Erdoğan: Der neue Enver Pascha?
Auf die Frage eines Journalisten, was das Ziel der türkischen "Operation Olivenzweig" in Syrien sei, antwortete ein sich auf dem Weg zu diesem Militäreinsatz befindender türkischer Soldat: "Kızıl Elma" (deutsch: "Goldener Apfel"). Staatspräsident Erdoğan griff dies auf und bestätigte, dass das Ziel der Operation gegen die syrisch-kurdische Stadt Afrin der "Goldene Apfel" sei. Der "Goldene Apfel" steht seit dem Osmanischen Reich sinnbildlich für den imperialen Anspruch und die Herrschaft der Osmanen in Europa. Heute wird der "Goldene Apfel" sowohl als Symbol des Panturkismus als auch des Turanismus verstanden.
Die Idee des Groß-Türkentums erreichte ihre Blütezeit mit dem Aufstieg der Jungtürken und ihrer Machtübernahme im Osmanischen Reich ab 1908.
Das Regime unter Erdoğan weist durchaus Parallelen und Gemeinsamkeiten mit dem politischen System der Jungtürken auf. Die "neue Türkei", die Erdoğan stets propagiert, ist eigentlich ein "alter", gut bekannter Staat.
Hinwendung zu einer "eurasischen Außenpolitik" in der Türkei seit 2016
Seit der Jahrtausendwende hat die türkische Außenpolitik bereits zwei tiefgreifende Wandlungen durchlaufen: die erste Phase von 2002-2011 kann als "Europäismus/Atlantizismus" bezeichnet werden
Ankara leitet momentan einen abermaligen Kurswechsel in seiner Außenpolitik ein, nachdem die Versuche der Türkei, sich als sunnitisch-islamische Führungsmacht im Nahen Osten zu positionieren, sich als weitgehend erfolglos erwiesen hatten. Denn Russland und der Iran konnten ihre jeweilige Position in der Region stärken, die Kurden sind zu einem ernstzunehmenden geopolitischen Akteur aufgestiegen und die Türkei wurde innenpolitisch durch den Putschversuch vom 15. Juli 2016 geschwächt. Durch den vereitelten Putsch und das damit wiedererstarkende ultra-kemalistische Lager im Militär wurde in der AKP-Führung sowie in großen Teilen der türkischen Politik und Bevölkerung die Meinung befeuert, dass hinter dem u.a. von Fethullah Gülen-treuen Militärs organisierten Staatsstreich letztlich die USA gestanden haben.
In dieser Situation witterten rechtextreme und eurasisch orientierte Kräfte in der Türkei Morgenluft und nutzten die Gunst der Stunde, um nach dem Putsch gegenüber der türkischen Führung unter Präsident Erdoğan für ihre nationalistisch-eurasischen Ideen zu werben. Hierzu zählen insbesondere die linksnationalistisch-kemalistische Vaterlandspartei (Vatan Partisi – VP) um Doğu Perinçek und die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) unter Devlet Bahçeli.
Die Vaterlandspartei (VP) ist mit weniger als einem Prozent zwar eine bei Wahlen völlig unbedeutende Partei, doch im prorussischen und eurasischen Diskurs in der Türkei stellt sie mit ihrer Tageszeitung Aydınlık, zwei Zeitschriften, einem eigenen Verlag und einem Fernsehsender eine einflussreiche Stimme dar. Bezeichnend sind auch die engen Verbindungen, die die Partei zu Alexander Dugin, einem wichtigen rechtspopulistischen Vordenker eines von Russland geführten eurasischen Raumes unterhält. Dugin wiederum hat offenbar enge Kontakte zu Führungsfiguren im Umfeld des russischen Präsidenten Putin und gilt als Ideengeber für die Neugestaltung der aktuellen russisch-türkischen Beziehungen.
Alexander Dugins Eurasismus geht von einem zusammenhängenden "Kontinent Eurasien" aus. Eurasien umschließt nach seinen Vorstellungen Russland und seine Partner, darunter die Türkei, Iran, China, Indien, den postsowjetischen Raum, einschließlich der Mongolei, sowie den slawischen Teil Südosteuropas (z.B. Bulgarien und Serbien). Ein solcher von Moskau angeführter Raum versteht sich als Gegenentwurf zu Westeuropa im Besonderen und die westliche Welt im Allgemeinen, weshalb das angeblich durch die US-Amerikaner besetzte Europa letztlich mithilfe Russlands befreit werden müsse.
Einer der Gründe für die außen- und sicherheitspolitische Neuorientierung der Türkei ist die offenkundige Enttäuschung Ankaras über die immer lautere Kritik in den westeuropäischen Hauptstädten und in Washington am zunehmend autokratischen und nationalistischen innen- und außenpolitischen Kurs der Türkei unter Präsident Erdoğan. In der Folge finden antiamerikanische und antieuropäische Reflexe verstärkt Eingang in die türkische Außen- und Sicherheitspolitik.
Die US-amerikanisch-türkischen Beziehungen werden u.a. durch die Festnahme eines US-Priesters und eines türkischen Mitarbeiters der US-Botschaft in Ankara sowie durch die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels belastet.
Vor allem aber schürt die fortgesetzte militärische Unterstützung der USA für die syrischen Kurden, die mit den Volksverteidigungseinheiten (YPG) im Kampf gegen den IS den Kern der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ausmachen, die türkische Angst, dass der Westen auf diese Weise – zumindest indirekt – einen unabhängigen Kurdenstaat fördert und somit die territoriale Integrität der Türkei gefährdet. Inzwischen werden aus dem engsten Beraterumfeld Erdoğans Forderungen laut, die NATO-Mitgliedschaft der Türkei zu überdenken.
Erste substanzielle Anzeichen dafür, dass Ankara dem angekündigten außenpolitischen Kurswechsel auch Taten folgen lässt, sind der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 und damit der bislang größte Rüstungsdeal zwischen der Türkei und Russland, der geplante Bau des Atomkraftwerks in Akkuyu unter Beteiligung russischer staatlicher Unternehmen sowie die Gaspipeline "Turkish Stream" der russischen Firma Gazprom. Die Deals werden zweifellos den russisch-türkischen Beziehungen Auftrieb verschaffen und die Achse Ankara-Moskau zunächst stabilisieren.
Mit dem Astana-Prozess, der zur Befriedung des Syrienkonflikts (parallel zu den UN-Friedensgesprächen in Genf) in der kasachischen Hauptstadt stattfindet, hat Russland zudem erreicht, neben dem Iran auch die Türkei als "Garantiemacht" einzubinden. Russland unternimmt alles, um den Keil noch tiefer in das Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen zu treiben und ist dafür sogar bereit, seinen kurdischen Bündnispartner – die PYD (Partei der Demokratischen Union) – im Kampf gegen den IS im Stich zu lassen.
Die so noch vor wenigen Jahren undenkbare Allianz zwischen den ehemaligen Erzrivalen Türkei, Russland und dem Iran wurde indirekt auch durch die Entwicklungen im Nordirak gestärkt. Angesichts des Referendums vom 25. September 2017 über die Unabhängigkeit der Autonomen Region Kurdistans entschieden sich die Türkei, der Iran und der Irak aus Furcht vor einem unabhängigen Kurdenstaat dazu, gemeinsam gegen die Pläne der Regionalregierung in Erbil und gegen die kurdischen Einheiten im Nordirak vorzugehen.
Die Türkei hat sich allerdings mit ihrer Politik von Russland und Iran abhängig gemacht, die derzeit zu den Gewinnern des Syrienkonflikts gehören. Ankara spielt diesbezüglich nur noch eine zweitrangige Rolle. Geopolitisch betrachtet hat sich sein Handlungsspielraum durch die Kooperation mit Moskau und Teheran nicht erweitert, was u.a. daran liegt, dass Russland die Türkei sowohl an ihrer nördlichen Grenze (Schwarzes Meer) als auch südlich ihres Staatsgebietes (angesichts der russischen Präsenz in Syrien) faktisch eingekesselt hat. Außerdem befindet sich mit dem Vorrücken Irans in den Nordirak nun ein alter regionaler Rivale sowohl östlich als auch südlich der türkisch-irakischen Grenze.
Fazit und Ausblick
Der neue, auf Russland als aktuelle regionale Führungsmacht fixierte außenpolitische Kurs Ankaras wird vermutlich keine großen Erfolgsaussichten haben. Das hat erstens historische Gründe, denn aufgrund mehrerer erbitterter russisch-türkischer Kriege ist das historische Gedächtnis auf beiden Seiten von tiefsitzenden gegenseitigen Stereotypen und Ressentiments geprägt. Zweitens stehen sich die Staatsideologien der beiden Länder diametral entgegen: Russland unter Putin hat ein russisch-orthodoxes, die Türkei hingegen ein türkisch-sunnitisches Staatsverständnis. Und drittens bestehen für die Türkei durch ihre ökonomisch-institutionelle Verankerung mit der EU und der NATO strukturelle Abhängigkeiten vom Weltwirtschaftssystem und von der westlichen Sicherheitsarchitektur.
Kurzfristig mag sich der türkische Versuch, mit Russland und dem Iran ein strategisches Bündnis einzugehen, für Ankara auszahlen (z.B. durch die Verhinderung eines Kurdenstaates). Allerdings wird die Türkei in dieser Dreiecksbeziehung zwangsläufig nur der Juniorpartner sein und deshalb auf lange Sicht eher verlieren. Wie brüchig die Allianz zwischen Moskau, Teheran und Ankara ist, zeigen die zum Teil divergierenden Reaktionen im Kontext der türkischen Militäroffensive "Operation Olivenzweig" im syrischen Afrin.
Deshalb ist es gut möglich, dass sich auch der Eurasismus nicht langfristig als außenpolitisches Paradigma der Türkei etabliert und sich Ankara in naher Zukunft wieder mit einem spontanen Manöver von seinem eurasischen Abenteuer verabschiedet. Eine schnelle Rückkehr zu einem pro-europäischen Kurs scheint allerdings aus heutiger Sicht nicht besonders wahrscheinlich. Das hat hauptsächlich innenpolitische Gründe. Die Türkei steuert 2019 mit drei Wahlen (Kommunal, Parlaments- und Staatspräsidentschaftswahlen) auf ein Superwahljahr zu. Da ist Erdoğan für seine Wahl zum Staatspräsidenten auf die Unterstützung der rechtsextremen MHP und der ultra-kemalistischen Kräfte im Militär angewiesen.