden. Anschließend wurde durch Kooperation zwischen dem Interner Link: Zentralrat der Juden in Deutschland und der Fachhochschule Erfurt (mittlerweile mit der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg) der Studiengang "Jüdische Sozialarbeit“ etabliert. In diesem werden bis heute viele angehende russischsprachige jüdische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter ausgebildet, um den aktuellen Bedürfnissen gerecht werden. Beachtlich ist auch, dass das Rabbinerseminar nun zum Großteil russischsprachige Juden ausbildet. Die neue Zuwanderung erforderte überdies, die Angebote entsprechend den kulturellen und sprachlichen Prägungen der Zugewanderten auszubauen: z.B., indem für diese Gruppe (intellektuelle Akademikerinnen und Akademiker) neue, attraktive kulturelle Programme in der Muttersprache entwickelt wurden. Auch im Bereich der "Tradierungen familiärer Erinnerungsnarrative über die Shoah“ musste ein adäquater Umgang gefunden werden. Zum Beispiel musste die biographisch orientierte Erinnerungsarbeit erst einmal etabliert werden, angesichts einer in der Sowjetunion "fehlenden Sprache für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust“. Daran anschließend musste dies (auch sprachlich) mit den alteingesessenen Shoah-Überlebenden in Einklang und in ein gegenseitiges Verständnis gebracht werden. Denn trotz der Tatsache, dass die meisten Zugewanderten durch familiäre Geschichten des Überlebens und der Tradierung des transgenerativen Traumas de facto geprägt waren, war das Thema "Holocaust“ aus ideologischen Gründen in der Sowjetunion verboten. Diese Themen werden sowohl in den über 30 Treffpunkten für Shoah-Überlebende deutschlandweit sowie auf den regelmäßigen Konferenzen zum Thema Shoah der ZWST intensiv behandelt.
Zugehörigkeit in den Gemeinden
Auch bezüglich der Frage "Wer zählt als jüdisch?“ entstanden neue Probleme. Denn entsprechend der sowjetischen Definition als Ethnie und Nationalität wurden Menschen mit einem jüdischen Vater als Juden und Jüdinnen eingeordnet. In Deutschland durften sie dann allerdings nicht zu Mitgliedern in den jüdischen Kultusgemeinden werden, da diese sich in ihrer traditionell religiösen Auslegung des Judentums und des halachischen Gesetzes ausschließlich an der mütterlichen jüdischen Abstammung orientieren und auf diese Weise das Jüdischsein definieren. Als Resultat distanzierten sich etliche mixed families sowie viele der jüdischen Männer, deren Kinder nicht als jüdisch anerkannt wurden, selbst von der jüdischen Gemeinde.
Die Frage nach der Bedeutung jüdischer Identität "erwischte“ viele Zugewanderte viel früher als sie dafür bereit waren. Kaum im neuen Land angekommen, mit unzähligen ungelösten existenziellen Fragen und Sprachschwierigkeiten konfrontiert, stand die Frage im Raum: Womit genau soll man die eigene "wirklich“ jüdische Identität beweisen? Oder die Entscheidung, ins Land der Täter ausgewandert zu sein, erklären? So berichtet ein IP über den Besuch eines Paares, welches bei der Gemeindeführung "komisch schaute“, nachdem es den russischen Akzent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gemeinde gehört hatte und dann direkt fragte: "Und wo sind die echten Juden, die ohne Akzent?“ Daraufhin sagte ein russischsprachiger Mitarbeiter: “Die ohne Akzent wurden in der Shoah ermordet. Jetzt sind wir mit dem Akzent da, aber wir können uns doch verstehen, oder?“ Die Besucherinnen und Besucher drehten sich um und verließen das Gemeindehaus. Eine andere russischsprachige Mitarbeiterin einer Gemeinde, die solche Führungen regelmäßig durchführt, weiß ähnliches zu berichten: "Viele Besucher kommen mit sehr wenig Wissen über Juden und Judentum und wir sind dann die ersten Juden, denen sie begegnen“.
Als weitere Besonderheit stellt sich der deutlich höhere Altersdurchschnitt der russischsprachigen Zuwanderinnen und Zuwandern im Unterschied zu anderen Migrantinnen und Migranten in Deutschland heraus. Heute sind 60 Prozent der Gemeindemitglieder über 51 Jahre alt und 48 Prozent (von denen die meisten russischsprachige Jüdinnen und Juden sind) über 61 Jahre alt. Ca. 30 Prozent russischsprachiger Zugewanderter waren bei der Einreise über 60 Jahre alt. Heute werden sie in der Regel von der Grundsicherung unterstützt. Auch wenn sie Sprachkurse besucht haben, durften die meisten wegen der fehlenden Anerkennung ihrer Abschlüsse in ihrem ursprünglichen Beruf nicht arbeiten; bis heute bewegen sich viele in russischsprachigen Netzwerken, nehmen entsprechende russischsprachige Angebote in Anspruch und bekommen die nötigen Informationen und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe durch die jüdischen Gemeinden auf Russisch. Über die russischsprachigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den Gemeinden nicht zu verfügen, wäre heutzutage undenkbar. Besonders dringlich stellt sich in den letzten Jahren die Frage der Alterspflege. Viele Städte haben keine jüdischen Altersheime. Im hohen Alter können Traumata aus dem Krieg und der Shoah vermehrt aktiviert werden oder wiederkehren. In solch belastenden Situationen kann dann mitunter gar die deutsche Sprache als Erinnerung an die Nationalsozialisten und die Shoah als verletzend und bedrohlich erlebt werden. Vor diesem Hintergrund stellt die Eingliederung russischsprachiger jüdischer Menschen in das reguläre Altenpflegesystem für sie eine Zumutung dar, sodass die Suche nach russischsprachigen Pflegediensten ein dringendes Bedürfnis geworden ist.
Zur Entwicklung jüdischer Jugendlicher bzw. junger Erwachsener
Angesichts der Überalterung der Gemeinden gewinnen attraktive alternative Angebote und Programme für junge Erwachsene zunehmend an Bedeutung. Auch jüdische Erziehung und Bildung stehen im Fokus jüdischer Organisationen. Heute gibt es dreizehn jüdische Schulen in Deutschland (in sieben Großstädten). Die meisten jüdischen Kinder und Jugendlichen aber lernen in regulären, nicht jüdischen Schulen und beschäftigen sich mit der jüdischen Tradition und Kultur eher im außerschulischen Bereich: zum Beispiel durch die Winter-/Sommerferienlager der ZWST, Angebote der Gemeinden (z.B. Camps und Sonntagsschulen), durch externen jüdischen Religionsunterricht, der in den Schulen als Religions- oder Ethikunterricht anerkannt wird, durch Israelreisen mit dem Taglitprogramm oder durch die Unterstützung der ELES Stiftung für jüdische Studierende. Viele jüdische Jugendliche sind mit Identitätsfragen beschäftigt und gestalten ihre jüdische Identität aktiv im Alltag, engagieren sich im Bereich der Aufklärung über jüdisches Leben, leben traditionell religiös oder gehen den orthodoxen jüdischen Weg. Andere sehen sich wiederum säkular, symbolisch jüdisch oder kultivieren in der ersten Linie ihr Selbstverständnis und ihre Werte als Weltbürger und Weltbürgerinnen.
Junge Menschen zweiter Generation, die sehr oft das Gymnasium beenden und Hochschulabschlüsse erwerben, weisen meist eine erfolgreiche sozioökonomische Teilhabe auf und haben gesicherte Arbeitsplätze als z.B. Lehrkräfte, Ärzte und Ärztinnen, Anwälte und Anwältinnen, selbstständige Unternehmer und Unternehmerinnen. Ihre Arbeitslosigkeitsraten sind niedriger als die der nicht jüdischen Bevölkerung. Das Beherrschen mehrerer Sprachen ermöglicht Einigen auch die Arbeit in anderen europäischen Ländern oder den Folgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Sehr häufig geben russischsprachige Zugewanderte die russische Sprache an ihre Kinder weiter. Viele Kinder zweiter Generation besuchen daher Sonntagsschulen als Zusatzangebot.
Oft werden Verantwortliche an jüdischen Schulen gefragt, wie es ihnen gelungen sei, die russischsprachigen Kinder, die meist ihre größte Schulgruppe bilden, innerhalb weniger Jahre so erfolgreich einzugliedern. Eine der Erklärungen lässt sich in der traditionell hohen Bildungsmoral und in den ausgesprochen hohen Bildungsaspirationen ihrer Eltern (die meisten sind Akademiker und Akademikerinnen) finden. Der Schulerfolg von Kindern aus russischsprachigen jüdischen Familien zeigt, dass gerade diese verinnerlichten Werte für ihre Kinder die Hauptvoraussetzung für den Erfolg auch später auf dem Arbeitsmarkt sind. Bildung spielt eine zentrale Rolle, sowohl für die ältere Generation als auch für die junge. Dies dürfte an der Kultur des Lernens und des Lesens liegen, die ein wesentlicher Bestandteil jüdischer Tradition ist und die Sozialisation russischsprachiger jüdischer Kinder und Jugendlicher prägt. So schildert eine IP, die in einem sogenannten "Brennpunktviertel“ wohnt: "Ich war öfters bei der Klassenlehrerin meiner Tochter in die Schule bestellt. Sie hat sich bei mir sehr beschwert, dass ich meiner Tochter zu viel Druck mache. Sie hat immer wieder gesagt: ‚Lassen Sie ihre Tochter einfach leben, Kind sein, spielen. Sie muss nicht so viele Diktate üben. Es ist kein totalitäres Land hier, kein Russland!‘ Und dann war meine Olga das einzige Kind in der vierten Klasse, das die gymnasiale Empfehlung bekommen hat“. Die in der Sowjetunion in jüdischen Familien viel praktizierte Maxime lautete: "Um weiter zu kommen und Chancen als jüdische Minderheit zu haben, musst du dir richtig viel Mühe geben und viel besser als alle anderen um dich herum sein.“ Viele Migrantinnen und Migranten äußerten in den Interviews auch ihre Verwunderung darüber, dass die ‚Deutschen‘ gar nicht die Klassiker von Remarque, Böll oder Heine gelesen hätten und ihnen in der klassischen Bildung unterlegen wären, auch wenn sie einer gut situierten sozioökonomischen Schicht zugehörten.
Aktivitäten der Gemeinden
Durch die Zuwanderung russischer Jüdinnen und Juden ab den 1990er Jahren bekamen die Gemeinden nicht nur einen ganz neuen sprachlichen und habituellen Charakter, sondern auch einen neuen räumlichen Charakter in den jeweiligen Städten. Mit der Entstehung neuer jüdischer Gemeinden und der Eröffnung neuer Synagogen wurden sie mit der Zeit zum integralen (auch wenn von der Polizei geschützten) Teil einiger deutscher Städte, so wie eine Sozialarbeiterin in der Gemeinde es formuliert: "Früher wussten die Taxifahrer gar nicht, ob es eine Synagoge in der Stadt gibt, jetzt ist sie ein untrennbarer und respektierter Teil dieser Stadt“. Mindestens genauso wichtig ist die Tatsache, dass hier lebendige und offene Lernorte entstanden sind über jüdische Tradition und Religion sowie für antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Das bietet reale Möglichkeiten, durch einen persönlichen Kontakt Juden und Jüdinnen kennenzulernen und sich über alle möglichen Themen austauschen zu können.
Allerdings berichten auch hier einige IP, die sich bei Führungen in Synagogen oder anderen Angeboten engagieren, dass sie regelmäßig mit Ressentiments gegen Israel oder anderen antisemitischen Bildern konfrontiert werden. Für solche Situationen brauche es ihnen zufolge eine sehr feste und selbstbewusste eigene jüdische Identität, um dagegen entsprechend Aufklärung leisten zu können.
Besonders in den Bereichen der interkulturellen Öffnung und des interreligiösen Dialogs finden viele Veranstaltungen mit der Teilnahme russischsprachiger Akteure und Akteurinnen in den Gemeinden statt. Viele Kinder russischsprachiger Migranten und Migrantinnen engagieren sich aktiv in Dialogprojekten Interner Link: wie z.B. "Meet a Jew“ oder in Empowermentprojekten für andere jüdische Kinder und Jugendliche.
Zukunft
Die Herausforderungen für die russischsprachigen jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer waren und sind immer noch vielfältig. Mit diesem Artikel wurde ein Blick auf die Erfahrungen des Migrationsprozesses und des Lebens in Deutschland, auf den Umgang mit Stereotype über Jüdinnen und Juden, die Annäherung an die eigene, facettenreiche Identität und auf das Gemeindeleben geworfen. Auch für die Zukunft der jüdischen Zuwanderinnen und Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und der ihrer Kinder bleiben sie prägend: Ältere russischsprachige Juden und Jüdinnen scheinen sich zunehmend als "integrierte Fremdkörper“ in Deutschland wahrzunehmen. In den jüngeren Generationen, besonders für die zweite Generation, überlagern sich mehrere Ebenen: sie werden sowohl mit an die deutsch-jüdische Geschichte gekoppelten Erwartungen als auch mit diversen Ethnisierungskategorien konfrontiert und erleben entsprechend Grenzen ihrer Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft.
Herauszustellen sind in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Wunsch und eine Unsicherheit: Viele IP äußern den Wunsch nach einer Normalität jüdischen Lebens in Deutschland, danach, dass sie und ihre Kinder – nachdem sie mit der Migration verbundene Herausforderungen für sich zum Teil bewältigt haben und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte – gleichberechtigt und selbstverständlich am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilhaben können. Ein IP entwirft ein solches Normalitätsszenario, in dem es gängig wäre, "genauso wie die Weihnachtskarten auch Channuka- oder Rosch Haschana-Grußkarten“ zu finden. Gleichzeitig weist der IP darauf hin, dass dieses Normalitätsszenario für ihn aufgrund seines Erlebens der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus in weite Ferne gerückt sei. Das legt die Unsicherheit offen, die viele Juden und Jüdinnen teilen. Der Interner Link: Antisemitismus in Deutschland ist für sie kein abstraktes gesellschaftliches Problem, sondern ein alltägliches und überdies eine konkrete Gefahr. Das belegt nicht nur der Interner Link: rechtsterroristische Terroranschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) 2019, sondern auch die Tatsache etwa aus Sorge vor Angriffen jüdische Symbole nicht mehr in der Öffentlichkeit zu tragen. Für russischsprachige Juden und Jüdinnen bedeuten die Antisemitismuserfahrungen und Gefahren zudem auch, ihre Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, und ihre Erwartung, hier ein sicheres und gleichberechtigtes Leben zu führen, zu hinterfragen. Aufgrund anhaltender bzw. zunehmender Antisemitismuserfahrungen – metaphorisch kommt dies in der Wendung "auf gepackten Koffern“ zu sitzen zum Ausdruck – ziehen Einige ihre Zukunft in Deutschland in Zweifel und auszuwandern in Erwägung. Daran wird deutlich, dass der Umgang mit Antisemitismus eine zentrale Herausforderung für die Zukunft ist. Ob diese Herausforderung bewerkstelligt werden kann, liegt letztlich daran, wie jeder Einzelne, aber auch die Politik dem Antisemitismus entgegentritt und die Betroffenen unterstützt.