Franz Josef Strauß im Oktober 1966 (© Bundesarchiv, B 145 Bild-F023363-0016, Foto: Jens Gathmann)
I. Einleitung
In den beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) verwahrten Aktenbeständen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) finden sich bislang unbekannte Hinweise darauf, dass Franz Josef Strauß als Soldat der Wehrmacht für den amerikanischen Militärgeheimdienst OSS tätig gewesen sei. Wie sich aus den in dieser Dokumentation in Auszügen vorgestellten Unterlagen ergibt, soll Strauß dem OSS geheime Informationen über die Luftverteidigung einiger süddeutscher Städte, darunter Würzburg, übergeben haben.
Wäre dies zutreffend, müssten wichtige Kapitel der Deutschen Zeitgeschichte überdacht werden. Eine nicht bekannt gewordene nachrichtendienstliche Tätigkeit eines später in höchste Führungspositionen gelangten Politikers würde sicher von einer vielfältigen politischen Relevanz sein. Und zwar weit über ein etwaiges Erpressungspotenzial hinaus. Bedenkt man ferner die engen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen des Nachkriegspolitikers Strauß zu den USA, muss dies umso mehr gelten. Weiterhin wird die herausragende politisch-historische Relevanz für einen bayerischen Politiker auch daran erkennbar, dass es um die Luftverteidigung von Würzburg geht, das bekanntermaßen Ziel verheerender Luftangriffe wurde. Zur Auflösung der Fußnote[1] Schließlich erschiene auch das Verhältnis von Strauß zur Wehrmacht und dem nationalsozialistischen Staat in einem neuen Licht.
Es versteht sich von selbst, dass die MfS-Akten grundsätzlich mit größter Vorsicht zu behandeln sind. Diese Hinweise sind deshalb anhand einer historisch-kritischen Methode zu überprüfen. Hierfür wurde in zahlreichen Archiven nach weiteren Dokumenten gesucht. Im Archiv des Bundesnachrichtendienstes fanden sich konkrete Hinweise auf den behaupteten Sachverhalt.
Die Dokumentation fasst die wichtigsten bisher aufgefundenen Dokumente auszugsweise zusammen und stellt sie unter Darstellung des erfolgten Prüfungsgangs in ihren historischen Kontext.
II. Die Stasi-Akten zu Franz Josef Strauß
Franz Josef Strauß und Erich Honecker im Juli 1983 am Werbellinsee in der Schorfheide (© picture-alliance / ZB – Fotoreport)
Die DDR – und insbesondere das Ministerium für Staatssicherheit – hatten von Anfang an ein großes Interesse an Strauß, der wegen seiner ausgesprochenen Gegnerschaft zur DDR Ziel einer umfassenden Desinformationskampagne wurde. Das Verhältnis von Strauß zur DDR war ambivalent und bleibt – trotz umfänglicher biografischer Literatur Zur Auflösung der Fußnote[2] – in wichtigen Teilen im Dunkeln. Auf der Grundlage seines Selbstverständnisses als "Antikommunist" hatte sich Strauß zunächst in durchgängig scharfer Kritik an der DDR und ihrer Regierung, aber vor allem auch an der Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung geübt. Ungeachtet dessen und gänzlich im Verborgenen vermittelte er der DDR dann plötzlich im Jahre 1983 einen dringend benötigten Milliardenkredit, der von einem westdeutschen Bankenkonsortium unter Federführung der Bayerischen Landesbank gewährt wurde. Zur Auflösung der Fußnote[3] Es gehört zu den Kuriosa der Nachkriegsgeschichte, dass ausgerechnet Strauß mit diesem Coup entscheidend dazu beitrug, dass die DDR einen drohenden Staatsbankrott abwehren konnte.
Die Quellenlage zu nachrichtendienstlichen Vorgängen ist im Allgemeinen qua natura schwierig. In besonderer Weise gilt dies bekanntermaßen für die Akten und Karteien der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA), die im Zeitraum Dezember 1989 bis Juni 1990 weitgehend vernichtet wurden. Zur Auflösung der Fußnote[4] Der lediglich bruchstückhafte Charakter des Aktenbestandes und die zum Teil dubiose Überlieferungsgeschichte der HVA-Akten – man denke etwa an die sog. "Rosenholz-Dateien" – erschweren die Gewinnung verlässlicher Erkenntnisse.
Diese allgemein schwierige Ausgangslage wird im Hinblick auf die Stasi-Akten zu Strauß noch durch eine Besonderheit erschwert. Völlig unklar bleibt, was mit wesentlichen Teilen dieser Akten geschah. In den Medien wurde mehrfach berichtet, dass der Bayerische Verfassungsschutz diese Anfang 1990 – angeblich zum Schutze dessen Andenkens – vernichtet habe. Zur Auflösung der Fußnote[5] Verifizieren ließ sich dieser Umstand bis heute nicht. Zur Auflösung der Fußnote[6] Ungeachtet dessen finden sich in den beim BStU verwahrten Aktenbeständen - soweit bekannt - 977 Seiten Archivgut mit unmittelbarem Bezug zu Strauß. Zur Auflösung der Fußnote[7] Wie bei anderen 13 prominenten Politikern wurden Aktenvorgänge angelegt, die in den "Rosenholz"-Unterlagen als IMA-Vorgänge (IM-Akte A; IM-Akte mit Personal- und Arbeitsakte) verzeichnet sind. Zur Auflösung der Fußnote[8] In der SIRA Zur Auflösung der Fußnote[9], letzter Zugriff am 30.8.2015.-Teildatenbank 12 sind nach einer vorläufigen Übersicht 1766 Informationen zu Strauß verzeichnet. Zur Auflösung der Fußnote[10] Nur zu Hans-Dietrich Genscher finden sich mehr Informationen, nämlich 1911 Einträge. Außerdem ist der SIRA-Teildatenbank 12 zu entnehmen, dass die Abteilung VII der HVA (Auswertung und Information) und ihre Vorläufer ab 1954 biografisches Material über Strauß und andere bundesdeutsche Politiker zusammenstellten. Zur Auflösung der Fußnote[11] Auffällig ist schließlich, dass auf der 1952 angelegten Erfassungskartei F 16 vermerkt ist: "Achtung - auf Dossier XV/19816/60 keine Auskunft erteilen u. keine Information an Abt. VII/HVA". Eine ähnlicher Sperrvermerk ("Achtung – keine Auskunft erteilen – frei stempeln") findet sich auch auf der Karteikarte F 22. Zur Auflösung der Fußnote[12] Diese Sperrvermerke legen es mehr als nahe, dass auch das MfS die zu Strauß angelegten Akten mit einer besonderen, selbst nach innen gerichteten Geheimhaltung behandelte.
Das MfS sammelte zu vielen westdeutschen Politikern historische Dokumente, vor allem zu ihren Biografien in der NS-Zeit. Diese Materialsammlungen befinden sich zu großen Teilen noch beim BStU und im Bundesarchiv. Zur Auflösung der Fußnote[13] Es ist nur sehr schwer feststellbar, ob dieses Material durch das MfS oder einen verbündeten Geheimdienst "operativ" eingesetzt wurde. Wegen der weitgehenden Vernichtung der HVA-Akten ließe sich diese ohnehin nur schwer nachvollziehen.
III. Zu den einzelnen MfS-Dokumenten (Dokumente Nr. 1-3)
1. Verfügung des Ministers vom 01.07.1970 (Dokument Nr. 1)
Die Verfügung von Minister Mielke vom 1. Juli 1970, mit der die Hauptabteilung IX des MfS als "Zentrale Ermittlungsabteilung" angewiesen wurde, unter anderem zu Strauß Materialien zusammenzustellen, lässt keinen Zweifel daran, welchen Stellenwert die Stasi den "operativen Zwecken" im Falle von Strauß beimaß.
2. Der MfS-Vermerk über "Tatsachen und Hinweise zur Vergangenheit des Franz Josef STRAUß" vom 06.11.1970 (Dokument Nr. 2) und der "Maßnahmeplan zum Forschungsvorgang 'Michel'" vom 11.01.1971 (Dokument Nr. 3)
(1) Kontext der Dokumente
Die Hauptabteilung IX/11 legte auf die Verfügung vom 1. Juli 1970 (Dokument Nr. 1) hin unter der Registriernummer FV 70/70 den sogenannten "Forschungsvorgang 'Michel'" an, der 131 Blatt umfasst und erhalten geblieben ist. Zur Auflösung der Fußnote[14]
Aus dem als Dokument Nr. 2 in Auszügen vorgestellten siebenseitigen Eingangsvermerk vom 6. November 1970 zu "Tatsachen und Hinweise zur Vergangenheit des Franz Josef STRAUß" ergeben sich die ersten Hinweise zu einer möglichen nachrichtendienstlichen Tätigkeit von Strauß für den OSS. Dieses Dokument steht im Mittelpunkt der vorliegenden Dokumentation und ist Ausgangspunkt der kritischen Würdigung.
In Ergänzung dieses Eingangsvermerks vom 6. November 1970 findet sich im "Forschungsvorgang 'Michel'" der als Dokument Nr. 3 abgedruckte handschriftliche "Maßnahmeplan zum Forschungsvorgang 'Michel' vom 11. Januar 1971" Zur Auflösung der Fußnote[15] der Hauptabteilung IX, Abteilung 11 (Aufklärung von Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus und von Kriegsverbrechen). Die bereits erwähnten "operativen Zwecke" finden sich dort in einer drastisch klaren Zielvorgabe:
"Strauß empfiehlt sich den westdt. Imperialisten als Mann, der für sie die Hegemonie über Westeuropa erzwingen wird. Auf diesem Wege ('über eine europäische Atomstreitmacht') will er an Atomwaffen herankommen. Strauß ist, das beweisen eindeutig seine Veröffentlichungen und Äußerungen, der gefährlichste und korrupteste Politiker der Bundesrep. […] Im Ergebnis der Bearbeitung soll sowohl die faschistische Vergangenheit der Hintermänner und Verbindungen von Strauß als auch die Tatsache, dass er selbst ein Faschist reinsten Wassers ist, an Hand von Dokumenten nachgewiesen werden". Zur Auflösung der Fußnote[16]
Weiter heißt es:
"Das Ziel der Bearbeitung des Vorganges ist einmal die allseitige und gründliche Aufklärung der Person des CSU-Vors. Franz Josef Strauß und dessen Tätigkeit in der Zeit des Faschismus. […] hier interessieren besonders Einheiten und deren Einsätze, […] Hinweise auf begangene Kriegsverbrechen, seine Verbindung zum amerikanischen Geheimdienst […]". Zur Auflösung der Fußnote[17]
Es entspricht dem Charakter des Dokumentes als "Maßnahmeplan", dass die Passagen zu der behaupteten nachrichtendienstlichen Beziehung zum Office of Strategic Services (OSS) hier eher als Beschreibung der angestrebten Aufklärungsziele erscheinen. Die überlieferten MfS-Unterlagen lassen den Schluss zu, dass das MfS diese Zielvorgabe im Hinblick auf die behauptete Zusammenarbeit mit dem OSS und die behaupteten Kriegsverbrechen nicht hinreichend erfüllen konnte. Während es für die Beteiligung an Kriegsverbrechen keine Anhaltspunkte gibt, Zur Auflösung der Fußnote[18] enthält die zweiseitige Ministervorlage des Leiters der Hauptabteilung IX, Oberst Heinitz, vom 6. August 1971 jedenfalls keinen Hinweis zum OSS-Komplex. Zur Auflösung der Fußnote[19]
(2) Der behauptete Sachverhalt
Eingangsvermerk (Dokument 2) und "Maßnahmeplan" (Dokument 3) umschreiben einen geradezu klassischen Spionagefall zugunsten des amerikanischen Geheimdienstes OSS: Strauß habe indirekten Kontakt zu Mitarbeitern des OSS gehabt und sich dann anlässlich einer in Grenznähe durchgeführten Inspektionsreise in die Schweiz begeben, um dort geheime Unterlagen der Luftverteidigung zu übergeben. Das Treffen habe in einem von einem Angehörigen des Schweizer Grenzschutzes bereitgestellten Zimmer stattgefunden. Ferner habe Strauß bei Kriegsende auftragsgemäß die Sprengungen der Gruben bei Schongau verhindert und einen Teil der Einheiten an der Flakschule aufgelöst und schließlich gemeinsam mit anderen Offizieren eine Panzerabwehreinheit der Hitlerjugend entwaffnet.
(3) Zur Tätigkeit des Office of Strategic Services in der Schweiz
Die Schweiz entwickelte sich im Verlauf des Krieges zu einem der wichtigsten Operationsgebiete ausländischer Geheimdienste, sie wurde zu einem kontinentaleuropäischen "Eldorado" der Spionage. Allen voran baute Allen Welsh Dulles (1893-1969), der Bruder des späteren U.S. Außenministers John Foster Dulles, für das OSS Zur Auflösung der Fußnote[20] ein weit verzweigtes Agentennetzwerk auf. Zur Auflösung der Fußnote[21] Obwohl Dulles im November 1942 nur wenige Minuten vor Schließung der schweizerisch-französischen Grenze einreiste und sich somit bis September 1944 in einem durch deutsche und italienische Truppen abgeriegelten Operationsgebiet befand, Zur Auflösung der Fußnote[22] gelang es ihm, wesentliche Erkenntnisse über Deutschland und seine Verbündeten zu gewinnen und Bern als den wichtigsten OSS-Posten in Europa zu etablieren. Zur Auflösung der Fußnote[23] Unterstützt wurde er hierbei durch den deutschstämmigen Amerikaner Gero von Schulze-Gaevernitz Zur Auflösung der Fußnote[24] (1901-1970), der 1925 in die USA emigriert und am 1. Oktober 1936 eingebürgert worden war. Zur Auflösung der Fußnote[25]
(4) Würdigung der Quellenlage
Eine Verifikation oder Falsifikation des in den Akten des MfS behaupteten Sachverhalts oder die Einschätzung von dessen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit lässt sich nur durch eine kritische Würdigung der zitierten Unterlagen selbst und durch einen Abgleich mit anderen Quellen erreichen, wobei die Besonderheiten nachrichtendienstlicher Quellenlagen im Allgemeinen und hinsichtlich der HVA-Akten im Besonderen bereits aufgezeigt wurden.
a) Würdigung der MfS-Unterlagen
Die kritische Würdigung der in Frage stehenden Sachverhaltsschilderung muss mit einer textlichen Untersuchung der überlieferten MfS-Dokumente selbst beginnen. Bei dem Vermerk über "Tatsachen und Hinweise zur Vergangenheit des Franz Josef STRAUß" vom 6. November 1970 fällt zunächst auf, dass er keine Kopfzeile, keine Unterschrift, keine Paraphe, kein Aktenzeichen und keinen anderen Hinweis auf seinen Verfasser enthält, während auf dem "Maßnahmeplan zum Forschungsvorgang 'Michel'" vom 11.01.1971 zumindest die Hauptabteilung IX/11 vermerkt ist. Der als Ablichtung vorhandene Vermerk vom 6. November 1970 scheint jedoch die Kopie eines Durchschlages zu sein, wodurch das Fehlen einer Kopfzeile erklärbar wäre. Eine Zuordnung beider Dokumente ist damit in erster Linie aus dem Inhalt und der Abheftung im "Forschungsvorgang" F 70/70 möglich. Für die in Frage stehende Überprüfung ergeben sich aus diesem Umstand jedoch keine Hinweise. Wie auch der vorliegende Vorgang an anderer Stelle Zur Auflösung der Fußnote[26] zeigt, entsprach es der Arbeitsweise des MfS, interne Aktenvermerke ohne die genannten Individualisierungsvermerke zu den Akten zu nehmen.
Was die Sachverhaltsschilderung angeht, so fällt zunächst der erste Halbsatz des Vermerks auf: "Aus einem operativen Material ergeben sich zur Vergangenheit des STRAUß folgende […] Hinweise". Die gesamte Darstellung des historischen Sachverhalts beruht damit auf nicht näher beschriebenem "operativen Material". Weitere Hinweise hierzu finden sich in den zitierten MfS-Unterlagen nicht, die behaupteten Sachverhalte beruhen also auf einer völlig im Dunkeln bleibenden Quelle. Nur deswegen lassen sie sich aber auch nicht widerlegen. Die oben skizzierte Vorsicht im Umgang mit Akten des MfS im Allgemeinen und der HVA im Besonderen wird aber dadurch weiter verstärkt, dass unklar bleibt, worauf die Sachverhaltsschilderungen letztlich gründen. Wegen der weitgehenden Vernichtung der HVA-Akten lassen sich zu diesem Augenblick keine Aussagen zu dem erwähnten "operativen Material" treffen. Eine absichtlich falsche Sachverhaltsdarstellung in einem für den Minister bestimmten MfS-Vermerk dürfte allerdings eher unwahrscheinlich sein. Sieht man von dieser Erschwernis einer Überprüfung ab, so erscheint die Schilderung im Übrigen als sehr konkret und konsistent. Die Ausführungen zu dem behaupteten OSS-Kontakt weisen - abgesehen von einigen falschen Schreibweisen - in örtlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht detaillierte und schlüssige Angaben auf. Die Konsistenz der Sachverhaltsschilderung allein ist jedoch auch kein hinreichendes Indiz für deren Richtigkeit. Zum Zeitpunkt des Verfassens waren schon einige Publikationen zur Tätigkeit des OSS in der Schweiz verfügbar und eine "Inspiration" aus diesen Publikationen kann nicht ausgeschlossen werden. Zur Auflösung der Fußnote[27] Ferner muss berücksichtigt werden, dass der Vermerk über die wiedergegebene Sachverhaltsschilderung hinaus historische Unwahrheiten im Hinblick auf Strauß enthält. Namentlich die behauptete Beteiligung an Erschießungen entbehrt jeder Grundlage. Zur Auflösung der Fußnote[28]
Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass sich der behauptete Sachverhalt durch eine Untersuchung der genannten MfS-Dokumente weder beweisen noch entkräften lässt. Obschon die Konsistenz der Schilderung für eine gewisse Möglichkeit spricht, lassen sich angesichts der unklaren und lediglich fragmentarischen Quellenlage keine verlässlichen Schlüsse aus den Dokumenten selbst ziehen.
b) Würdigung der Quellenlage im weiteren Sinne
Da die textliche Untersuchung der genannten MfS-Dokumente ohne Ergebnis bleibt, ist der behauptete Sachverhalt im nächsten Schritt anhand anderer historischer Quellen zu überprüfen. Aus dem weiteren überlieferten MfS-Aktenbestand sind keine anderen Hinweise auf den zu untersuchenden Sachverhalt bekannt. Zwar waren noch einige MfS-Unterlagen Zur Auflösung der Fußnote[29] sowie von der Stasi zu den Akten genommene Dokumente des Reichssicherheitshauptamtes Zur Auflösung der Fußnote[30] zum OSS auffindbar; aus ihnen ergaben sich jedoch für die konkrete Überprüfung keine Hinweise.
Der Abteilungskommandeur Hauptmann Fraß mit seinem Adjutanten Leutnant Franz Josef Strauß (rechts) während des Rußlandfeldzugs der deutschen Wehrmacht an der Ostfront im November 1942 (© picture alliance / akg-images)
Die sich aus den Erkennungsmarkenlisten und Personalveränderungsmeldungen der Wehrmacht ergebenden Hinweise zu Strauß sind mager. Die Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) beschränkt sich darauf, dass Strauß laut Meldung vom 1. Januar 1944 mit dem Dienstgrad Leutnant zur IV. Lehrgangsgruppe Heer der Flak-Artillerie-Schule nach Altenstadt versetzt wurde. Zur Auflösung der Fußnote[31] Die von der Wehrmacht geführten Personalpapiere (Wehrstammbuch, Wehrpass, Personalakte) lägen nicht vor; vermutlich seien sie durch Kriegsereignisse in Verlust geraten. Für die vorliegende Untersuchung sind diese Angaben wenig hilfreich und im Übrigen hinsichtlich der Zeitangaben auch wenig verlässlich, da es sich um zusammenfassende Listenangaben handelt, aus denen sich im Einzelfall keine korrekten Zeitpunkte erkennen lassen. Zur Auflösung der Fußnote[32] Über die bereits erwähnten, von dem MfS zu den Akten genommenen Dokumente des Reichssicherheitshauptamtes hinaus fanden sich keine weiteren Aktenbestände von Dienststellen des NS-Staates mit Bezug zu dem vorliegenden Fall. Zur Auflösung der Fußnote[33]
IV. Akten des Bundesnachrichtendienstes (Dokumente Nr. 4-6)
Im Rahmen der erweiterten Würdigung der Quellenlage wurden zunächst die Akten von Dienststellen des Bundes in die Recherche einbezogen. Hierbei kam dem archivierten Aktenbestand des Bundesnachrichtendienstes – soweit er einsehbar ist – eine zentrale Bedeutung zu. Zur Auflösung der Fußnote[34] Zu dem zu überprüfenden Sachverhaltskomplex fanden sich die in Auszügen vorgestellten Dokumente Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 6.
1. "Hausers Bericht vom 21.03.1969" (Dokument 4)
Aus diesem Bericht ergibt sich zunächst, dass der im MfS-Vermerk erwähnte Ernest F. Hauser (nicht: Ernest "S.") von 1966-1970 Agent des BND war (Deckname "LEDER"). Zur Auflösung der Fußnote[35] Dieser Neuigkeit kommt eine gewisse Brisanz zu. Zum einen war Hauser über viele Jahre hinweg vielschichtig mit Strauß verbunden. Zur Auflösung der Fußnote[36] Zum anderen kam ihm als Vertreter des U.S.-amerikanischen Rüstungskonzerns Lockheed – dem Hersteller des Kampfflugzeuges Lockheed F-104 "Starfighter" – eine wichtige Rolle in der sogenannten "Lockheed-Affäre" zu, unter anderem auch als Zeuge des 1. Untersuchungsausschusses der 8. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Zur Auflösung der Fußnote[37]
Der BND war demnach in Besitz einer im Kern kongruenten Schilderung des Strauß betreffenden Spionagesachverhaltes. Der mehrfach in der sowjetischen Botschaft in Bonn und Ost-Berlin eingesetzte und ausweislich der BND-Akten Zur Auflösung der Fußnote[38] dem KGB zuzuordnende Botschaftssekretär Jurij Nicolosci hatte Hauser ein in deutscher Sprache gehaltenes Dokument zu einer lediglich kurzen Einsichtnahme ausgehändigt. Dennoch gibt der Bericht in großer Übereinstimmung mit dem Dokument Nr. 2 den OSS-Sachverhaltskomplex wieder. Diese Kenntnisnahme erfolgte zu einem Zeitpunkt, der gut anderthalb Jahre vor Fertigung des Dokumentes Nr. 2 liegt. Demnach wusste der BND wahrscheinlich vor dem MfS von dieser Sachverhaltsbehauptung; nicht auszuschließen ist allerdings, dass das MfS vorher auf andere (nicht mehr aktenkundige) Weise Kenntnis davon gehabt haben könnte. Da die dem Dokument Nr. 2 zugrundeliegende Quelle unbekannt geblieben ist, kann aus der Kenntnis des BND jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass es zwei unabhängige Quellen für diesen Komplex gäbe. Möglich wäre auch, dass sowohl die Kenntnis des MfS als auch die Kenntnis des BND auf Informationen des KGB beruhten.
2. Treffbericht Nr. 19 vom 11.02.1969 (Dokument 5)
Beim Dokument Nr. 5 handelt es sich um einen vom Verbindungsführer Hausers angefertigten Bericht über ein am 7. Februar 1969 durchgeführtes Treffen. Die hier enthaltene Behauptung Hausers, persönlich von Strauss über dessen Tätigkeit für den OSS unterrichtet worden zu sein, arrondiert den Kenntnisstand des BND über eine mögliche nachrichtendienstliche Verbindung ebenso wie die Nennung der ebenfalls in den MfS-Akten erwähnten OSS-Mitarbeiter Dulles und von Schulze-Gaevernitz.
3. Treffbericht Nr. 6 vom 10.07.1968 (Dokument 6)
Mit der in Dokument Nr. 6 wiedergegebenen Behauptung Hausers, die USA seien im Besitz weiterer kompromittierender Erkenntnisse - auch aus dem sexuellen Bereich - über Strauß, um dessen Widerstand gegen den Atomwaffensperrvertrag zu überwinden, Zur Auflösung der Fußnote[39] ist eine bedeutsame Weiterung möglicher Beziehungen zwischen Strauß und U.S.-amerikanischen Dienststellen verbunden. Während sich die aus den Dokumenten Nr. 1 - Nr. 5 ergebenden Sachverhaltsbehauptungen auf historische Geschehnisse beziehen, gründen die in Dokument Nr. 6 enthaltenen Behauptungen in damals aktuellen Geschehnissen. Ausweislich der zugänglichen Aktenlage bewertet der BND diese Meldungen seines Agenten in ambivalenter Weise. Einerseits heißt es dort: "Bei einer Beurteilung der Meldung muss aber berücksichtigt werden, dass gerade in der letzten Zeit erhebliche Spannungen in den Beziehungen zwischen der Quelle [also Hauser] und Finanzminister STRAUSS aufgetreten sind." Zur Auflösung der Fußnote[40] Andererseits heißt es weiter: "Es kann vermutet werden, dass die Behauptungen tatsächlicher Art eines realen Hintergrundes nicht entbehren. Die daraus gezogenen Schlüsse in Hinblick auf einen Gebrauch der eventuellen vorhandenen Kompromate zu politischen Zwecken erscheinen aber vorläufig als hypothetisch." Zur Auflösung der Fußnote[41] Welche konkreten Schlussfolgerungen der BND aus dieser vorläufigen Einschätzung gezogen hat, bleibt unklar. Eine Mitteilung an das Bundesamt für Verfassungsschutz ist jedenfalls nicht erfolgt. Zur Auflösung der Fußnote[42] Allerdings ergibt sich aus einem Vermerk vom 21. Mai 1980, dass sich der damalige BND-Präsident Klaus Kinkel mit dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Strauß auf dessen Wunsch hin zweimalig über die "ehemalige nachrichtendienstliche Verbindung V - 33 349", also über Hauser, unterhalten hat. Zur Auflösung der Fußnote[43] Der Inhalt der Gespräche bleibt im Dunkeln, weil die entsprechenden Vermerke und weitere Unterlagen zu den Akten des Präsidenten sowie seines Büros genommen und nicht vorgelegt worden sind. Zur Auflösung der Fußnote[44] Lediglich ein Teil der in Vorbereitung dieser Gespräche gefertigten Unterlagen war zugänglich. Die hierin getroffene Formulierung "Die Akten des BND enthalten in Treffberichten teilweise Behauptungen und Mutmaßungen des Herrn HAUSER, deren Wahrheitsgehalt sowohl von dem betreffenden Verbindungsführer als auch deren Vorgesetzten angezweifelt worden waren." Zur Auflösung der Fußnote[45] steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der oben zitierten, eher ambivalenten Bewertung der Behauptungen Hausers. Berücksichtigt man ferner die zwischen dem BND-Präsidenten und Strauß geführten Unterredungen, ist der Umgang des Dienstes mit diesem Themenkomplex zumindest als fragwürdig zu bezeichnen.
V. Nachlässe
Zur weitergehenden Würdigung wurde aus dem Bereich der Nachlässe der im Bundesarchiv verwahrte Nachlass von Gero von Schulze-Gaevernitz eingesehen. Dieser enthält zwar interessante Aspekte zu den OSS-Operationen, aber nichts zum vorliegenden Sachverhalt. Zur Auflösung der Fußnote[46] Allerdings lassen sich anhand der Reisepässe zahlreiche Deutschlandreisen von Schulze-Gaevernitz, auch über die Grenzstation St. Margrethen, nachvollziehen. Zur Auflösung der Fußnote[47] Die letzte Ausreise aus Deutschland erfolgte am 10. Dezember 1941, 12 Uhr, also am Tag vor den wechselseitigen Kriegserklärungen des Deutschen Reichs und der USA. Der im Archiv für Christlich-Soziale Politik der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. verwahrte politische Nachlass von Strauß enthält einige Feldpostbriefe, den Wehrpass und das Soldbuch. Zur Auflösung der Fußnote[48] Auch aus diesen Dokumenten ergeben sich für die vorliegende Untersuchung jedoch keine Hinweise.
VI. Akten ausländischer Dienststellen und Zeitzeugenberichte
Bundesverteidigungsmininster Franz Josef Strauß (Mitte) besucht 1961 das Oberste Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte in Europa (SHAPE) bei Paris. Rechts der Alliierte Oberbefehlshaber der NATO, US-General Lauris Norstad (© picture alliance / AFP)
Von Seiten U.S.-amerikanischer Dienststellen sind für die vorliegende Untersuchung vor allem die Akten des OSS von Relevanz. Dieser seinem Umfang und seiner Erschließung nach beeindruckende Aktenbestand wird von den National Archives verwaltet. Zu beachten ist allerdings, dass er insofern nicht vollständig ist, als die CIA vor Ablieferung des Archivguts unter bestimmten Voraussetzungen Material entnommen hat (sog. "Previously Withdrawn Material"). Zur Auflösung der Fußnote[49] Allen W. Dulles hat seine umfangreiche Korrespondenz und andere Unterlagen der Princeton University – seiner Alma Mater – vermacht. Zur Auflösung der Fußnote[50] Auch dieser vielfältige Aktenbestand ist hervorragend erschlossen. Im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung lässt sich durch diese Unterlagen jedoch lediglich bestätigen, was bereits vielfältig beschrieben wurde: Das OSS war in der fraglichen Zeit – u. a. mit Dulles Zur Auflösung der Fußnote[51] und von Schulze-Gaevernitz Zur Auflösung der Fußnote[52], nicht aber mit Ernest Hauser Zur Auflösung der Fußnote[53] - in der Schweiz und in Deutschland tätig. Henry Kissinger gehörte nicht dem OSS, sondern dem militärischen Nachrichtendienst an. Zur Auflösung der Fußnote[54]
Aus den im Schweizerischen Bundesarchiv zu Dulles und v. Schulze - Gaevernitz verwahrten Unterlagen, die eine bunte Mischung aus klassischem Verwaltungshandeln, Berichten politischer und militärischer Dienststellen, Abhörprotokollen, Observationsberichten, "fremdenpolizeilichen" Dokumenten und Zeitungsausschnitten darstellen, lässt sich zwar ein anschauliches Bild der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des OSS gewinnen. Zur Auflösung der Fußnote[55] Mehrere Treffen mit deutschen Repräsentanten, vor allem der Abwehr, sind dokumentiert. Zu dem in Frage stehenden Sachverhalt finden sich jedoch in diesem Aktenbestand keine Hinweise.
Die im Zentrum für Publikationen der Quellen zur Geschichte Russlands im XX. Jahrhundert verwahrten Akten des KGB konnten bislang nicht eingesehen werden.
In einem letzten Schritt kann die Untersuchung demnach nur noch um Aussagen von Zeitzeugen erweitert werden. Bereits dokumentierte Aussagen von Zeitzeugen waren nicht zu ermitteln. Von den unmittelbaren Zeitzeugen ist - soweit ersichtlich - nur noch der ehemalige CIC-Soldat und spätere U.S.-Außenminister Henry Kissinger am Leben. Eine Bitte des Verfassers, zu dem behaupteten Sachverhalt schriftlich Stellung zu nehmen, blieb unbeantwortet. Zur Auflösung der Fußnote[56] Gleiches gilt für eine an den ehemaligen BND-Präsidenten Klaus Kinkel gerichtete Bitte. Zur Auflösung der Fußnote[57]
Demnach kann festgehalten werden, dass sich der behauptete Sachverhalt nach derzeitigem Kenntnisstand auch nicht im Wege einer weitergehenden Untersuchung der Quellenlage beweisen oder widerlegen lässt.
VII. Zusammenfassung
Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich aus den genannten Unterlagen des MfS und des Bundesnachrichtendienstes konkrete Hinweise auf eine Spionagetätigkeit von Strauß zugunsten des OSS ergeben. Die kritische Überprüfung dieser Hinweise erfolgte unter den für die historische Erforschung von nachrichtendienstlichen Sachverhalten maßgeblichen Bedingungen. Hierzu zählen insbesondere der lediglich bruchstückhafte Charakter des relevanten Aktenbestandes, seine nur beschränkte Einsehbarkeit und die zum Teil dubiose Überlieferungsgeschichte der HVA-Akten im Allgemeinen sowie der Stasi-Akten zu Strauß im Besonderen. Soweit sich diese Hinweise aus den überlieferten MfS-Unterlagen ergeben, entbehren sie eines konkreten Quellennachweises. Andererseits geben die Unterlagen mit großer Klarheit die Intention des MfS zu erkennen, historische Erkenntnisse (und Behauptungen) "für operative Zwecke" - also im Rahmen einer Desinformationskampagne - gegen Strauß zu nutzen. In diesem Kontext ist auch der Versuch des MfS zu sehen, Strauß durch die falsche Behauptung einer Beteiligung an Kriegsverbrechen zu diskreditieren.
Die Hinweise auf eine Spionagetätigkeit von Strauß erscheinen als möglich. Sie sind jedoch nach derzeitigem Kenntnisstand weder zu beweisen, noch zu widerlegen. Ebenso wenig lässt sich mangels nachvollziehbarer Kriterien eine verlässliche Feststellung der Wahrscheinlichkeit treffen. Wie auch andere Bereiche der Biographie von Strauß - man denke beispielhaft nur an die Vermittlung der Milliardenkredite - verbleibt diese Angelegenheit damit partiell im Dunkeln. Mit den Worten Max Webers Zur Auflösung der Fußnote[58] bleibt zu hoffen, "daß andere weiter kommen werden als wir".
Zitierweise: Enrico Brissa, Dokumentation: Zu einer möglichen Spionagetätigkeit von Franz Josef Strauß für das Office of Strategic Services (OSS), in: Deutschland Archiv, 5.9.2015, Link: www.bpb.de/211519.