Einleitung
Der Niedergang der Regierung Kohl wurde auch in der politikwissenschaftlichen Diskussion mit der Fragestellung verbunden, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland in einer Zeit knapper werdender finanzieller Mittel und im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch die institutionelle Fähigkeit zu konsequenten Selbstreformen hat: "Die konstitutionell bedingte Unfähigkeit zur Veränderung wird zur Belastung."
Der Blockadevorwurf gegenüber der damaligen SPD-Opposition erzielte keine wahlentscheidende Wirkung
Deshalb stellt sich nach dem Regierungswechsel 1998 erneut die Frage nach der Regierbarkeit Deutschlands und anderer moderner Industriegesellschaften, oder konkreter formuliert: Über welche tatsächlichen und nicht nur formalen Entscheidungskompetenzen verfügen Deutscher Bundestag und die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland? Wird nicht in einer sich globalisierenden Welt der Einfluss der politischen Institutionen auf den Gang der Dinge überschätzt? Die Frage der "Handlungsfähigkeit"
Einst war das moderne deutsche Grundgesetz ein Modell für Verfassungsberatungen in vielen Teilen der Welt. Die institutionell-verfassungspolitischen Besonderheiten der Bundesrepublik Deutschland und die schwerfälligen Entscheidungsmechanismen - die von den einstigen Siegermächten auch so gewollt waren
Diese wenigen Fakten erläutern, warum im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und in den darauf aufbauenden Beratungen des Parlamentarischen Rates in den Jahren 1948/49 die föderale Ordnung festgeschrieben wurde. Die Überlegung, die zustimmungspflichtige Gesetzgebung nur auf einen schmalen Raum zu begrenzen, sollte sich als ein folgenschwerer Irrtum erweisen. Dem Bundesrat wurde zudem die Funktion eines "Widerlagers" zur Parteipolitik zugedacht. Doch kam der Bundesrat immer mehr in den Sog der parteipolitischen Auseinandersetzungen
Kaum ein anderes demokratisches Land ist durch ein so verfeinertes System von "checks and balances", von Machtteilung, Machtverschränkung, aber auch Machtferne definiert wie das deutsche, in dem kraftvolles Regieren aufgrund unterschiedlichster, jedoch parallel wirkender Einflusssphären erschwert wird. Diese vielfältigen Faktoren - hierzu gehört auch die Tatsache, dass mit der Ausnahme der Erringung der absoluten Mehrheit durch Konrad Adenauer im Jahre 1957 alle Regierungen auf Bundesebene aus Koalitionen verschiedener Fraktionen gebildet wurden - werden in ihrer Gesamtwirkung unterschätzt. Die Probleme der Politikverflechtung in Deutschland nur auf den Föderalismus zurückzuführen wäre allerdings nicht angemessen. Andere Faktoren - zum Beispiel Globalisierung, Europäisierung, Trends zur detailorientierten Rechtsprechung der Gerichte - spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Angesichts der herausragenden Bedeutung des Bund-Länder-Verhältnisses sind jedoch die ersten drei der insgesamt zehn folgenden Thesen zur Machtteilung und Machtverschränkung in Deutschland den besonderen Herausforderungen durch den Föderalismus gewidmet.
Erstens: Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland - vor allem die Verschränkung der Kompetenzen von Bund und Ländern und die stete Ausweitung der Zustimmungspflicht durch den Bundesrat - erschweren auf der Bundesebene kraftvolles Regieren oder machen dieses - je nach politischer Konstellation, und dies insbesondere in Wahlkampfzeiten - unmöglich.
In keinem Land der Welt haben so viele Instanzen Verhinderungsgewalt wie in Deutschland - vielleicht mit Ausnahme der Schweizer "Konkordanzdemokratie". Es geschehen zudem durch eine dauernde Abfolge von Landtags- und wichtigen Kommunalwahlen politische "Testläufe", indirekte Plebiszite zur Bundespolitik. In Großbritannien hingegen regiert faktisch nur die Mehrheit, mit der nach einem Regierungswechsel wichtige Grundentscheidungen sofort herbeigeführt werden können. In den ebenfalls föderal geprägten USA hingegen ist die Ebene der Bundespolitik sehr viel stärker von den Kompetenzen der einzelnen Bundesstaaten getrennt. Das deutsche Modell des "kooperativen Föderalismus" jedoch, nach dem die Länder häufig in "Auftragsverwaltung des Bundes" tätig werden, ist dann besonders kompliziert, wenn eine von Landesregierungen nicht gewollte Politik (zum Beispiel im Umweltbereich, in der Asylpolitik) durch die Landesverwaltung umgesetzt werden muss
Der Trend zur Unitarisierung zeigte sich in der stetigen Ausweitung der Zustimmungspflicht durch den Bundesrat in den letzten Jahrzehnten: Sah nämlich das Grundgesetz ursprünglich nur in 13
Ferner muß noch einmal auf die nicht zu bestreitende parteipolitische Instrumentalisierung des Bundesrates (durch Regierungs- wie auch Oppositionsparteien) hingewiesen werden, auch wenn die im Bundesrat das jeweilige Bundesland repräsentierenden Landesregierungen durch ihre Landesverfassungen auf das Wohl ihres Landes vereidigt wurden
ein Organ der jeweiligen Opposition zur Erlangung bzw. zur Beschränkung von Regierungsmacht entwickelt hat, zeigt die Geschichte
Insgesamt wird immer wieder in der politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Literatur eine Überlagerung des Bundesstaatsprinzips durch das Parteienstaatsprinzip konstatiert
Zweitens: Der Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund vielfältiger Verflechtungen zwischen Bund und Ländern in einer ernsthaften Krise, weil es nicht nur an einer klaren Kompetenzabgrenzung mangelt, sondern weil zugleich die Autonomie der Länder durch zunehmende Abhängigkeit vom Bund eingegrenzt wird. Je weniger die Länder materiell auf ihrer eigenen Ebene zu bestimmen haben, umso mehr werden sie sich in die Bundespolitik einmischen. Dies führt zu zunehmender Gewaltenverschmelzung zwischen der Bund-Länder-Ebene.
Der Föderalismus kommt unter zunehmenden Rechtfertigungszwang. Die Hauptverlierer der Strukturveränderungen sind die Landesparlamente, während die Landesregierungen über den Bundesrat und durch ihre erstrittenen Europakompetenzen kräftig mitzumischen wissen. Die Länder haben in der Europapolitik inzwischen mehr zu sagen als der Bundestag. Insgesamt aber wurden die Länderkompetenzen einerseits immer mehr ausgehöhlt. So hat der Bund immer mehr die konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen - die für Länderregelungen nur so weit offen stehen, als sie vom Bund nicht ausgefüllt werden - ausgeschöpft. Dies war in den meisten Fällen auch deshalb geboten, weil manche Probleme nicht im Rahmen der Bundesländer effektiv gelöst werden konnten. Regelnotwendigkeiten ergaben sich auch deshalb, weil länderübergreifender Koordinierungsbedarf vorlag. Zwar hatte das Grundgesetz den Zugriff des Bundes von einem "Bedürfnis" nach bundeseinheitlicher Regelung abhängig gemacht, doch verlor diese Klausel deshalb früh an Kraft, weil das Bundesverfassungsgericht sie als nicht justitiabel erklärte
Am Beispiel der gegenwärtigen Hochschulreformdiskussion zeigt sich, wie gering der "Wettbewerbsföderalismus" ausgeprägt und wie klein der Entscheidungsspielraum der Bundesländer sogar in ihrem eigenen Kern- und Kompetenzbereich, der Kultur- und Hochschulpolitik, ist. Warum setzten sich nicht solche schon seit vielen Jahren erhobenen Forderungen durch, die den Ländern mehr innere Selbständigkeit und Gestaltungskraft geben wollen? Die Möglichkeiten der "Rückholklausel" im neuformulierten Art. 72 des Grundgesetzes (in Verbindung mit Art. 125 a) sollten dazu genutzt werden, das bisherige Machtverflechtungssystem zu überwinden und Bund und Ländern stärker "eigene" Kompetenzen einzuräumen. Eine zwangsläufige Konsequenz dieser Forderung wird aber die Relativierung der Zielsetzung der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" (Art. 72 GG) sein, die ja ganz automatisch immer mehr Bundeskompetenzen erforderte.
Kompetenzprobleme lediglich auf das Verhältnis Bund-Länder zu begrenzen wäre gleichwohl verengt, denn es stellt sich ebenfalls die Frage nach der Autonomie der Kommunen. Nach Artikel 28 Abs. 2 GG wird den Gemeinden zwar das Recht eingeräumt, "alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln", doch klagen die Kommunen trotz dieses grundsätzlichen Schutzes im Grundgesetz ebenfalls über den Verlust eigener Verantwortlichkeiten sowie über den Mangel an echter Subsidiarität auch im Verhältnis zu den Bundesländern. Verfassungsrechtlich ist die kommunale Selbstverwaltung eine Angelegenheit der Bundesländer - weshalb die Länder betonen, "dass die Bundesrepublik ein zweifach und nicht ein dreifach gegliedertes Regierungssystem darstellt"
Drittens: Die weitgehende Zentralisierung des deutschen Steuersystems führt dazu, dass die wichtigsten Steuergesetze auf Bundesebene beschlossen werden und die am "Steuerkuchen" partizipierenden Länder zustimmen müssen. Durch die vom Umfang her relativ geringen, in eigener Souveränität eingezogenen Landessteuern findet letztlich eine Aushöhlung des Föderalismus statt, da das bestehende Länder-Finanzausgleichssystem ein eigenes Steuer- und Ausgabenprofil der einzelnen Bundesländer verwischt, somit letztlich leistungsfeindlich ist.
Das Grundgesetz sah in seiner am 23. Mai 1949 in Kraft getretenen Form ein Trennsystem für Steuern vor. Während dem Bund die Gesetzgebungs- und Ertragshoheit über die Zölle, die meisten Verbrauchssteuern sowie die Umsatzsteuer übertragen wurde, besaßen die Länder die Gesetzgebungs- und Ertragshoheit über die Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie die meisten Verkehrssteuern
Die wichtigsten Steuergesetze sind seitdem zustimmungspflichtig; damit ist aber auch die Steuergesetzgebungskompetenz des Bundestages stark beschnitten. Die Notwendigkeit einer Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern
Andere föderale Ordnungen (z. B. Schweiz und USA) kennen das Prinzip fiskalischer Trennung. Einen Rückzug des Bundes aus den Gemeinschaftsfinanzierungen und den Gemeinschaftsaufgaben anzustreben wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Der Länderfinanzausgleich ist nicht nur wegen des bereits zitierten Art. 72 GG notwendig, sondern auch wegen des Anspruchs der Länder auf angemessene Finanzausstattung nach Art. 106 Abs. 3 Nr. 1 GG. Das jetzige Finanzierungssystem über den Länderfinanzausgleich - einschließlich des Umsatzsteuerausgleichs, der Ergänzungszuweisungen des Bundes an finanzschwächere Länder und des Fonds Deutsche Einheit - schafft indes aufgrund des hohen Nivellierungsniveaus nur wenig Anreiz, dass die Länder etwa über eine intensivere Wirtschaftsförderung ihre eigenen Finanzquellen pflegen. Die Länder sollten mehr Möglichkeiten zu selbständigen Einnahmen erhalten, was sowohl über bestimmte Hebesatzrechte und Zuschläge auf Länderebene geschehen könnte als auch durch eigene Landessteuern. Mit Interesse wird zu sehen sein, ob nach dem Urteil des höchsten deutschen Gerichtes solche Überlegungen die künftigen politischen Beratungen beeinflussen.
Viertens: Deutschland ist in der Gefahr eines "Rechtsmittelstaates", in dem politische Entscheidungen - auch unterhalb der Bundesebene - häufig durch zähflüssige juristische Prozeduren entschieden werden. Durch die Neigung der Politik, für sie unangenehme Entscheidungen dem Bundesverfassungsgericht zu überantworten - und durch die gelegentliche Neigung desselben, mehr Antworten zu geben, als Fragen gestellt wurden -, besteht in einigen wichtigen Fragen auch die Gefahr eines Verfassungsrichterstaates.
In Deutschland wurde aufgrund zahlreicher Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Anstoß daran genommen, dass sich das Gericht nicht mit der Aufhebung oder Bestätigung von Gesetzen begnügt, "sondern die gesetzgebende Gewalt darüber belehrt, wie sie ihre Gesetze machen sollte, damit diese vom Gericht bestätigt werden"
Wie sehr Ratschläge an das unabhängige Bundesverfassungsgericht berechtigt sein mögen, kann an dieser Stelle nicht erörtert werden
Fünftens: Es fällt dem Staat immer schwerer, seinen eigentlichen Aufgaben nachzukommen, wobei die Staatsquote ein wichtiger Indikator für den Umfang der Staatstätigkeit ist. Wenn über fünfzig Pfennige jeder Mark in Deutschland von der öffentlichen Hand (also auch auf kommunaler, Landes- und Bundesebene) ausgegeben werden, dann leben die Deutschen in einem quasisozialistischen System eines modernen Wohlfahrtstaates, der in zunehmendem Maße in fast alle Lebensbereiche seiner Bürger eingreift, aber immer mehr neben der allgemeinen Daseinsvorsorge sein eigentliches Staatsziel, nämlich den Schutz der Bürger gegenüber Gefahren, zu vernachlässigen scheint.
Trotz zunehmender Staatstätigkeit nimmt das Gefühl der Unsicherheit bei den Bürgern immer mehr zu. Zwar ist es dem modernen Industriestaat Deutschland - in Verbindung mit seiner Zugehörigkeit zu Bündnissen - gelungen, Schutz vor äußerer Bedrohung zu gewährleisten, aber die Bedrohung der inneren Sicherheit sowie wachsende Unsicherheit hinsichtlich der Stabilität unserer Sozialsysteme verstärken sich in der Wahrnehmung der Bürger.
Notwendig ist eine Überprüfung aller Staatsaufgaben und eine Beschränkung auf das Wesentliche. Es müssen alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und Regelungen durchforstet werden (zum Beispiel im Bildungssystem, in der Arbeitswelt oder im Steuerrecht), die die Kreativität und das Ausschöpfen von Leistungspotentialen behindern.
Sechstens: Durch die Politik selbst, aber auch durch die Medien - hervorgerufen vor allem durch obrigkeitsstaatliche Grundeinstellungen in der Bevölkerung - wird der Glaube an die Allmacht der Politik zur Regelung aller Lebensbereiche gepflegt, nicht jedoch ihre Beschränkung auf das Wesentliche gefordert. Die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat nimmt zu, gleichzeitig nimmt seine Problemlösungskompetenz ab.
Dieser Sachverhalt hängt mit der immer komplexer werdenden Wirklichkeit in allen modernen Gesellschaften zusammen - und dies in einer Zeit knapper werdender finanzieller Ressourcen, in der sich finanzielle und politische Lösungen nicht mehr aus der Verteilung finanzieller Zuwächse ergeben. Gleichzeitig sind wichtige gesellschaftpolitische Felder der Regierungsverantwortung entzogen. Auch nicht wenige Institutionen - demokratietheoretisch nicht unumstritten, weil damit insbesondere die parlamentarische Verantwortung umgangen wird - entziehen sich der unmittelbaren Beeinflussung durch die Politik, dies häufig auch aus gutem Grunde. Erinnert sei an die bewährte Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank. Andere wichtige Institutionen wie die des Gesundheitswesens, der Bildungspolitik oder die Bundesanstalt für Arbeit sind "selbstverwaltet" - dies muss bedacht werden, wenn hier Lösungen von der Politik angefordert werden.
Auch die Tarifautonomie muss an dieser Stelle genannt werden. Sie ermöglicht es dem Staat, sich aus dem komplizierten und zumeist unpopulären Prozess der Lohnfindung herauszuhalten - allerdings nicht ganz, denn der Staat ist als Arbeitgeber selbst Tarifpartei, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst haben auch Signalwirkung für andere Branchen. Es ist unbestreitbar, dass die Entscheidungen der Tarifparteien für die Volkswirtschaft eine enorme Bedeutung haben, ohne dass hier Parlament und Regierung eine echte Mitverantwortung wahrnehmen können. Gleichwohl wurde von der Regierung Kohl - aufbauend auf der seinerzeitigen "Konzertierten Aktion" während der Regierung Schmidt - eine Politik praktiziert, die mit dem "Bündnis für Arbeit" die Tarifpartner an den Tisch der Regierung brachte; diese Veranstaltungsform wurde dann von der Regierung Schröder übernommen. Mit einem solchen "Bündnis für Arbeit" wird indes eine konsensuale Gesamtverantwortung der Politik und der Tarifparteien suggeriert, die die jeweils eigene Verantwortung für gegebenenfalls unpopuläre Entscheidungen auf den jeweils anderen Partner transferieren soll
Siebtens: So sehr Interessenvertretungen zu einer parlamentarischen Demokratie gehören, muss auch immer wieder die Frage nach der Rolle einflussreicher Verbände gestellt werden. Wenn Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen politisch an einem Strang ziehen - was gar nicht so selten vorkommt - ist die Politik häufig machtlos.
Verbände sind in einer pluralen Demokratie eine Notwendigkeit
In einem solchen "neokorporatistischen" System
Achtens: Knappe Wahlergebnisse und häufige "Zwischenwahlen" führen zu einem Glauben an Meinungsumfragen und zur Gefahr, wichtige Entscheidungen von Wahlterminen beeinflussen zu lassen. Solche Umfragen zeigen andererseits aber auch, dass die Autorität einiger Institutionen - vor allem der Parteien - nachlässt. Die Bevölkerung ist hingegen reformbereiter, als dies die politischen Strukturen gegenwärtig zulassen.
Es gibt kein anderes Land, in dem so viele "Testwahlen" die Politik beeinflussen. Allein die Tatsache, daß 1999 sechs Landtagswahlen zu unterschiedlichen Terminen stattfanden, bestätigen diesen Sachverhalt; selbst die häufigen Kommunalwahlen erhalten oft schon diesen Charakter. Die Neigung der Politik, aufgrund jeweils anstehender Wahlen unpopuläre Entscheidungen möglichst auf einen Zeitraum zu legen, in dem keine Wahlen stattfinden, ist offensichtlich.
Neuntens: Die Interessen von Politik und Wirtschaft sind heute - im Zeichen von Europäisierung und Globalisierung der Wirtschaft - häufig entkoppelt. Wichtige Entscheidungen in großen Firmen werden immer mehr außerhalb der Landesgrenzen getroffen. Die Globalisierung der Ökonomie, aber auch die Europäisierung hat den Verantwortungsspielraum nationaler Regierungen in der Innenpolitik stärker eingeschränkt, als dies in der Bevölkerung wahrgenommen wird.
Der moderne Wohlfahrtstaat war bisher u. a. auch deshalb leistungsfähig, weil die regionale Industrie eine zunehmende Zahl von Arbeitskräften benötigte. Die unternehmerischen und nationalen Interessen waren stärker identisch. Ein Unternehmer klassischen Typs hatte zugleich eine Verantwortung für sein Land und für seine Region. Heute müssen wir konstatieren, dass das Wachstum der Wirtschaft nicht automatisch auch zu einem Wachstum der Arbeitsplätze führt. Große Industrieunternehmen können sich heute sehr viel leichter örtlichen und regionalen Verpflichtungen entziehen, nicht nur hinsichtlich der Steuervermeidung. Mehr als 35 000 transnationale Unternehmen sind weltweit tätig. Die "Globalisierung" betrifft vor allem die Finanzmärkte. Eine recht verstandene Internationalisierung und Globalisierung sollte dazu motivieren, den Standort Deutschland in jederlei Beziehung attraktiver zu machen
Zehntens: Die Europäisierung und Globalisierung sollten als Chance, als Stimulans für die Lösung anstehender Reformen genutzt werden, nicht als Entschuldigung oder gar als Ausflucht. Viele Reformmaßnahmen wären ohne starken Druck von "außen", insbesondere durch die Europäische Union, so nicht möglich gewesen. Auch die deutsche Einigung hat einen Entscheidungsdruck erzeugt und gleichzeitig den finanziellen Spielraum eingeengt.
Die Eingebundenheit Deutschlands in eine übernationale Ordnung der Europäischen Union erleichtert keineswegs das Transparenzgebot, zumal die Kompetenzabgrenzungen zwischen europäischer, nationaler und der Ebene der Bundesländer als Verfassungsorgane trotz des Gebotes von "Subsidiarität"
Bei aller Kritik an der oft undurchschaubaren "Eurokratie" sollten doch die von "Brüssel" ausgehenden Reformimpulse nicht unterschätzt werden: So wichtige Reformmaßnahmen wie die Veränderung der Strukturen der einstigen Deutschen Bundespost - insbesondere durch die dynamische Entwicklung der Telekommunikation -, aber auch des Monopols der Deutschen Lufthansa, der Deutschen Bahn und künftig der mächtigen Energieversorgungsunternehmen hätten sich nicht oder nicht in dieser Geschwindigkeit vollzogen, hätte es nicht steten Druck durch Entscheidungen der EU gegeben. Gleichwohl stellen sich auch in der Europäischen Union - so sehr diese zum Beispiel durch die Wettbewerbspolitik einen enormen Modernisierungsdruck auf die Mitgliedsstaaten ausgeübt hat - vergleichbare Fragen nach der Effizienz der politischen Entscheidungsprozesse wie in den Mitgliedstaaten selbst
Diese Thesen sollen keinesfalls der Politik in Bund, Ländern und Gemeinden die Verantwortlichkeit für ihr Tun absprechen - im Gegenteil! -, sehr wohl aber an die Einbindungen in vielfältigste verfassungsrechtliche und politische Strukturen erinnern. Hinzu kommt, dass insgesamt in allen Industriestaaten durch die komplexer gewordene politische, gesellschaftliche und ökonomische Wirklichkeit, durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse (die stets durch Gegenpositionen relativiert werden) die Erkenntnis des "Richtigen" immer schwieriger wird. Hier soll keinem sanften Verschwinden der Politik das Wort geredet, sondern im Gegenteil ein Plädoyer für die Notwendigkeit der Verbesserung der Legitimität demokratisch zu verantwortender Politik gehalten werden. Grundvoraussetzung jeder demokratischen Kontrolle bleibt das Wissen um klare politische Verantwortlichkeiten. Dies muß auch bei künftigen Verfassungsberatungen bedacht werden.