Wer gibt schon gerne einen wunden Punkt zu? Das sind gängige Rechtfertigungen ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM):
Es war in der DDR beileibe nicht "jeder bei der Stasi". Die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die 1989 aktiv waren, wird laut neuerer Forschung mit etwa 110.000 angegeben, andere Forscher vermuten bis zu 190.000 IM. Zusammen mit den rund 90.000 hauptamtlichen ("offiziellen") Mitarbeitern wäre das ein Kreis von 200.000 bis maximal 260.000 Personen, also weniger als zwei Prozent der DDR-Bevölkerung. Allerdings gab es auch noch mehr "Auskunftspersonen", die aus ideologischer Überzeugung und ohne Verpflichtungserklärung bereitwillig Auskünfte gaben, wenn die Stasi beispielsweise Informationen brauchte, beispielsweise über Hausbewohner, Studenten an der Uni oder Beschäftigte in einem Kombinat.
Vielfältige Facetten von Verweigerung
Aber es mögen auch viele gar nicht gefragt worden sein, weil die Staatssicherheit sie als ungeeignet, unzuverlässig oder uninteressant einstufte. Viele haben sich auch ganz bewusst verweigert. Deren Geschichten erzählen von Mut und Zivilcourage in einer Diktatur, ein Mut, aus dem auch heute noch viel gelernt werden kann für vielerlei Lebenssituationen. Aber auch in allen gesellschaftlichen Bereichen des SED-Staats gab es nicht nur Anpassung, Mitläufertum und vorbeugende Unterwerfung, sondern eben auch Verweigerung und Zivilcourage. Dies waren Menschen, die zum Beispiel trotz privater oder beruflicher Nachteile eben nicht in die Partei eintraten. Die sich beruflich von "politisch belasteten" Funktionen fernhielten – und damit natürlich auch oft genug von Karrieremöglichkeiten. Und es waren Menschen, die Partei für Verfolgte ergriffen.
Umgekehrt war auch eine gewisse Anpassung in allen Bereichen die Voraussetzung dafür, im totalitären SED-Staat existieren zu können. Die ideologisch geprägte, hierarchisch straff gegliederte Partei-Diktatur in der DDR verlangte von ihren Bürgern zum Beispiel häufige Loyalitätsbekundungen, denen man sich nur schwer entziehen konnte, ob auf dem Schulhof, vor der Wahlurne oder bei der jährlichen Propaganda-Demonstration am 1. Mai. Freiwillig und voller Überzeugung war nur ein Teil dabei. Die 90.000 hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS hatten zum Ende der DDR hin sogar unter Anhängern der SED einen zweifelhaften und anrüchigen Ruf. Trotzdem waren sie keine als solche für einen normalen Bürger auf den ersten Blick erkennbare kriminelle Organisation, sondern ein offizielles Ministerium des Staates DDR. Selbst viele Westdeutsche nahmen das MfS und die "Verhältnisse in der DDR", mit denen sie in der Regel nur an den DDR-Grenzübergängen bei Transitreisen nach West-Berlin konfrontiert waren, als unvermeidlich hin und übertrafen sich dort gegenüber den autoritären Passkontrolleuren (die übrigens auch Angehörige der DDR-Staatssicherheit waren) in der Regel mit vorbeugender Unterwürfigkeit, trotz ihres West-Passes, der sie eigentlich schützte.
Es gehörte also für Bürgerinnen und Bürger der DDR, die einen solchen Schutz nicht hatten, eine Menge Mut dazu, sich offen zu verweigern. Wer in der DDR Zivilcourage bewies, konnte im Regelfall sicher sein, dass er einen Preis in Form von Verzicht auf Komfort oder Karriere, im schlimmsten Fall sogar mit dem Verlust von Freiheit oder gar Leben zu bezahlen hatte. Welche Sanktionen für aufmüpfiges Verhalten drohten, war dabei unklar, die Ungewissheit darüber und die allgemeine Rechtsunsicherheit waren wichtige Elemente der Herrschaftsstrategie der SED.
Was passierte also Menschen, die sich einer Spitzeltätigkeit für die Stasi verweigerten? Karriereknick, Berufsverbot, Inhaftierung, Bespitzelung, Psycho-Schikanen ("Zersetzung") – alles war drin. Manchmal passierte auch gar nichts, es reichte der Mut, die Konspirativität abzulehnen und Stasi-Werbern zu sagen, "da muss ich erst mit meiner Frau drüber reden" oder "mit meinen Kollegen". Dann beendete das MfS aus Angst vor Dekonspiration schnell einen Kontakt.
Zwei Schicksale. Was Menschen passierte, die "Nein" zur Staatssicherheit sagten.
"Mir war völlig klar. Wenn ich jetzt Nein sage, kann es mit mir beruflich und privat nur noch bergab gehen. Doch ich sagte Nein, erst einmal etwas zögerlich, und dann ein weiteres Mal deutlich und bestimmt.... Am 13. August 1973, morgens um 6 Uhr, kamen sie und haben mich verhaftet."
So schilderte der Leipziger Dieter Veit einen Anwerbeversuch der Stasi, den er ablehnte – für ihn der Beginn eines langen Leidenswegs durch DDR-Gefängnisse. Er arbeitete Anfang der 70er Jahre als Kellner in einem Interhotel, in dem viele westliche Geschäftsleute verkehrten und sollte diese ausspitzeln. Die Staatssicherheit lockte den Kellner, der aufgrund seiner Tätigkeit in einem Devisenhotel ohnehin eine privilegierte Stellung innehatte, mit zusätzlichen Vergünstigungen, unter anderem einem West-Auto. Das MfS drohte umgekehrt mit negativen Konsequenzen, wenn er nicht mitmache. Weil er sich nach anfänglicher Kooperation schließlich verweigerte, verhaftete ihn die Stasi. Offiziell warfen sie ihm ein kriminelles Delikt vor – "Förderung der Prostitution". Der Vorwurf war natürlich ein Hohn: zwar waren die meisten Interhotel-Bars zur DDR-Zeit tatsächlich Tummelplätze von Prostituierten, das ganze aber mit Wissen und Billigung der Stasi, viele Prostituierte spitzelten nebenbei. Der eigentliche Grund für die Anklage war offensichtlich, Veits Platz hinter dem Tresen des Interhotels von einem willigen Spitzel einnehmen zu lassen. 1974 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis stellte er vergeblich Ausreiseanträge. 1976 entlassen, wendete er sich hilfesuchend an westliche Menschenrechtsorganisationen. Und weil auch das nichts half, unternahm er 1980 einen Fluchtversuch, wurde aber erwischt und erneut verurteilt, diesmal wegen "Republikflucht" und "staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme". In der Haft war er zeitweise im Hungerstreik. 1981 wurde er von der Bundesrepublik freigekauft. Im Westen blieb er lange in psychologischer Behandlung und wurde bald Invalidenrentner. Das psychische Trauma und auch die körperlichen Folgen der Haft verfolgten ihn bis zu seinem Tod 2012, im Alter von 69 Jahren.
Anderen passierte gar nichts. Dolores Schwarz, damals 30, war 1985 Postamtsleiterin in einem kleinen Ort, direkt an der Ostsee gelegen, im Grenzgebiet. Vom Strand der Gemeinde aus hatte es schon mehrere Fluchtversuche gegeben. In Markgrafenheide gab es außerdem mehrere Familien, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Die DDR-Grenztruppen hatten zwar im Ort mehrere offizielle "Freiwillige Helfer", die in Strandnähe wohnten. Zusätzlich wurden weitere inoffizielle Zuträger gesucht, die möglichst viele Informationen über die 700 Einwohner liefern sollten, mit dem Ziel, Helferinnen oder Helfer von Fluchtwilligen zu enttarnen.
Dolores Schwarz war dafür eine ideale Kandidatin. Durch ihre Tätigkeit bei der Post kannte sie fast sämtliche Einwohner. Auch ihr Umfeld, das von der Stasi zunächst akribisch ausgespitzelt wurde, bevor man sie ansprach, entsprach der Erwartungshaltung. Sie sei zwar kein Mitglied der SED, vertrete aber einen "positiven politischen Standpunkt", glaubte man herausgefunden zu haben.
Dieter Veit (© privat)
Dieter Veit (© privat)
"Sie kamen zu mir nach Haus, zu zweit", erinnert sie sich an den ersten Anlauf der Stasi zur "Kontaktaufnahme". Man befragte sie offiziell zu einem Nachbarn, der einen Ausreiseantrag gestellt hat, um ihre Auskunftsbereitschaft zu testen. Wenig später verlangte ein Stasi-Offizier von ihr eine Unterschrift unter eine Verpflichtungserklärung. "Da musste ich so lachen, dass der ganz perplex war", erinnert sie sich. "Dann habe ich gesagt: Ich unterschreibe gar nichts. Ich will das nicht, ich schnüffle nicht anderen Leuten hinterher, wenn so was rauskommt, dann kann ich hier gleich die Koffer packen und wegziehen. Das war wohl so klar und deutlich, dass sie mich später nie wieder gefragt haben." Für Dolores Schwarz hatte die Verweigerung, anders als für Dieter Veit, keinerlei negative Folgen. 1988 schloss die Staatssicherheit die Akte.
Zweimal Zivilcourage – mit höchst unterschiedlichem Ausgang. Wie viel Stasi-Verweigerer gab es insgesamt? Waren eher schlimme Konsequenzen die Regel? Oder ging es meistens gut aus? "Die Ermittlung von Größenordnungen der ernsthaften politischen Verweigerung stößt recht schnell an analytische Grenzen, sie werden wohl nie exakt zu ermitteln sein", sagt auf Nachfrage der DDR-Historiker Dr. Helmut Müller-Enbergs. Er sieht dafür vor allem einen Grund: Selten gaben die Menschen, die sich einer Spitzeltätigkeit verweigerten, politische Gründe an. Die meisten schoben aus Angst, sonst als Regimegegner dazustehen, moralische oder religiöse Gründe vor oder verwiesen erfolgreich auf die für sie nicht auszuhaltende psychische Belastung einer Spitzeltätigkeit.
"Du sollst nicht petzen"
"Gemeinsam ist fast allen, dass sie nicht über andere Personen berichten wollten", so Enbergs. "Anscheißen", "Spitzeln", "in die Pfanne hauen", das erschien vielen moralisch untragbar, selbst unter denen, die noch an den Sozialismus und die Sozialistische Einheitspartei glaubten. "Du sollst nicht petzen", haben schon viele als Kinder gelernt, sei es im Geschwisterkreis, in der Jugendclique oder im Schulklassenverband. Diese Grundregel wog selbst für mache SED-Anhänger schwerer als die "Pflicht" zum "Schutz des Sozialismus vor dem Klassenfeind" Freunde zu verraten.
Drei von Fünf haben nein gesagt
Die drei Außenstellen der Stasi-Unterlagen-Behörde in Mecklenburg-Vorpommern haben vor einiger Zeit grob erfasst, wie hoch der "Nein"-Sager-Anteil lag. Demnach haben etwa drei von fünf zur Anwerbung vorgesehene IMs sich einer Mitarbeit verweigert oder im Verlauf ihrer Zuträgerschaft abgebrochen. Auch diese "Verweigerungsakten" birgt das Stasi-Archiv und macht es zum wohl größten deutschen Archiv für Zivilcourage. Insbesondere junge Leute weigerten sich, Verpflichtungserklärungen zu unterschreiben und gaben stattdessen zu Protokoll, "dass sie nicht hinter dem Rücken ihrer Freunde über sie reden" und sich "morgen noch gerade in den Spiegel schauen möchten". In der Volksarmee bissen Stasiwerber besonders häufig auf Granit. Ihre Jahrespläne sahen eigentlich vor, pro Stube einen IM zu gewinnen, aber es liegen auch Erfahrungsberichte aus Abteilungen des MfS vor, dass dies nicht gelang, weil kein Soldat ein "Kameradenschwein" sein wollte, der andere "verpfeift". Eine Externer Link: Beispielsammlung solcher Zivilcourage haben die Außenstellen der Stasi-Unterlagen-Behörde in Mecklenburg-Vorpommern dokumentiert (H.Kulick).
Weitere Fälle von "Verweigerung" hat die Stasi-Unterlagen-Behörde auf ihrer Website dokumentiert:
Externer Link: http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Aktenfunde/Zivilcourage/_inhalt.html
Zum Thema: Mitgemacht, ausgestiegen, aber nie darüber geredet - aus Angst.