Während seiner Zeit in Jerusalem setzte sich Gerhard Leo mit jüdischem Leben und seiner eigenen Biographie auseinander, auch wenn er nicht unmittelbar danach suchte. Abseits eines starren von der SED-Parteiführung vorgegebenen propagandistischen Narrativs, in dem es zuvorderst um den Chef im Bundeskanzleramt, Hans Globke, und eine damit verbundene Kritik an der Regierung von Bundeskanzler Adenauer (CDU) ging, hielt Leo in seinen Notizen für die Redaktion kritische Eindrücke vom Prozess fest. Dass er, ergriffen von den Zeugenaussagen, die komplexe Realität des Prozesses wahrnahm, geht aus seinen Briefen und persönlichen Reflexionen hervor.
In den Abendstunden des 11. Mai 1960 wurde Adolf Eichmann in einer spektakulären Operation des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad auf seinem Heimweg von der Arbeit in Argentinien festgenommen. Um die genauen Details der Festnahme Eichmanns und der Vorbereitung der erfolgreichen Operation Garibaldi ranken sich einige Mythen. Dass eine Identifizierung Eichmanns und seine Festnahme gelingen konnten, ist auf die Entschlossenheit des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer und seine Zusammenarbeit mit dem Mossad zurückzuführen. Die Hauptverhandlung des Eichmann-Prozesses begann am 11. April 1961 im Jerusalemer Beit Ha‘am mit der Verlesung der Anklageschrift und endete vier Monate später am 14. August 1961 mit dem Schlussplädoyer der Generalstaatsanwaltschaft. In 114 Sitzungstagen wurden 112 Zeugen vernommen und 1 600 Eichmann belastende Dokumente ausgewertet. Der Strafprozess steht für eine Zäsur und einen Initialmoment: Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit kommt es zu einer systematischen Aufarbeitung und öffentlichen Dokumentation der Verbrechen des Nationalsozialismus gegen die europäischen Juden. Der Eichmann-Prozess diente einerseits der Geschichtsaufarbeitung und schrieb andererseits als Strafprozess selbst Geschichte.
Das kommunikative Schweigen über die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands wurde ansatzweise in Westdeutschland und, wenn auch unter anderen Bedingungen und mit weitreichenderen Konsequenzen für die gesellschaftliche Diskussion, in Ostdeutschland gebrochen, was insgesamt zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit zuvor tabuisierten Inhalten (Schuld, Wiedergutmachung, Aufklärung der Jugend) führte. Für das junge Israel hatte der Prozess eine Art therapeutische Funktion, welche den gesellschaftlichen Zusammenhalt und einen Generationenaustausch im Land förderte. Der Eichmann-Prozess rief nicht nur in seiner Zeit Kontroversen und politische Auseinandersetzungen hervor, sondern prägt bis heute die gesellschaftliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Thematik. Eine reichhaltige literarische und mediale Aufarbeitung mit 89 Dokumentarfilmen, vier Spielfilmen und über 600 Werken unterschiedlicher Gattungen in verschiedenen Sprachen vermag die umfassende Auseinandersetzung mit dem Strafprozess zu verdeutlichen.
Gilt der Eichmann-Prozess nach intensiver Problematisierung durch Journalist*innen, Wissenschaftler*innen, Regisseur*innen oder Zeitzeug*innen als auserzählt? Ist jedes Detail analysiert oder verfilmt und jede Kontroverse diskutiert worden? Mitnichten.
„Für den ADN-Korrespondenten aus Ostdeutschland war der Hauptpunkt der gestrigen Verhandlung die Nennung von Globke. Er sprang vor Freude fast von seinem Sitz und war ganz aufgeregt. Für ihn und seine kommunistischen Kollegen ist es ein Prozess gegen Globke. Für uns bleibt es ein Prozess gegen Eichmann.“
Dieses Zitat aus der israelischen Tageszeitung Haaretz hatte der DDR-Korrespondent des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), Gerhard Leo, am 23. Juni 1961 als Notiz an die Redaktion des Ostberliner ADN gesendet. Neben Inhalt und Ursprung des Zitats wirft die Wiederentdeckung dieser Zeilen ein Bündel an Fragen auf.
Die DDR und der Eichmann-Prozess
Nur wenige Tage nach der Ankündigung Ben-Gurions, Eichmann vor ein israelisches Gericht zu stellen, richtete Albert Norden, der selbst aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte und nach seiner Rückkehr aus der Westemigration nach verschiedenen beruflichen Stationen ab 1958 Mitglied des Politbüros war, am 28. Mai 1960 ein Schreiben an Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR, in welchem er empfahl „den Fall Eichmann, der international so großes Aufsehen erregt hat, maximal gegen das Bonner Regime zuzuspitzen“. Der „Jerusalemer Eichmann-Prozess war für die SED in dem Maße von Interesse, wie er sich eignete, die Bundesrepublik an den Pranger zu stellen.“ Die Kampagnenpolitik des ostdeutschen Staates war von einer doppelten Zielsetzung geprägt. Durch die Festlegung propagandistischer Formeln und inhaltlicher Schwerpunkte entstand ein klares Narrativ, welches die Bundesrepublik als faschistischen Nachfolgestaat Hitler-Deutschlands diffamieren sollte.
Die starke personelle Kontinuität ehemaliger Nazis in der westdeutschen Verwaltung, Justiz und Politik, personifiziert durch Adenauers Staatssekretär im Kanzleramt, Hans Globke, stand im medialen „Kreuzfeuer“ der DDR-Berichterstattung. Die DDR hingegen gelte als antifaschistischer Staat, der den Faschismus und die Ideen des Nationalsozialismus vorbildlich beseitigt habe. In der DDR wurde der Nationalsozialismus universalisiert, und begründet mit dem „Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ nach 1945 nicht mehr als Eigengeschichte betrachtet. Auch wenn bereits vor Gründung der DDR in Literatur und Film eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Shoah stattfand, gab es in der staatlichen Erinnerungskultur insbesondere in den Gedenkstätten der DDR weder Platz für die nationalsozialistische Judenverfolgung noch konnte ein Narrativ, das eine jüdische Opferperspektive formulierte, gefunden werden. Neben dem Entwurf von Leitlinien zur Berichterstattung und der Recherche von belastenden Dokumenten, die eine direkte Zusammenarbeit von Adenauers Kanzleramtschef, Hans Globke, und Eichmann beweisen sollten, stand die Auswahl der Sonderberichterstatter im Zentrum der Vorbereitungen auf den Eichmann-Prozess.
Was bedeutete es für die DDR, jüdisch-kommunistische Journalisten zum Eichmann-Prozess zu entsenden? Was bedeutete es für die Journalisten selbst?
Aus Sicht des Chefstrategen des Agitationsapparates, Albert Norden, musste bei der Auswahl ein Spagat vollzogen werden, denn man verfolgte zwar das Ziel den Prozess „maximal gegen das Bonner Regime zuzuspitzen“, gleichzeitig aber auch nicht „mehr Wind als notwendig“ zu machen. Schlussendlich reisten aus Ostberlin drei Berichterstatter, nämlich Max Kahane als Korrespondent des Zentralorgans der SED Neues Deutschland, Kurt Goldstein, für den DDR-Rundfunk und Gerhard Leo für den ADN zum Jerusalemer Eichmann-Prozess. Die drei Korrespondenten verbindet ihre jüdische Herkunft, ein ähnliches Verfolgungsschicksal in der Zeit des Nationalsozialismus sowie ihr Engagement im Widerstand.
Ist die Auswahl der drei Sonderkorrespondenten mit ihrer politischen Loyalität und kommunistischen Überzeugung zu begründen? Haben die Strategen um Norden vermutet, dass sie als Juden im Land der Opfer eine größere Glaubwürdigkeit zugebilligt bekommen würden? Mit den Quellen lässt sich nicht abschließend beantworten, weshalb die DDR-Führung ausschließlich Journalisten deutsch-jüdischer Herkunft zum Eichmann-Prozess entsandte. Dass mit der Entsendung jedoch eine politische Botschaft verbunden war, steht außer Frage.
Gerhard Leo in Jerusalem
„Gerhard Leo war schon ein Held, bevor er erwachsen wurde“, betont Maxim Leo zu Beginn seines (DDR-)Familienromans „Haltet Euer Herz bereit“ und deutet damit auf das Engagement seines Großvaters im französischen Widerstand hin. Im Nachkriegsdeutschland siedelte Leo, der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte, in die DDR über und wurde als angesehener (Auslands-)Journalist beim ADN und dem Zentralorgan der SED Neues Deutschland „Teil der neuen Macht“. Seine Loyalität zur Partei und Vergangenheit als Widerstandskämpfer schienen ihn politisch unangreifbar zu machen und ihm einen gewissen „Heldenstatus“ zu verleihen. Leo verstand sich als kommunistischer Widerstandskämpfer. Aus einer existentiellen Erfahrung (Verfolgung, Inhaftierung und Folter) und weniger aus ideologischer Überzeugung wurde er Kommunist und Zeit seines Lebens zu einem Widersacher des Faschismus und Verfolger dessen Vertreter. Jüdisches Leben galt in der DDR als unsichtbar, wenngleich es vielfältige gesellschaftliche Spuren hinterließ. Das Verhältnis vieler DDR-Juden zu ihrem Staat wurde als ambivalent beschrieben. Das „gestörte Verhältnis“ der DDR zu Israel sorgte für Spannungen innerhalb der Jüdischen Gemeinden und schrieb antisemitische Denkmuster in der Gesellschaft fort. Ob Verfolgung durch die Nationalsozialisten, Stigmatisierung in der DDR oder Identifikation mit den jüdischen Opfern in Israel: Leos jüdische Bezogenheit trat in unterschiedlichen Lebensphasen an die Oberfläche. Weder eine religiöse Konversion noch das Bekenntnis zum Atheismus schützten ihn vor Verfolgung und anderen Repressionen. Leos Biografie illustriert, dass „die dramatische Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert zeigt, dass es eine Illusion wäre zu glauben, die Herkunft liege ausschließlich in der Verfügung des Individuums“. Eine Einordnung Gerhard Leos als jüdischer Kommunist vermag seine Loyalität der DDR gegenüber zu entschlüsseln und Erklärungen für sein Engagement im zweiten deutschen Staat bereithalten. Jüdische Kommunisten wirkten in der Medien- und Pressearbeit, beim Nachrichtendienst und in der Kulturpolitik an dem Aufbau eines neuen sozialistischen Staates mit, der von sich behauptete, das wahre und moralisch bessere Deutschland zu repräsentieren. Diese Gegenelite aus Opfern und Widerstandskämpfern definierte sich kaum über ihre jüdische Herkunft, sondern über eine kommunistische Überzeugung. Die jüdischen Kommunisten aus der Westemigration wurden jedoch als Remigranten „zweiter Klasse“ behandelt, erfuhren Nachteile bei der Berufswahl oder litten vermehrt unter den Säuberungswellen der frühen 1950er Jahre. Aus der Befürchtung der in der DDR tonangebenden Moskauer Politemigranten den Westemigranten intellektuell unterlegen zu sein, folgte die Konsequenz, die Westemigranten mehrheitlich im gut zu kontrollierenden Pressewesen unterzubringen. Eine große Anzahl der Westemigranten hatte zum Zeitpunkt der Übersiedlung in die SBZ/DDR bereits Erfahrung in der Pressearbeit gesammelt, war im Exil jedoch mit der Idee der Presse als vierter Gewalt sozialisiert worden. Nach Auffassung der DDR-Führung sollte die Presse jedoch „Erfüllungsgehilfe“ der Partei sein und die offiziellen politischen Linien der kommunistischen Machthaber vertreten. Diese Ausgangslage und das unterschiedliche Verständnis führten zu einer Konstellation, in der gewisse politische Auseinandersetzungen vorprogrammiert waren.
Die DDR-Führung schickte Leo im Frühjahr 1961 mit einer klaren politischen Agenda zum Eichmann-Prozess. Insgesamt hat Leo dreieinhalb Monate in Israel verbracht, vom Prozess berichtet, Interviews geführt, das Land bereist und Bekannte besucht. Ab dem 20. Juni 1961 verblieb Leo als einziger DDR-Berichterstatter in Jerusalem, da Max Kahane als Folge der belastenden Prozessverhandlungen krankheitsbedingt vorzeitig zurück nach Berlin reiste. Wie intensiv und belastend der Eichmann-Prozesses und die Aufarbeitung des Holocausts für Gerhard Leo gewesen sein muss, der in mehrfacher Weise selbst Betroffener und Opfer des Nationalsozialismus war, mag man sich kaum vorstellen.
Insgesamt kann die Berichterstattung der DDR zum Prozess als wenig informativ eingestuft werden. Nicht nur die inhaltliche Qualität der Artikel und ihr Losgelöstsein vom Prozessgeschehen, sondern auch die Tatsache, dass die ausführliche Berichterstattung innerhalb weniger Wochen nach Prozessbeginn abrupt abnahm, sind für dieses Urteil ausschlaggebend. Der Prozessverlauf erfüllte immer weniger die Erwartungen der DDR-Führung und ließ sich wider Erwarten nicht in geplantem Maße propagandistisch auswerten. Ließen sich Aussagen des Angeklagten oder der Verteidigung nicht mehr propagandistisch aufwerten, wurde auf prozessfremde Ereignisse zurückgegriffen, um Artikel im Sinne der DDR-Propaganda veröffentlichen zu können. Leos Berichterstattung wirkte eindimensional, fokussierte auf Eichmann und Globke und schien dabei die komplexe Realität des Prozessgeschehens nicht abzubilden: Eine kurze Beschreibung des Gerichtsgeschehens wurde als „Aufhänger“ für die Vermittlung propagandistischer Inhalte verwendet, wobei das Prozessgeschehen ausgeblendet wurde. In vielen Meldungen argumentierte Leo mit einem vermeintlichen Stimmungsumschwung in der israelischen Öffentlichkeit, die das DDR-Narrativ stützen sollte. Bei der Auswertung der über 60 ADN-Meldungen, Rundfunkbeiträge und Zeitungsartikel entstand der Eindruck, dass der Mensch Gerhard Leo in weiten Teilen hinter den Meldungen verschwand, da sich keine direkten Anzeichen einer kritischen Prozessrezeption in der Berichterstattung niederschlugen.
Der Mensch Gerhard Leo hinter der Berichterstattung
Während seiner Zeit in Jerusalem traf Leo immer wieder auf jüdisches Leben und Sterben, auch wenn er nicht danach suchte. Diese Begegnungen reflektierte er vor allem in den Briefen an seine Frau. Dass Leo die widersprüchliche und komplexe Realität im Gerichtssaal wahrnahm und durchaus eine kritische Haltung gegenüber der DDR-Perspektive einnahm, verdeutlichen die Notizen für seine Redaktion. Einige Momente dieser kritischen Differenzierung werden von diesem Artikel beleuchtet.
„[…] Jetzt sind zwei Wochen Prozess vorbei und wir sind alle drei – Mäcki Kahane und Kurt Goldstein – vollkommen fertig. Ich habe noch nie so viel hintereinander gearbeitet. Das fängt um 8 an, wie ich schon schrieb und fertig sind wir meist nicht vor 22 Uhr. […] Der Prozess ist sehr schwierig zu bearbeiten. Erst einmal das ganze Grauen, das da hochkommt. Man denkt, man gewöhnt sich daran, wenn man es sieben Stunden pro Tag hört, aber man wird nur noch empfindsamer.“ Gerhard Leo wurde von dem Prozessstoff, im Konkreten von der Verlesung der Anklageschrift und dem Beginn der Beweisaufnahme, überwältigt und bemerkte, dass ein Mehr an Wissen und eine Wiederholung nicht mildernd wirkten, sondern zu einer erhöhten Sensibilität führten. Die stark zeugengestützte Holocaustaufarbeitung am Beginn der Beweisaufnahme bereiteten Leo Schwierigkeiten, der bei seiner Berichterstattung vordergründig Eichmanns Hintermänner in den Blick nehmen sollte. Im weiteren Verlauf des Prozesses schien dieses propagandistische Narrativ jedoch zu einer Art „Schutzschild“ zu werden, der dafür sorgte, dass der Prozessinhalt nicht mehr unmittelbar an ihn herandrang.
Mit welcher Absicht vermerkte Leo am 23. Juni 1961, die zu Beginn des Artikels angeführte kritische Haaretz-Beobachtung als Notiz für die ADN-Redaktion? Dass Gerhard Leo bei der Nennung Globkes im Jerusalemer Beit Ha’am vor Freude aufgesprungen sein soll, ist aus der Perspektive seines journalistischen Auftrags sogar verständlich, da er diesen Erfolg nun in einer seiner vielen ADN-Meldungen unterbringen und journalistisch verwerten konnte. Verbirgt sich hinter dieser Anmerkung eine Reflexion der eigenen sehr eingeschränkten journalistischen Position, aus der heraus Leo den Prozess beobachtete? Im Fokus der Berichterstattung standen ehemalige Nazis, wohingegen die Shoah und deren Opfer ausgeblendet wurden oder lediglich als Mittel zum Zweck vorkamen. Oder wies er lediglich seine Vorgesetzten auf die Kritik innerhalb der israelischen Presse hin, die eine propagandistische Indienstnahme des Eichmann-Prozesses durch die DDR scharf verurteilte? In jedem Fall verlieh Leo seinem Unbehagen Ausdruck.
Der gesamte Aufenthalt Gerhard Leos in Israel und nicht nur die Prozessbeobachtung war von einer Auseinandersetzung mit jüdischem Leben und dem Holocaust durchzogen. Im Nachgang einer Israelreise erzählte Leo ganz berührt davon, dass er von den Israelis als Jude angesprochen wurde, was in ihm gleichzeitig Freude und Abwehr auslöste. Insgesamt riefen diese Begegnungen jedoch ein zwiespältiges Gefühl hervor, denn er wollte nicht „dazugehören“. Eine für Gerhard Leo wohl einprägsame Begegnung ereignete sich zu Beginn seines Aufenthaltes und steht exemplarisch für Leos Auseinandersetzung mit jüdischem Leben nach der Shoah:
„Heute Abend war ich mit israelischen Freunden auf dem Berge Zion in Jerusalem, wo König Davids Grab liegt. Wenigstens behaupten das die Rabbiner. […] Ich war Zeuge einer ergreifenden Szene. Eine junge Frau, offensichtlich aus Polen stammend, ihre verängstigten drei kleinen Kinder hinter sich, presste sich an die Gitterstäbe, die von dem (angeblichen) Grab gezogen sind und schluchzte auf Hebräisch wie mir der Jerusalemer Freund übersetzte: „Oh König David, warum warst du nicht unsterblich? Wärst du bei uns geblieben, hätten die Römer uns nicht aus Jerusalem vertrieben, der ganze Tempel wäre noch da, in all seinem Glanz und die Mutter wäre nicht im Ghetto Warschau umgekommen […].“ Wir waren ganz erschüttert. Es ist doch unfassbar, was diesen sechs Millionen, meist sehr einfachen Menschen, angetan wurde. Und angesichts der Größe des Verbrechens versteht man, dass viele Menschen hier durch das Unsagbare, was ihnen geschehen ist, in tiefer Religiosität bestätigt wurden.“
Leo ist ergriffen. Sein flüchtiges Mitgefühl für die jüdischen Opfer weicht rasch einer klaren Distanzierung, wobei sein eigenes Verfolgungsschicksal ausgeblendet wird. In Leos bewusster Distanzierung scheint eine Abwehrhaltung bei gleichzeitiger Bestätigung seines Selbstbildes als Widerstandskämpfer zu liegen. Wie mögen diese Zeilen auf seine Frau Nora Leo, deren Vater im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet wurde, gewirkt haben? Eine mögliche Erklärung für die Verdrängung der eigenen Vergangenheit ist die Unterscheidung in Kommunisten jüdischer Herkunft und religiöse Juden. In der Familie Leo herrschte die Vorstellung einer quasi natürlichen Entwicklung vom religiösen Juden zum Kommunisten vor. Abseits seiner kritischen Anmerkungen schien Leo durch diese Schilderung einer Opfer-Perspektive Ausdruck zu verleihen.
Perspektiven zwischen Identifikation und Instrumentalisierung
Gerhard Leos Aufenthalt und seine journalistische Arbeit in Jerusalem können im Spannungsfeld zwischen den Polen Identifikation und Instrumentalisierung verortet werden. Leos detaillierte Berichterstattung zu den im Eichmann-Prozess erwähnten Netzwerken ehemaliger Nazis, die nach dem Krieg wieder hohe Positionen in der Bundesrepublik einnahmen, lässt vordergründig auf eine Form von Identifikation mit den propagandistischen Zielen der DDR schließen. Jedoch scheint er sich zugleich als Widerstandskämpfer und Verfolger unbestrafter Nazis mit einer bestimmten Tradition des Widerstands zu identifizieren. Weitere Identifikationsprozesse sind in diversen Schilderungen, in denen er sich in meist indirekter Weise mit Israel und der europäischen Judenverfolgung auseinandersetzte, zu finden. Mit dem Begriff Instrumentalisierung lassen sich zwei verschiedene Phänomene fassen. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass Leo als Person jüdischer Herkunft von der DDR-Führung instrumentalisiert wurde. Zum anderen instrumentalisiert er den Eichmann-Prozess durch seine sehr auf Globke und dessen Netzwerke fixierte und inhaltlich eingeschränkte Berichterstattung gleichermaßen („Mit Eichmann steht Bonn vor Gericht“) und spart wesentliche Aspekte des Eichmann-Prozesses aus.
Zur Bedeutung kritischer Zeitzeugenschaft
Inwiefern die Erfahrungen in Jerusalem und die Prozessberichterstattung Leo zeitlebens geprägt haben, kann nur gemutmaßt werden, da aussagekräftige Quellen nicht vorliegen. In einem Gespräch berichtete Annette Leo, dass ihr Vater nach seiner Rückkehr im Kreis der Familie kaum über den Eichmann-Prozess sprach. Dass die Zeit in Jerusalem für Leo jedoch von Bedeutung war, kann auch daraus geschlossen werden, dass er viele Dokumente aus der Zeit aufbewahrt hatte. Als seine Tochter mehr als vierzig Jahre später begann, sich für die Arbeit ihres Vaters in Jerusalem zu interessieren, stellte er ihr bereitwillig die Akten und Mitschriften zur Verfügung. Als Westemigrant und Journalist deutsch-jüdischer Herkunft wollte Leo mit seinem liberalen Verständnis der Presse nicht lediglich „Erfüllungsgehilfe“ der Partei sein und unkritisch antisemitische oder andere rassistischen Meinungen wiedergeben. Es scheint als leistete er, sobald er seine Interessen und oder wichtige Erfahrungen bedroht sah, eine Form von Widerstand, die mal mehr oder minder stark ausgeprägt war. Leos Berichterstattung kann zwar größtenteils in die zentralen Diskursstränge der DDR-Berichterstattung eingeordnet werden, eine Form von Widerstand und Kritik leistete er jedoch durch seine Notizen für die Redaktion. Abgesehen von dieser internen Kritik als einer eher qualitativen Folge für die DDR waren mit der Entsendung von gleich drei Journalisten und einem Sonderberichterstatter auch weitreichendere Konsequenzen verbunden:
Durch die Berichterstattung zum Eichmann-Prozess standen die „nationalsozialistischen Massenmorde an den Juden monatelang im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit […] und Bonn und Globke […] ließen sich nicht thematisieren, ohne den sehr komplexen Vorgang der Ausgrenzung und Verfolgung der europäischen Juden […] zu skizzieren“. Die Bedeutung des Eichmann-Prozesses für die DDR erwächst aus dem Umstand, dass das Strafverfahren nicht nur eine „Gelegenheit zur Propaganda gegen die Bundesrepublik“ bot, sondern durch die Thematisierung des Holocausts auch „eine Veränderung im kollektiven Gedächtnis“ bewirkte.
. Mit dem Tod Mordechai Ansbachers am 27. Februar 2021 ist der letzte Zeuge des Eichmann-Prozesses verstorben. Der Zeitpunkt, an dem einem zeitgeschichtlichen Ereignis die Zeitzeuginnen und -zeugen entschwinden, ist ein durchaus kritischer Moment. Fortan ist es umso mehr die Aufgabe der politischen Bildung, an diese Vergangenheit und ihre Menschen zu erinnern und dabei die Geschichte und ihre aktuelle Bedeutung lebendig zu erhalten.
Zitierweise: Raphael Brüne, "60 Jahre Eichmann-Prozess - zwischen Identifikation und Instrumentalisierung - Gerhard Leos andere Perspektiven auf den Jerusalemer Jahrhundertprozess", in: Deutschland Archiv, 9.4.2021, Link: www.bpb.de/331105
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