Vortrag von Wolfgang Benz zum Tag der Befreiung
Die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker wird heute als Markstein der politischen Kultur, als Wende im Erinnerungsdiskurs der Bundesrepublik gesehen. Damals, am 8. Mai 1985 schieden sich daran die Geister in der Bonner Republik. Aber die Jahre der Amnesie, in der die Mehrheit die Zeit des Nationalsozialismus und die je eigenen Verstrickungen lieber beschwieg, in der die grässliche Metapher „Vergangenheitsbewältigung“ den Widerwillen ausdrückte, mit dem man das leidige Thema behandelte – diese Jahre waren endgültig vorbei. Der Studentenbewegung des Jahres 1968 wird zwar das Verdienst zugeschrieben, den Nationalsozialismus und die Mitwirkung der Vätergeneration an dessen Untaten thematisiert zu haben, aber das war noch lange kein Durchbruch ins allgemeine Bewusstsein. Der emotionale Aufruhr erfolgte erst 1979 nach der Interner Link: Ausstrahlung des US-amerikanischen TV-Vierteilers „Holocaust“. Trotzdem blieb die Spaltung in Gut und Böse als Lebenslüge der Mitlebenden noch lange wirksam. Das Gute war verkörpert durch die schweigende und das Regime angeblich insgeheim ablehnende Mehrheit, das Böse durch eine kleine Verbrecherclique angeführt von Hitler, bestehend aus Fanatikern der NSDAP, der SS und der SA. Die Macht der Lebenslüge zeigte die Wehrmachtsausstellung, gegen die Patrioten, Rechtsradikale und Reaktionäre protestierten, weil sie die Beteiligung der Wehrmacht an den NS-Verbrechen nicht wahrhaben wollten. Die DDR proklamierte sich in der Frontstellung gegen Bonn als antifaschistischer Staat, der im Gegensatz zur BRD das Böse – den Hitlerfaschismus - mit Stumpf und Stiel ausgerottet, die Nazi-Ideologie überwunden und damit den moralischen Neuanfang im Geiste des Sozialismus vollzogen habe.
Im Gegensatz zur internationalen Zustimmung, die die Rede des westdeutschen Staatsoberhaupts im Bonner Parlament erfuhr, war die Reaktion der DDR äußerst verhalten. Zwar gab es schon Mitte April 1985 eine ADN-Meldung über eine Äußerung des Bundespräsidenten, mit der er sich für eine Verbesserung des Verhältnisses zur Sowjetunion aussprach und den 8. Mai 1945 ohne Einschränkung „Tag der Befreiung“ nannte. Aber in dem großen Artikel des SED-Zentralorgans „Ehrungen in aller Welt zum 8. Mai. Gedenken an die welthistorische Befreiungstat der Sowjetunion“ war der westliche Feindstaat BRD lediglich in einer Meldung über die Würdigung des historischen Ereignisses durch den Parteivorstand der DKP erwähnt. Das „Neue Deutschland“ würdigte die Festveranstaltung der westdeutschen Kommunisten am Folgetag ausführlich und druckte am 14. Mai ein Schreiben des DKP-Vorsitzenden Herbert Mies an den Bundespräsidenten im Wortlaut. Darin wurde Weizsäcker gelobt, dass er den „antifaschistischen Widerstand der Kommunisten“ gegen das Hitlerregime gewürdigt habe und die Hoffnung ausgedrückt, dass die „antikommunistischen und antisowjetischen Feindbilder in unserem Land“ überwunden würden.
Mit größerem Vergnügen berichtete das SED-Blatt über die Attacken, die Rechtsaußen gegen Weizsäcker geritten wurden. Die CDU-Bundestagsabgeordneten Herbert Czaja und Herbert Hupka ereiferten sich (am wildesten im Vertriebenenblatt „Der Schlesier“) über den längst historischen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete. Das war politische Routine und wurde, wie das Neue Deutschland fairerweise notierte, auch in Bonner Regierungskreisen als skandalös empfunden. Schwerer wog die Kritik, die aus der CSU und vom rechten Flügel der CDU gegen den Geist der Weizsäcker-Rede vorgetragen wurde. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Lorenz Niegel, der als Hinterbänkler im Parlament sonst nicht für Aufregung sorgte, war der Rede am 8. Mai ferngeblieben, weil es für ihn nur die bedingungslose Kapitulation zu beklagen, aber nichts zu feiern gab. Sein Parteivorsitzender Franz-Josef Strauß plädierte dafür, „die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe“ sein zu lassen, weil sie das Volk lähme. Seine schlichte Botschaft lautete: „Wir sind eine normale, tüchtige, leistungsfähige Nation, die das Unglück hatte, zweimal schlechte Politiker an der Spitze ihres Landes zu haben“.
Die schärfste Gangart schlug der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag an. Alfred Dregger machte sich mit seinen Attacken gegen die Weizsäcker-Rede zum Wortführer der Rechten mit Sentenzen, wie sie heute wieder aus den Reihen der AfD zu hören sind. Dem Diktum „der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“ setzte Dregger das trotzige Auftrumpfen entgegen „Es muß endlich Schluß sein mit der uns von den Siegermächten aufgezwungenen Geschichtsbetrachtung“. So sprach Dregger auch zehn Jahre später – nunmehr als Ehrenvorsitzender der Fraktion – vor dem „Verband Deutscher Soldaten“, bejubelt von Ultrarechten, die etwa die Teilung Deutschlands nicht als Folge nationalsozialistischer Hybris, sondern als Diktat der Sieger sehen wollten. Die Wehrmachtsausstellung nannte er einen „Angriff auf Deutschland“.
Der „Historikerstreit“ den Ernst Nolte 1986 mit seiner These vom „kausalen Nexus“ zwischen Auschwitz und dem Archipel Gulag auslöste, signalisierte den Beginn des Strebens nach Überwindung der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus durch einen neuen Historismus: Nicht mehr die Konsensstiftung über den Abscheu vor einem kriminellen Regime und den vielfachen Verstrickungen der Mitlebenden, auch der Nachgeborenen, sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Betrachtung und Einordnung der nationalsozialistischen Zeit in die gesamte deutsche Historie. Gefragt war aber auch zunehmend die Beurteilung und Deutung des Phänomens in der Absicht, vor allem die guten Anteile der Geschichte zu tradieren, um eine positive Identifizierung mit der Vergangenheit in toto zu ermöglichen und dadurch der Gesellschaft des prosperierenden Nachfolgestaates des Deutschen Reichs historischen Sinn mit Zukunftsperspektive zu stiften. Kein Volk könne auf Dauer mit einer kriminalisierten Geschichte leben, lautet die Feststellung des Politikers Franz Josef Strauß, der gerne darauf pochte, Historiker zu sein, anlässlich eines Festkommers zum 130jährigen Bestehen des Cartellverbandes der Katholischen Deutschen Studentenverbindungen. Er vertrat den „Anspruch der Deutschen auf Normalität“. Den Versuch „einer Art Schadensabwicklung“ nennt dagegen in entgegengesetzter Motivation der Philosoph Jürgen Habermas die jüngsten Versuche, dem Dilemma zwischen Sinnstiftung und Wissenschaft im Umgang mit dem Nationalsozialismus zu entgehen.
Gemeint war das Bemühen, die dem Selbstbewusstsein, der Staatsfreude und dem Bedürfnis der Deutschen, in der Welt anerkannt und beliebt zu sein, vermeintlich hinderlichen Trümmer der Geschichte aus dem Weg zu räumen. In der Werkstatt des Historikers allein lässt sich das aber nicht erledigen. Die Auseinandersetzung findet nicht von ungefähr in öffentlichen Medien statt, natürlich unter Wahrung der akademischen Attitüde. Der Streit um Einmaligkeit und Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Wirkungen macht vor allem deutlich, welche Defizite bei der Reflexion über den Nationalsozialismus noch existieren und wie begrenzt die Möglichkeiten historischer Analyse und Interpretation letztendlich sind. Die psychologische Dimension nationalsozialistischer Herrschaft und ihrer Gesellschaft ist immer noch weitgehend unerforscht und unbewältigt, eine politische Psychoanalyse, die den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als Gruppenprozess begreift und Erklärungsmodelle bietet, steht auch Jahrzehnte nach Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“ noch in den Anfängen. Als Alleininterpreten des Hitlerstaats und der Hitlergesellschaft sind Historiker, Philosophen, Juristen, Sozialwissenschaftler aber überfordert. Obwohl sie ihr Bestes getan haben, konnten sie der Sehnsucht der Bürger der Nachkriegsgesellschaft, von den Schatten der Vergangenheit erlöst zu werden, natürlich nicht gerecht werden. Aber auch die Methoden und Möglichkeiten der Tiefenpsychologie - immer vorausgesetzt, man wollte sich ihrer bedienen, um das Trauma des Nationalsozialismus zu überwinden - sind nicht ohne weiteres anwendbar, denn seit Auschwitz ist eine Voraussetzung der klassischen Psychoanalyse nicht mehr gültig, dass nämlich die Realität von der Phantasie Überboten wird, in der Konfrontation mit dem Unbewussten, mit den in der Phantasie heimlich gelebten Triebwünschen, besteht nach der Freudschen Methode im Bewusstmachen die Therapie, deren Zweck die Verhinderung der Wiederkehr des Gleichen ist. Nicht erinnern und nicht diskutieren konstelliert den Wiederholungszwang. Was aber, wenn die schrecklichsten Triebwünsche in der Realität aufs exzessivste ausgelebt worden sind? Der Nationalsozialismus bleibt auch für dieses Fach, von der theoretischen Sozialpsychologie bis zur Praxis der Psychotherapeuten eine Herausforderung.
Gegenüber den emotionalen und psychologischen Abwehrmechanismen, die gegen die Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit aufgebaut wurden und die je länger desto reibungsloser funktionieren, sind Forschungsergebnisse wirkungslos, ganz gleich ob es sich um die Zahl der in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordeten Opfer des Regimes, um die Schuld am Zweiten Weltkrieg, um die Ruinierung von Wirtschaft und Finanzen des Deutschen Reiches, über Ursachen und Folgen der NS-Herrschaft handelt. Denn das menschliche Bewusstsein ist so beschaffen, dass Unerwünschtes und Unerfreuliches von der Realität abgespalten werden kann, nicht wahrgenommen wird, und der Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit - Erinnerung der Mitlebenden ebenso wie Reflexion der Nachgeborenen - bietet eine Fülle von Anschauungsmaterial dazu.
Der Wandel von der Abwehr der Vergangenheit zur Erinnerungskultur lässt sich mit vielen Beispielen illustrieren. In Hersbruck in Franken hatten Anfang der 1980er Jahre die Stadträte Anstoß genommen an der Broschüre eines geschichtsforschenden Abiturienten, der unter dem Titel „Das Konzentrationslager Hersbruck“ die Geschichte eines Flossenbürger Außenlagers publizieren wollte. Gegen den Titel richtete sich der Einwand, dadurch komme die Stadt ins schiefe Licht, der beanstandete Titel würde die Tatsachen verfälschen und bedeute eine Rufschädigung. Richtig sei die Bezeichnung „Nebenlager“ oder „Außenstation“.
Das liest sich scheinbar in der Tat harmloser. Bei Landsberg am Lech kamen in elf Dachauer Nebenlagern, in denen KZ-Häftlinge für die Rüstungsindustrie des Dritten Reichs arbeiten mussten, etwa 8000 Menschen ums Leben. Aber Landsberger Kommunalpolitiker stritten 20 Jahre nach dem Ende des NS-Staats die Existenz dieser KZ ab und bestanden auf dem freundlicheren Ausdruck „Arbeitslager“, außerdem argumentierten sie, Landsberg habe eine so glanzvolle Geschichte, dass man nicht gerade diesen kleinen dunklen Punkt breittreten müsse. Besonders heftig wehte der provinzielle Geist in Dachau, wo eine geplante Internationale Jugendbegegnungsstätte - als „Lernort“ und Forum der Auseinandersetzung in der Nähe der meistbesuchten KZ-Gedenkstätte Deutschlands konzipiert, von den Kirchen und Bundestagsabgeordneten der großen Parteien unterstützt - von kommunalen Politikern mit starken Worten bekämpft wurde: Man habe ein „moralisches Recht auf Widerstand“ gegen eine solche „Vergangenheitsbewältigungsstätte“ und müsse sich „dagegen zur Wehr setzen bis zum letzten Blutstropfen“. Hersbruck ist inzwischen zum Lernort mit vorbildlichen Einrichtungen geworden und Dachau schmückt sich gerne mit der 1998 eingeweihten Jugendbegegnungsstätte, die zu Ehren eines Auschwitz-Überlebenden zum „Max-Mannheimer-Bildungszentrum“ erhoben wurde.
Die Deutschen flüchteten jahrzehntelang in die irrationale Abwehr einer als belastend empfundenen Vergangenheit. In den Katalog deutscher Urängste gehörte der psychologisch leicht erklärliche Versuch, durch „Vergessen“ und Nichterwähnen Probleme aus der Welt zu schaffen. Die Furcht, sich zu erinnern, war scheinbar rationalisiert durch den Kernsatz, dass man das eigene Nest nicht beschmutzen dürfe. Den solcherart auf Reinlichkeit Bedachten unterlief allerdings der Denkfehler, dass das beschmutzte Nest nicht sauber wird, wenn man über den Unrat mit Schweigen hinweggeht.
Die banale Verwechslung von „Kollektivschuld“ – die niemals Gegenstand alliierter Anklage gegen die Deutschen war - und gemeinsamer historischer Verantwortung führte zu einer der ärgerlichsten und gefährlichsten Verhaltensweisen, dem Aufrechnen. Der von alliierten Bombengeschwadern bewirkte Untergang Dresdens löscht die Verbrechen des NS-Regimes ebenso wenig aus wie die millionenfache Drangsalierung und Vertreibung Deutscher aus ihrer Heimat in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien usw. nach dem Ende des Krieges. Dass 3,3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern umgekommen sind, lässt sich weder ungeschehen machen noch durch Beweise deutscher Leiden beschönigen.
Der Abwehr des Schuld- und Leidensdrucks diente auch die Verharmlosung der Wirklichkeit. Beispiel dafür ist die der Selbstberuhigung dienende Vermutung, die Konzentrationslager seien (zwar strenge, aber immerhin doch nur) Besserungsanstalten gewesen, in denen vorwiegend kriminelle Elemente ihren wohlverdienten Aufenthalt gehabt hätten. Nicht mehr weit ist nach solcher Argumentation der Weg zum Misstrauen gegen ehemalige KZ-Häftlinge und Verfolgte des NS-Regimes überhaupt, es gehört zu den elenden Hinterlassenschaften des Dritten Reichs, dass die Widerstand leistenden und die, die emigrieren mussten, weil sie nicht zur Anpassung an das System bereit waren und deshalb zu Opfern wurden, wenn sie nicht rechtzeitig fliehen konnten, dass die Verfolgten des Regimes keineswegs besonders hoch im allgemeinen Ansehen standen. Gegen Widerstandskämpfer und Emigranten reichte die Skala bürgerlicher Vorurteile vom Vorwurf vaterlandslosen Verhaltens über die pauschale, oftmals eher moralisch als politisch gemeinte Abqualifizierung als Kommunisten bis hin zur Unterstellung, sie hätten durch ihr Exil oder durch ihren Widerstand Deutschland verraten. Das Misstrauen der Konformisten haben wohl alle irgendwann einmal erlebt, nicht nur Prominente wie Willy Brandt, dem man die norwegische Uniform ankreidete, als Hans Globkes Karriere längst ihren Höhepunkt erreicht hatte, oder Herbert Wehner, der einmal an einer Rede zum Gedenken der Opfer des 20. Juli gehindert wurde, weil er seinerzeit kein Konservativer, sondern ein linker, ein kommunistischer Gegner des Nationalsozialismus gewesen war.
Elemente im kollektiven Abwehrprozess sind aber nicht nur solche Verhaltensweisen oder eine bestimmte Form deutscher Wehleidigkeit, die ganz auf eigene Leiden fixiert ist, mit den Stichworten: Dresden und der alliierte Luftkrieg überhaupt, der Verlust der deutschen Ostgebiete, die Besetzung durch die Alliierten, schließlich die Teilung Deutschlands. Zur Wehleidigkeit fügte sich bei vielen Deutschen, die sich mit einem anderen Teil ihres Bewusstseins gerne international und kosmopolitisch zeigen, ein seltsamer Provinzialismus: Die nationalsozialistische Vergangenheit würden sie am liebsten als deutsche Familienangelegenheit, (notfalls als Familienstreit) behandeln. Aber nach außen dringen sollte möglichst nichts davon, im Ausland soll nur der gute Deutsche präsentiert werden. Die Missverständnisse sind dabei programmiert, denn der Nationalsozialismus ist immer noch eines der interessantesten deutschen Themen in der Welt; spürbar ist das immer dann, wenn Rechtsradikale in Deutschland von sich reden machen, und seien es noch so wenige und seien sie noch so lächerlich. Wenn sie freilich in provinzieller Selbstbescheidung darüber nicht reden wollen, dann dürfen sich die Bürger der Bundesrepublik auch nicht darüber wundern, dass Zweifel an der Stabilität der westdeutschen Demokratie bestehen, selbst wenn nicht der leiseste Grund dazu existiert. Dann sind die paar Rechtsradikalen und Neonazis in den Augen des Auslands eben nicht mehr so lächerlich und geringfügig. Dass der Nationalsozialismus einiges mehr war als nur ein Teil der deutschen Geschichte, ist in der Welt nicht vergessen worden.
Wie kann man den Kanon von Verhaltensweisen erklären, der in den ersten vier Jahrzehnten zur Abwehr der NS-Vergangenheit diente, der aktuell reaktiviert wird in den Absonderungen von Abgeordneten und Funktionären der AfD? Mit den Mitteln des Historikers lassen sich immerhin einige Feststellungen treffen.
Erstens, Die Herrschaft des Nationalsozialismus gründete sich auf der Ekstase der Mehrheit der Beherrschten. Das war mindestens für die „guten“, die außenpolitisch und militärisch erfolgreichen Jahre des Dritten Reiches der Fall - im Wesentlichen die Zeit zwischen „Machtergreifung“ bzw. Machtdurchsetzung 1933/34 und dem Sommer 1940, als Frankreich besiegt war und Hitler sich als den „größten Feldherrn aller Zeiten“ feiern ließ. In dieser Zeit herrschte breiter Konsens mit den Zielen des Regimes. Viele, die nicht Nationalsozialisten im Sinne der Ideologie oder der Mitgliedschaft oder nur der Sympathie mit der Hitlerbewegung waren, fühlten sich in ihren politischen Sehnsüchten verstanden, glaubten sich erlöst von der nationalen Schmach des Versailler Friedensvertrages, dessen Revision die Hitlerregierung betrieb, befreit vom Zank und Hader der „Systemzeit“ der Weimarer Republik, sie sahen die Demütigungen des Deutschen Reiches - Entwaffnung und alliierte Bevormundung, Rheinlandbesetzung, Ruhrkampf, Reparationsdruck - beendet, und sie befanden sich zum Teil auch auf der Seite des Regimes gegenüber den Verlierern der „Machtergreifung“, den Kommunisten, den „zersetzenden Intellektuellen“, der jüdischen Minderheit.
Zweitens. Im Kriege und angesichts der militärischen Katastrophe, die sich nach Stalingrad Anfang 1943 abzeichnete, wurde die Ekstase (die das Regime permanent inszenierte und durch perfekte Selbstdarstellung und Regie des öffentlichen Lebens in Gang hielt) ersetzt durch einen trotzigen Patriotismus, der nicht nach Ursachen fragte, sondern nur nach der Bedrohung des Vaterlandes, das auch mit einer bösen Regierung an der Spitze als unbedingt verteidigenswert galt. Außerdem war inzwischen der Terrorapparat des Regimes, der in der Konsolidierungsphase aufgebaut und erprobt worden war, so perfektioniert, dass die Herrschaft auch ohne Akklamation mühelos aufrechterhalten werden konnte. In gewissem Maß waren Konsens und freudige Zustimmung durch die Furcht vor den Zwangsmitteln ersetzt worden. Dazu kam aber auch die Furcht vor einer Niederlage gegenüber der Sowjetunion. Vermutlich war das sogar das stärkste Motiv zur Unterstützung des Regimes und zum Durchhalten, nämlich die von der Goebbelspropaganda weidlich stimulierte Urangst, vom zivilisatorisch inferioren Osten besiegt zu werden. Man schauderte vor der Imagination einer Roten Armee, die in der Nachfolge der Hunnen und Tataren auf deutschem Boden wüten würde. Da rückte man zusammen und schloss die Reihen fest.
Drittens. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Herrschaft bedurften sämtliche Varianten der Zustimmung zum Regime der Rechtfertigung - die Ekstase ebenso wie die Tolerierung aus patriotischen Gründen und das Nichtaufbegehren aus Angst. Zum Rechtfertigungszwang gesellte sich Scham sowohl über das Geschehene selbst als auch darüber, dass man es, wenn nicht applaudierend und es gut heißend, doch wenigstens schweigend hingenommen hatte. Zur Begründung waren alle Argumente willkommen, die sich da anboten, nämlich Untaten der Sieger während des Krieges, Kriegsverbrechen der Alliierten und ihre Kriegführung mit dem unnötigen Terror gegen die Zivilbevölkerung der deutschen Großstädte aus der Luft. Näherliegend und logischer war die Berufung auf Unkenntnis über die Gräuel (oder doch deren Ausmaße) des NS-Regimes, begangen in Konzentrationslagern an politischen Gegnern, Andersdenkenden und Minderheiten, in den besetzten Gebieten an Land und Leuten, Hab und Gut, Leib und Leben, verübt an den Opfern der nationalsozialistischen Rassenideologie, den millionenfach ermordeten Juden und Slawen, den Sinti und Roma und anderen.
Viertens. Entsetzen, Scham und Reue, mindestens aber die Verurteilung des NS-Regimes, seiner Exponenten und der von ihnen begangenen oder angeordneten Verbrechen wurden im Laufe des ersten Nachkriegsjahrzehnts von den Anstrengungen des Wiederaufbaus und der Bewältigung der Not überlagert und gingen endlich in Abwehr über. Man habe sich jetzt genug mit der unseligen Vergangenheit beschäftigt und im Übrigen daraus gelernt. Weiteres Erinnern wurde nun als lästiges Aufrühren verstanden, und viele hatten ohnehin das Schweigen auch jeder Reflexion vorgezogen.
Fünftens. Hinzu kam, dass die Arbeit mit der Erinnerung auch institutionalisiert und politisch instrumentalisiert wurde, in Forschung, Lehre, politischer Bildung und Propaganda. Das vermittelte einerseits das beruhigende Gefühl, dass bestimmte Instanzen von Amts wegen mit der „Bewältigung der Vergangenheit“ betraut und beschäftigt waren, andererseits erzeugte diese Delegation der Aufarbeitung des Nationalsozialismus Unsicherheit und neuen Leidensdruck. Die dargebotene Aufklärung wurde abgewehrt, weil sie dem einzelnen keine Identifikationsmöglichkeit bot. Das spürten die Amerikaner schon 1945, als sie die an den Gräueln unbeteiligte deutsche Zivilbevölkerung in den Konzentrationslagern an die Leichenberge führten, um ihr durch Augenschein die Schrecken des NS-Regimes zu demonstrieren. Auch der Film „Todesmühlen“, den die US-Army aus authentischem Material zusammenstellte und der 1946 in die deutschen Kinos kam, verfehlte aus diesem Grund seinen aufklärerischen Zweck und wirkte eher kontraproduktiv. Dazu kam, dass die Verurteilung des Nationalsozialismus einen Programmpunkt der „Umerziehung“ der Deutschen durch die Besatzungsmacht bildete. Gegen die „Umerziehung“ bäumte sich der Stolz der deutschen Kulturnation. Ein nicht geringer Teil der Aufarbeitung des Vergangenen fiel einfach der Tatsache zum Opfer, dass die Alliierten darauf bestanden, die Deutschen müssten über Hitler nachdenken.
Sechstens. Mit der Teilung Deutschlands spaltete sich auch das Bewusstsein der Deutschen. Zu den gemeinsamen Ressentiments angesichts schuldbeladener Vergangenheit kamen wechselseitige Rechtfertigungsstrategien. Im Westen diente die Totalitarismustheorie der Abgrenzung gegenüber der DDR: Stalin und Hitler seien wesensverwandt und die von ihnen personifizierten Ideologien Nationalsozialismus und Kommunismus seien gleichartig, sie unterschieden sich in ihrer Menschenfeindlichkeit allenfalls durch das Dekor. Im Osten verhalf die Staatsdoktrin des Antifaschismus – ob nur verordnet oder mit Überzeugung gelebt – dem DDR-Bürger zum Selbstbewusstsein im Gefühle der moralischen Überlegenheit angesichts des ökonomischen und internationalen Erfolgs des Feindstaats BRD über deren allzeit deklarierte politische Rückständigkeit.
Siebentens. Die Abwehr schlug schließlich in Trotz und Selbstmitleid um: Man habe gebüßt und bezahlt und wiedergutgemacht und entschädigt, lautet die verbreitete Meinung, aber trotzdem werde von „den Deutschen“ weiterhin und womöglich in alle Ewigkeit verlangt, das Büßerhemd zu tragen. Die These der Kollektivschuld werde endlos aufrechterhalten, das Rachebedürfnis der ehemaligen Feinde und Opfer sei grenzenlos.
Achtens. Dem müsse in neuem Selbstbewusstsein ein Ende gemacht werden, lautet jetzt die Forderung, die guten Tage der deutschen Geschichte müssten zur Stiftung nationaler Identität und des dringend nötigen Selbstbewusstseins halber ins Rampenlicht gerückt werden, man müsse endlich aus dem Schatten Hitlers heraustreten.
Den Bannkreis der zwölf nationalsozialistischen Jahre zu verlassen, war auch nach der Weizsäcker-Rede 1985 nicht möglich. Nicht nur aus ethischen Gründen, solange Verbrechen ungesühnt und Opfer immer noch nicht entschädigt sind. Als politische Forderung ist das Ende der Beschäftigung mit dem leidigen Thema werbewirksam, und das Postulat wird also je länger desto stärker erhoben. Das demonstriert nicht nur der rechtsradikale „Flügel“ der AfD, den Björn Höcke von Thüringen aus anführt. Als Gegenstand wissenschaftlichen Bemühens wird die nationalsozialistische Zeit kaum an Faszinationskraft einbüßen, auch wenn die Gelehrten neue Fragestellungen entwickeln und dabei das Dritte Reich als einen Abschnitt der Geschichte wie andere auch betrachten. Wissenschaftlich, wenn es der Erkenntnis dient, ist das legitim; fatal wird es aber dann, wenn politisches Interesse mit quasi wissenschaftlichem Fragen verbrämt wird, das nur dazu dient abzulenken, aufzurechnen und das Geschehene zu relativieren oder zu verniedlichen.
Allgegenwärtig bleibt der Nationalsozialismus aber auch noch lange als psychisches Problem der deutschen Gesellschaft nach Hitler, in der Generationenfolge sind die Spätgeborenen nicht begnadet, nicht einmal begünstigt; der Arbeit der Auseinandersetzung mit den Vätern kann niemand ohne Schaden zu leiden aus dem Weg gehen. Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist es, die das Erbe heillos macht, der aussichtslose Versuch mindestens einer ganzen Generation, den Nationalsozialismus als politisches, historisches, juristisches Phänomen zu isolieren und die sozialpsychologische Dimension des Themas abzuspalten.
Für das Bewusstsein nicht weniger folgenreich als die freudige Zustimmung war die psychische Korruption derjenigen, die unter beträchtlichem Verlust an Selbstachtung sich dem Regime anpassten, obwohl sie es ablehnten. Bruno Bettelheim hat diesen Vorgang, den Verlust an Selbstachtung und innerer Autonomie am Beispiel des Hitlergrußes anschaulich beschrieben: „Diesen Gruß hat man damals mit Vorbedacht eingeführt, um überall dort, wo Leute zusammenkamen - sei es nun im privaten Bereich oder im öffentlichen Rahmen von Restaurants, Omnibussen, Büros, Fabriken oder auch auf der Straße - sofort zu erkennen, ob jemand seine Freunde oder Bekannte auf alte ‚demokratische‘ Weise begrüßte. Den Anhängern Hitlers vermittelte der oftmals am Tag abgegebene Hitlergruß das Gefühl der Selbstbestätigung und der Macht. Der überzeugte Nazi wurde jedesmal, wenn er den Gruß ausführte, in seinem Ich bestärkt. Für den Regimegegner sah die Sache genau umgekehrt aus. Er machte jedesmal, wenn er jemanden in aller Öffentlichkeit auf diese Weise begrüßte, die Erfahrung, dass sein Ich erschüttert und seine Integration geschwächt wurde. Wäre es lediglich das Über-Ich gewesen, das sich gegen den Gruß sträubte, die Sache hätte sich einfacher angelassen; doch dieser Gruß spaltete den Regimegegner mittendurch.“
Die über den Untergang des NS-Regimes hinaus wirkende Spaltung des Bewusstseins ist aber nur ein Ansatz zur Erklärung der Schwierigkeiten in der individuellen wie der kollektiven Ablösung vom Nationalsozialismus. Ein weiteres Hemmnis besteht in den unterdrückten Schuldgefühlen, in dem Vorgang, den die Mitscherlichs Derealisierung der Wirklichkeit nannten: „Wir haben keine kleinliche Wiedergutmachungsleistung an jenen Überrest europäischer Juden bezahlt, die wir verfolgten und noch nicht töten konnten. Aber die wirklichen Menschen, die wir da unserer Herrenrasse zu opfern bereit waren, sind immer noch nicht vor unserer sinnlichen Wahrnehmung aufgetaucht. Sie sind ein Teil der derealisierten Wirklichkeit geblieben.“
Zitierweise: Wolfgang Benz, "Zwischen Amnesie und Erinnerungskultur" - Die Deutschen und der 8. Mai 1945, in: Deutschland Archiv, 24.5.2019, Link: www.bpb.de/291762