Rudi Dutschke war die Gallionsfigur der studentischen Proteste innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in der Bundesrepublik. Als „Abhauer" aus der DDR stellte sich die nationale Frage für ihn auf eine besondere Art und Weise. Matthias Stangel skizziert in seinem Beitrag die Bedeutung nationaler Elemente in den sozialistischen Konzeptionen Dutschkes.
Rudi Dutschke und die nationale Frage
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„Der Hauptfeind ist das eigene Land!“, „No love for a Deutschland!“, „Nationalismus. Patriotismus. Rassismus. Deutschland ist tödlich!“ oder „We love Volkstod! Für etwas Besseres als die Nation!“ – dies sind nur schnell zusammengetragene Beispiele für Parolen und Slogans, unter denen in der Bundesrepublik im Laufe der letzten Jahre ausdrücklich als „antinational“ angekündigte Demonstrationen stattfanden. Die Reihe solcher Fälle ließe sich weiter fortführen und verdeutlicht damit das Spannungsverhältnis vieler politisch Linker zur Kategorie der Nation. Ein nicht unbedeutender Teil von ihnen vertritt eine nahezu bis dezidiert anti-nationale Haltung. Diese lässt sich in verschiedenen Abstufungen auch bei Teilen der parlamentarisch etablierten Parteien feststellen.
Jedoch ist das Verhältnis der Linken zur Nation keineswegs durchgängig negativ, handelt es sich doch zum einen bei der „Linken“ um ein sehr heterogenes Spektrum. Zum anderen sind die Debatten in Bewegung: So liegt ein Motiv für die Zwiespältigkeit im Bezug zur Nation darin, dass sich das heutige linke Spektrum mit der fortschreitenden Entmachtung der Nationalstaaten durch supra- und internationale Institutionen, wie der EU-Kommission, der Welthandelsorganisation, dem Internationalen Währungsfonds, oder dem Treffen der 20 wichtigsten Industrienationen, dem „G20“-Treffen, konfrontiert sieht. Für viele sind diese Organisationen mit einer immanenten Gefahr einer Entdemokratisierung von Strukturen verknüpft, die ehemals die Domäne nationalstaatlich legitimierter Politikprozesse waren, und ihre Existenz wird als epochaler Wandel hin zu einer Postdemokratie begriffen.
Rudi Dutschke: Emotionale und politische Haltung zur nationalen Frage
Die Frage nach dem Verhältnis der Linken zur Nation ist daher ein wichtiger Untersuchungsgegenstand und offenbart eine stets von Widersprüchen, Kontroversen und historischen Prozessen geprägte Debatte.
Zunächst lässt sich feststellen, dass dieser Aspekt tief in seiner Biografie verwurzelt ist. Bereits im Jahre 1958 hatte Dutschke in der DDR anlässlich einer Generalversammlung an seiner Oberschule in seiner Funktion als Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und Leiter der Sportabteilung eine Rede gehalten, in der er „die herrschende Bürokratie“ in der DDR angegriffen sowie sich „gegen die Spaltung des Landes“ ausgesprochen hatte.
„Ich bekannte mich zur Wiedervereinigung, bekannte mich zum Sozialismus, aber nicht zu dem Sozialismus, wie er betrieben wurde, und sprach mich gegen den Eintritt in die ‚Nationale Volksarmee‘ aus. Ich war nicht bereit, in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen, in einer Bürgerkriegsarmee, und zwar in zwei deutschen Staaten, ohne wirkliche Selbständigkeit auf beiden Seiten, das lehnte ich ab.“
„Die ‚deutsche Frage‘ war mir nie fremd, ich verließ die DDR nicht, um in ein ‚Exil‘ zu gehen. Zwar in fremde Verhältnisse, aber nicht in ein fremdes Land“.
„Mir fiel die Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland ebenso schwer wie die der DDR. Ich verstand darunter eine Verewigung des Spaltungszustandes. Sollten meine Brüder ihren Geburtsort Koblenz nie kennenlernen, sollte ich als einer aus dem Brandenburgischen den Rhein nie sehen? Das wollte ich nicht hinnehmen“.
Gleichwohl mögen Dutschkes emotionale und politische Haltung zur nationalen Frage zwar nicht zuletzt durch die Studien von Wolfgang Kraushaar und Bernd Rabehl einem eingeweihten Kreis bekannt sein, in das allgemeine Bewusstsein scheinen sie noch nicht gedrungen sein. Die linke tageszeitung wird bei der von ihr initiierten Umbenennung einer Straße in Berlin eher das Idealbild des hundertprozentigen Internationalisten Rudi Dutschke vor Augen gehabt haben. Doch durch einen neuen Quellenfund ist nun erstmals eine in emotionaler und pathetischer Hinsicht noch tiefere Ebene in seinem Heimatgefühl deutlich geworden. Im Nachlass hat sich das gleichermaßen patriotische wie auch differenzierende Urteil des Sozialisten Dutschkes zur eigenen Nation gefunden – auf einem Zettel, lose in ein Buch gesteckt, notierte er handschriftlich:
„Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein: (Warum ich aber dennoch stolz bin) Wie jedes Volk das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis hat, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viel Rückschläge gewesen sein.“
Tiefer Wunsch nach deutscher Normalität
Diese, nun erstmals archivalisch erschlossene Quelle ist von hohem Stellenwert: Rudi Dutschke schreibt hier in einer eindeutigen Weise seine Haltung zu seinem Vaterland nieder. In diesem Zusammenhang wird zwar auch wieder die historisch bedingte Ambivalenz deutlich („Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein“), gleichwohl fordert Dutschke in deutlicher Form, dass eben auch den Deutschen das Recht auf eine patriotische Haltung zugestanden werden sollte – Patriotismus war für ihn ein Bedürfnis, ja sogar die Pflicht eines jeden Volkes. Verdeutlicht wird dies an gleicher Stelle, denn Dutschke benutzt hier zur Klassifizierung seiner Verbundenheit zu Deutschland erstmals den Begriff „Stolz“.
Diese Notiz ist damit aus mehreren Gründen bedeutsam:
Erstens handelt es sich hier um ein emotionales, gar pathetisches Bekenntnis Dutschkes, verdeutlicht durch die Kategorie des „Stolzes“, das sich in dieser Form nicht in seinen bekannten Publikationen zur nationalen Frage findet. Erst aus dieser neuen Perspektive heraus lässt sich besser verstehen, weshalb Dutschke sich hin- und hergerissen fühlte in seiner Haltung zum gleichermaßen „geliebten, aber auch verachteten Deutschland".
Zweitens dürfte dieses Bekenntnis selbst seiner eigenen Familie gänzlich unbekannt oder zumindest unverständlich gewesen sein. Für diese Annahmen spricht zum einen, dass Dutschkes Sohn Marek, der seinen Vater nie persönlich kennengelernt hat, in offensichtlicher Unkenntnis von dieser Äußerung seines Vaters strikt ausgeschlossen hatte, dass Rudi Dutschke ein ebensolches Bekenntnis des Stolzes auf Deutschland je hätte kundtun können.
Drittens ist davon auszugehen, dass Dutschke mit dieser eindeutig formulierten Forderung sowie dem Festhalten an einer deutschen Einheit auch bei seinen politischen Mitstreitern auf Desinteresse, Unverständnis oder sogar Widerstand gestoßen wäre: Hatte doch etwa der SDS mit großer Mehrheit seine deutschlandpolitische Position von einer strikten Befürwortung der deutschen Einheit aus den 1950er Jahren zu einer sukzessiven Akzeptanz der Zweistaatlichkeit in den 1960er Jahren gewandelt.
„Zu der fundamentalen Frage der nationalen Geschichte und Identität, zur Rekonstruktion deutscher Klassenkampfgeschichte stießen wir noch nicht vor; der abstrakte und dennoch historisch noch unvermeidliche, tief moralisierende Internationalismus hatte zweifellos Elemente der Fremdbestimmung und der Sehnsucht nach einer echten Identität in sich“.
„Daß die systematische Spaltung Deutschlands für das Weltmachtverständnis der herrschenden Klasse Amerikas und Russlands von elementarer Bedeutung war, bedarf keiner weiteren Erklärung. Ein gespaltenes Dasein, eine weitere Eliminierung eines geschichtlichen Klassenbewußtseins der deutschen Arbeiterklasse, die Verhinderung einer Wiedergewinnung, - dies war das Ziel und die Folge der Politik der Großmächte. Wir wurden befreit und gleichzeitig neu besetzt. Sich dieser Dimension bewußt zu werden, fällt den meisten von uns noch heute schwer.“
Die Kenntnis der eigenen Geschichte ist unerlässlich
In diesem Rahmen betonte Dutschke auch immer die für ihn elementare Bedeutung der eigenen Geschichte und Identität, die er als maßgebliches Moment im Emanzipationsprozess betrachtete:
„Die deutsche Sozialismusfrage ist auch eine Frage der Identifikationsgeschichte. Sozialisten und Kommunisten aus anderen europäischen Nationen haben einen ungeheuren Vorteil: Sie haben noch eine nationale Identität, nicht die Identität der Bourgeoisie, sondern eine nationale Identität des Volkes und der Klasse, in Relation zur sozialen Bewegung. Durch die Zerstörung der deutschen Kultur- und Produktionszone nach dem 2. Weltkrieg, durch die Teilung des Landes, ist eine Situation entstanden, wo die Arbeiterklasse in diesem Land einen besonderen Identitätsverlust erlitten hat.“
„Wir sind ein gespaltenes Volk, ein gespaltenes Land, ein identitätsloses Volk geworden, ein geschichtsloses Volk, auch ohne Klassenkampfkontinuität, und wir haben auf der einen Seite Russifizierung und auf der anderen Seite jene Amerikanisierung an der Oberfläche, die aber nicht authentische Selbstständigkeit möglich gemacht hat nach dem zweiten Weltkrieg. Das sind Realitäten, die ich nicht ignorieren kann.“
„Sozialismus in einem Land ist immer ein Nonsens. Die Diskussion bei Stalin über den Sozialismus in einem Land war reiner Unsinn und eine Diktatur von oben nach unten. […] Heute kann man Sozialismus nur als ein kontinentales Problem auffassen, also ein europäisches. Europa als Tradition der Geschichte der Produktion, der Geschichte der Kultur und der Erfahrung der Klassenkämpfe“
„Die scheinbar internationale Unvermeidlichkeit eines ‚gemeinsamen Europas‘, auch wenn es ‚rotes Europa‘ heißt, verdrängt die historisch gewachsenen und noch lange nicht beseitigten Elemente der nationalen Besonderheiten.“
In diesem Zusammenhang würde dann „die deutsche Wiedervereinigung als Glied des gesamteuropäischen Sozialismus denkbar“ werden.
„Ich kann keine nationale Identität echt gewinnen, wenn nicht gleichermaßen ich einen Blick habe auf den europäischen Kontinent, und europäischer Kontinent heißt ja nichts anderes als europäische Entwicklung von Produktivkräften, Kultur, gleichermaßen aber auch Klassenkampferfahrung. Die europäische Erfahrung ist nicht die amerikanische Erfahrung, ist auch nicht die russische Erfahrung“.
Rudi Dutschke und die deutsche Linke
Daher dürfen der hohe Stellenwert der nationalen Frage in Dutschkes Konzeptionen sowie sein ureigenes Nationalbewusstsein nicht verkannt werden. Und es war Dutschke, der ebenfalls die nationale Geschichtslosigkeit der politischen Linken zu seiner Zeit kritisierte:
„Warum denken deutsche Linke nicht national? Die sozialistische Opposition in der DDR und in der Bundesrepublik müssen zusammenarbeiten. Die DDR ist zwar nicht das bessere Deutschland. Aber sie ist ein Teil Deutschlands.“
Rudi Dutschke kann in diesem Kontext bis heute als Beispiel für einen expliziten Linkspatriotismus angesehen werden. Seine Konzeptionen könnten damit in der aktuellen Auseinandersetzung als Beleg dafür dienen, dass sich die nationale Frage eben nicht nur entweder als Souveränitäts- oder als Identitätsfrage stellen kann: Rudi Dutschke stellte sie auf beiden Ebenen.
Zitierweise: Matthias Stangel, Rudi Dutschke und die nationale Frage, in: Deutschland Archiv, 28.12.2017, Link: www.bpb.de/262189
Dr.; geboren 1978; Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren und Neuesten Geschichte und Rechtswissenschaften in Bonn und Salamanca. Zuletzt als Projektleiter in der Unternehmensentwicklung tätig, lebt als Lektor und Publizist in der Nähe von Köln. Letzte Veröffentlichung: Zwischen allen Stühlen. Grenzgänger im 20. Jahrhundert, Augsburg 2017 (herausgegeben von Matthias Stangel und Kristof Niese).
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