Dem Historiker bleibt vorbehalten, zu verstehen, ohne zu verurteilen und ohne zu entschuldigen." Für Historiker, die sich mit Russlands postsowjetischer, postkommunistischer Identitätskonstruktion befassen, ist es nicht immer leicht, dem Ratschlag des französischen Philosophen Paul Ricœur zu folgen. Vergleiche mit Gesellschaften, die anders mit ihrer Vergangenheit umgehen als wir es erwarten, verleiten oft zum schnellen Urteilen, wenn nicht Verurteilen. Und nur allzu oft ist die Versuchung groß, den Umgang der anderen mit ihrer Vergangenheit an den eigenen Normen zu messen.
Ich möchte im Folgenden einige Etappen der Identitätskonstruktion des postsowjetischen Russlands aufzeigen, um hiermit vielleicht zu einem besseren Verständnis seiner gegenwärtigen ideologischen, geistigen und kulturellen Befindlichkeiten beizutragen. Damit erhebe ich keineswegs den Anspruch, Russlands politisch, geopolitisch und geostrategisch motiviertes Vorgehen im derzeitigen Konflikt mit der Ukraine zu erklären. Es geht mir hier nicht um Russlands Innen- und Außenpolitik, sondern um die Entwicklung seiner ideologischen Wertvorstellungen und seines nationalen Selbstverständnisses während der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte. Dass diese Faktoren nicht nur Russlands offizielle Geschichtspolitik, sondern auf die eine oder andere Weise auch seine Sicherheitsstrategie, Militärdoktrin, auswärtige Politik oder Nationalitätenpolitik prägen, unterliegt allerdings keinem Zweifel.
Die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 bedeutete für den Großteil der russischen Bevölkerung nicht nur die Befreiung vom Kommunismus. Die Unabhängigkeitserklärungen der 14 früheren Unionsrepubliken (Ukraine, Belarus, Kasachstan sowie die baltischen, kaukasischen, zentralasiatischen und moldauischen Republiken) hatten die einstige Sowjetunion auf die Grenzen des Moskauer Reiches um die Mitte des 17. Jahrhunderts beziehungsweise auf 76 Prozent des vorherigen sowjetischen Territoriums zusammenschrumpfen lassen. An die 25 Millionen Russen befanden sich quasi über Nacht im "nahen Ausland", das heißt in den Nachfolgestaaten der früheren Sowjetrepubliken, in denen eine restriktive Nationalitäten- und Sprachgesetzgebung ihnen häufig nur verminderte Rechte zubilligte und sie zu Ausländern machte.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Bildung alt-neuer Nationalstaaten auf ihrem vormaligen Gebiet stellte sich auch die Frage nach dem Selbstverständnis des nunmehr als "Russische Föderation" verbliebenen Gemeinwesens, das völkerrechtlich die Nachfolge der Sowjetunion antrat. Fragen wie "wohin geht Russland?" oder "wer sind wir?" werden seit Beginn der 1990er Jahre von Politikern, Parteien, Philosophen, Schriftstellern und selbst von Vertretern der Kirche erörtert; sie charakterisieren Russlands Suche nach seiner postsowjetischen nationalen und kulturellen Identität. Der Prozess dieser Suche dauert bis heute an, auch wenn Wladimir Putin in seinem letzten Rechenschaftsbericht als Ministerpräsident vor der Duma am 11. April 2012 erklärte, dass die "postsowjetische Epoche" in der Geschichte Russlands abgeschlossen sei und "eine neue Etappe in der Entwicklung des Landes" beginne.
Perestroika und Glasnost
Der Auflösungsprozess der Sowjetunion hatte sich in den letzten Jahren der Regierungszeit Michail Gorbatschows (1985–1991) bereits angebahnt. Die mit Gorbatschows Namen verbundene Perestroika (Umgestaltung) hatte zunächst eine Erneuerung der Wirtschaft auf der Grundlage des Umbaus der veralteten politischen und ökonomischen Strukturen angestrebt. Unter dem Schlagwort Glasnost (Transparenz, Offenheit, Öffentlichkeit) setzte rasch ein radikales Umdenken in der gesamten Gesellschaft ein.
Es waren anfangs die Medien und keinesfalls die vorsichtigen Historiker, die Gorbatschows Aufforderung befolgten, die "weißen Flecken" der sowjetischen und russischen Geschichte zu füllen. Es begann eine kritische Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Ideologie, den sowjetischen Institutionen und vor allem mit dem Stalinismus. Erstmals wurden Alternativen in der sowjetischen Geschichte erörtert – etwa ob die bolschewistische Oktoberrevolution 1917 unvermeidlich war oder ob Russland auch eine andere Entwicklung hätte nehmen können, die sich an der demokratischen Februarrevolution im selben Jahr orientiert hätte. In Belletristik, Künsten und Kinematografie vollzog sich ein heute kaum mehr vorstellbarer Aufbruch. Hierbei richteten sich die Hoffnungen und Erwartungen der Intelligenzija sowie der neuen "Demokraten" und "Liberalen" auf eine schnelle Demokratisierung, eine marktwirtschaftliche Ordnung und eine an westlichen Vorstellungen orientierte Zivilgesellschaft.
Zahlreiche sogenannte informelle Gruppen entstanden, hierunter die Organisation Memorial, die bis heute die Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus aufrechterhält und sich für Menschenrechte einsetzt. Die neue Freiheit führte jedoch auch zum Entstehen nationalistischer und antisemitischer Gruppen wie Pamjat. Unter Gorbatschow kehrte auch die russisch-orthodoxe Kirche in die Öffentlichkeit zurück; 1988 beging der (noch) sowjetische Staat gemeinsam mit der obersten Kirchenhierarchie das Millennium der Taufe des Großfürsten Wladimir und damit der Bekehrung der Rus zum Christentum im Jahre 988.
Ära Jelzin
Boris Jelzin war im Juni 1991 zum ersten Präsidenten der Russischen Föderation gewählt worden. Seine achteinhalbjährige Amtszeit zeichnete sich durch fundamentale Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands aus. Die "Transition" (vom Sozialismus zum Kapitalismus) hatte einschneidende Veränderungen im Leben breiter Bevölkerungsteile sowie eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge, die es in der Sowjetunion nicht gegeben hatte (oder nicht eingestanden worden war). Die Privatisierung des Staatseigentums führte zu heftigen Verteilungskämpfen um Ressourcen und brachte die Gruppe der "Oligarchen" und "neuen Russen" hervor, während viele Reformer ihre Hoffnungen auf die Durchsetzung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien schnell verloren. Über den Systemwechsel hinweg gab es zahlreiche Kontinuitäten, vielfach vollzog das alte politische Establishment nur eine opportunistische Wende hin zu den neuen demokratischen "Werten".
Die während der Perestroika begonnene Suche nach Werten in Russlands vorrevolutionärer Geschichte wurde unter Jelzin fortgesetzt und für den Aufbau des neuen Staates für notwendig erklärt. Hatte die Perestroika vom kommunistischen System geleugnete Wertvorstellungen in die Erinnerung zurückgeholt, so ging es in der Anfangszeit Jelzins um die Findung neuer staatsverbindlicher Normen. Sie sollten das ideologische Vakuum füllen, das mit der Absage an die marxistisch-leninistische Ideologie entstanden war. Doch welche nationale und kulturelle Identität sollte sich das postsowjetische, postkommunistische Russland geben? Wie sollte mit dem sowjetischen Erbe, den sowjetischen Mythen umgegangen werden? Auf welche Geschichte sollte zurückgegriffen werden, um die Neugründung zu legitimieren? Welche unmittelbare Vergangenheit sollte befragt, hinterfragt oder auch vergessen werden? Um welche Wertvorstellungen sollte es gehen?
Es begann die Suche nach dem, was der britische Historiker Eric Hobsbawm als brauchbare, nützliche Vergangenheit ("usable or useful past") bezeichnet hatte, allerdings ohne von Russland zu sprechen. Und wo sonst ließen sich die Werte für das neue russische Selbstverständnis suchen als in der vorrevolutionären Epoche – nachdem die Oktoberrevolution von allen politischen Kräften (mit Ausnahme der Kommunisten) zum Putsch abqualifiziert und der Gründungsmythos des sowjetischen Staates damit aufgehoben worden war?
Parallel zur Entmythisierung der sowjetischen Vergangenheit fand eine Remythisierung der vorrevolutionären russischen Geschichte statt. Die Sichtbarmachung der Geschichte des imperialen Russlands begann mit der Auswechslung der Staatssymbole und Embleme: Die von Peter dem Großen aus Holland eingeführte weiß-blau-rote Trikolore wurde für die rote Flagge mit Hammer und Sichel eingetauscht, der byzantinische Doppeladler der Romanows für den roten Stern. Die neue Nationalhymne wurde einer Melodie aus Glinkas Oper "Ein Leben für den Zar" entliehen – allerdings fand sich kein passender Text. Die orthodoxen Feiertage Ostern und Weihnachten wurden wieder als arbeitsfreie Tage anerkannt. Jelzin, der in der russisch-orthodoxen Kirche den Mittler der nationalen Tradition sah, rief diese zur "geistigen und moralischen Wiedergeburt Russlands" auf – eine Formel, derer sich Putin bis heute bedient.
Als einzige Instanz, die ihre Wurzeln im vorrevolutionären Russland hat, wird die Kirche in der neuen "kollektiven Erinnerung" mit der Vorstellung einer von Verbrechen freien, "heilen" Vergangenheit verbunden. Ihre Verfolgung in der Sowjetunion macht sie zum "Märtyrer des Kommunismus". Dass ihre Hierarchie mit dem KGB zusammenarbeitete, wird von ihr bis heute nicht thematisiert, obwohl hierüber bereits während der Perestroika Dokumente an die Öffentlichkeit gelangten.
Um der Jugend eine neue moralische "Orientierung" für ihre Identitätsfindung zu geben, wurde 1992 ein neues Pflichtfach für Studenten aller Fakultäten im ersten Semester und kurz danach auch für Oberschüler eingeführt: "Kulturologie" (kul’turologija). Geradezu exemplarisch illustriert diese den Paradigmenwechsel: Wurde vormals die Weltgeschichte nach ökonomischen Formationen beurteilt – der marxsche Unterbau –, so wird jetzt die Kultur – Marx zufolge der Überbau – zum Fundament aller sozialen Phänomene. Das sich aus der Kulturologie entwickelnde zivilisatorische Paradigma und das hierauf gründende neue Fach "Zivilisationenkunde" versteht Russland als eigenständige Zivilisation mit eigener kulturhistorischer und sittlich-ethischer Tradition, die auf jahrhundertealten russischen kulturellen und nationalen Werten beruht, deren geistige Grundlage die Orthodoxie ist. Der neue zivilisatorische Identitätsdiskurs, den Vertreter aller politischen Richtungen anwenden, übernimmt Begriffe aus dem 19. Jahrhundert wie "russische Seinsart" (russkost’), "russischer Weg" (russkij put’), "russische Eigenständigkeit" (samobytnost’) sowie sobornost’, einen kaum zu übersetzenden Terminus für die "russische Gemeinschaftlichkeit". Diese der "Wiedergeburt" Russlands zugrunde gelegten Begriffe gelten als dem "westlichen" Verständnis von Fortschritt und Modernismus überlegen.
1996 ließ Jelzin einen Wettbewerb für die "beste nationale Ideologie" ausschreiben, die eine national gültige Antwort auf die quälenden Identitätsfragen geben sollte. Der Gewinner, der Historiker Gurij Sudakov aus Tula, legte die neue nationale Idee in "Sechs Prinzipien der Russischkeit" (sest’ principov russkosti) fest, in dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden slawophilen Konzept der "russischen Idee": Diese umfasst Russlands eigenständige Entwicklung, seinen Nationalcharakter, die russische Orthodoxie und die russische Religionsphilosophie.
1998 wurden auf Anordnung Jelzins die Überreste des letzten Zaren Nikolaus II. und seiner Familie in der Gruft der Romanows, der Peter-und-Pauls-Kirche in St. Petersburg feierlich beigesetzt – auf den Tag genau 80 Jahre nach ihrer von Lenin angeordneten Erschießung. Der von Jelzin als "Akt der Reue" bezeichnete Staatsakt sollte eine historische Kontinuität des imperialen zum postsowjetischen russischen Staatswesen legitimieren. "Beim Aufbau eines neuen Russland müssen wir uns auf eine historische Erfahrung stützen", lautete Jelzins Begründung.
Nahezu alle politischen Parteien und Akteure griffen in der Ära Jelzin auf Geschichte als Mobilisierungsressource der Identitätsfindung zurück. Selbst die Nostalgie der Kommunisten für die Sowjetzeit stand der Hervorkehrung der Traditionen des zarischen Imperiums nicht im Wege, sahen sie doch im sowjetischen Imperium dessen Fortführung. Wurde die sowjetische Epoche der russischen Geschichte weitgehend aus Jelzins Geschichtspolitik ausgeklammert, so war die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" eine Ausnahme. Zum 50. Jahrestag des Sieges wurde der Bau einer bereits unter Leonid Breschnew begonnenen monumentalen an sowjetische Vorbilder erinnernden Gedenkstätte (Poklonnaja Gora) im Westen Moskaus vollendet.
Hat das Verlangen, die neue Identität in der weiter zurückliegenden Vergangenheit der Staatsmacht des autokratischen Russlands zu suchen, ausgeschlossen, sich mit der jüngsten, sowjetischen Vergangenheit zu befassen? Auf jeden Fall fand unter Jelzin keine grundsätzliche offizielle Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und seinen Opfern statt. Dabei hätten die teilweise Öffnung der Archive und die Veröffentlichungen aufschlussreicher Quellensammlungen über das Funktionieren des stalinschen und ganz allgemein des sowjetischen Herrschaftsapparates eine Aufarbeitung durchaus ermöglicht. Diese bleibt bis heute allein der Organisation Memorial überlassen.
Putins Russland
Die chaotischen Verhältnisse der letzten Jahre der Ära Jelzin, die von finanziellen Manipulationen durchdrungene Staatsspitze sowie die Wirtschafts- und Finanzkrise waren der Grund dafür, dass große Teile der Bevölkerung die "eiserne Hand" des Präsidenten Wladimir Putin (2000–2008, erneut seit 2012) guthießen. Seine im Westen vielfach für Irritation sorgenden Schlüsselwörter "Diktatur des Rechts", "Machtvertikale", "gelenkte Demokratie" oder "administrativer Kapitalismus" wurden in Russland als Wegbereiter für die versprochene Wiederherstellung der Staatsmacht verstanden. Selbst der zweite Tschetschenienkrieg (1999–2009) wurde größtenteils akzeptiert.
Ging es Jelzin vornehmlich um die Rückgewinnung vorrevolutionärer Werte und Erinnerungen (bei weitgehender Ausklammerung der sowjetischen Vergangenheit), so zeichnet sich Putins nationales Konzept durch eine Art "russisch-sowjetischer Mischidentität" aus,
Mit dem Satz "Weder mein Herz noch mein Verstand könnten jemals akzeptieren, dass unsere Mütter und Väter umsonst gelebt haben sollen",
Doch Putins Geschichtspolitik instrumentalisiert auch das imperiale Russland: 2004 schuf er einen neuen nationalen Feiertag, der an den starken russischen Staat erinnern soll. Hierfür wählte er, von der Kirchenhierarchie beraten, den 4. November 1612, an dem eine russische Volkswehr die "katholischen Polen" aus dem Kreml vertrieben hatte, womit die Zeit der Wirren (smuta) beendet und der Neuaufbau des russischen Staates (damals noch Moskauer Staat) eingeleitet worden waren.
Einen weiteren Akzent setzt Putin auf die "patriotische Erziehung". Ein Dekret von 2001 appelliert an die "systematische und zielbewusste Tätigkeit der Organe und Organisationen der Staatsmacht zur Ausbildung eines hohen patriotischen Bewusstseins der Bürger, der Treue zum Vaterland, der Bereitschaft zur Erfüllung der Bürgerpflicht und der in der Verfassung festgelegten Verpflichtungen zur Verteidigung der Interessen der Heimat". Die "geistig-moralische Einheit der Gesellschaft" solle durch die "Wiedergeburt der wahren geistigen Werte des russischen Volkes" geschaffen werden, die ihrerseits die "Einheit und Freundschaft der Völker der Russischen Föderation" verstärke.
"Russland in der Tradition des starken Staates" ist nicht nur der Schlüsselbegriff für Putins Politik, sondern auch für das Identitätsverständnis, das sein patriotisches Programm den Russen übermittelt. Die orthodoxe Kirche auf der Grundlage der byzantinischen "Symphonie der Mächte" ist für ihn dabei eine natürliche Verbündete – verkörpert sie doch in besonderer Weise die "russische Idee", den spezifisch russischen Weg und die russische im Unterschied zur westlichen Kultur.
Die patriotische Politik und Erziehung wird von Putin durch den Erinnerungskult an den "Großen Vaterländischen Krieg" verstärkt. Die von Jahr zu Jahr imposantere Militärparade am 9. Mai, dem Tag des Sieges, soll die Macht des postsowjetischen Staates demonstrieren und das Selbstbewusstsein einer großen Nation festigen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge die Sowjetunion schließlich eine mit den USA konkurrierende Supermacht wurde, wird moralisch wie emotional genutzt, um mit Stolz auf eine ruhmreiche Vergangenheit schauen zu können. Erinnert wird vor allem an die Helden, weniger an die Opfer.
Der neue Staatspatriotismus (gosudarstvennyj patriotizm) zielt vor allem darauf ab, den Mythos von der Einheit der russischen Geschichte in den Geschichtsunterricht einzubringen, um den Nationalstolz und Patriotismus zu festigen und damit die Gesellschaft zu konsolidieren. Hierfür schaltet sich Putin gelegentlich sogar persönlich in die Debatten über die Abfassung von Schulbüchern ein. "Wir sollten niemandem erlauben, uns ein Schuldgefühl aufzudrängen", verpflichtete er etwa die Historiker. Es sei ihre Aufgabe, "vor allem bei unseren jungen Bürgern wieder das Gefühl von Stolz auf ihr Land zu schaffen".
Ein von Putin 2007 in Auftrag gegebenes Geschichtsbuch für Lehrer gibt das zu vermittelnde Bild vor:
Der Widerstand der Geschichtslehrer war eindrucksvoll. Kurze Zeit später protestierten sie auch gegen ein von Putin gefordertes einheitliches Narrativ der russischen Geschichte und gegen den Entwurf eines landesweit obligatorischen Einheitsgeschichtsbuchs für den Schulunterricht, das einem "Gesellschaftsvertrag über die Wahrnehmung der Vergangenheit" gleichkommen sollte.
Seit September 2012 wird im Rahmen eines neuen übergreifenden Pflichtfachs an allen russischen Grundschulen das Fach "Grundlagen der orthodoxen Kultur" unterrichtet. Die entsprechenden Lehrbücher verbinden den Unterricht des orthodoxen Katechismus mit einer Art Staatsbürgerkunde, die im Patriotismus einen substanziellen Bestandteil der "orthodoxen Kultur" sieht. Sie vermitteln ein Kulturverständnis, demzufolge die geistige Superiorität der russischen Orthodoxie alle anderen ethnischen Kulturen Russlands umfasst und überragt.
Diese Beispiele zeigen, dass sich der unter Putin zunehmend verstärkende Autoritarismus durch vage Konstrukte wie Patriotismus, Nationalismus, Etatismus und vor allem durch die Referenz auf die Kontinuität des starken russischen Staates legitimiert wird. Ein kompensatorischer Traditionalismus verankert die Vorstellung von Russlands imperialer Überlegenheit und seiner historischen Sonderrolle in der kollektiven Erinnerung. Auf die Identitäts- und Sinnsuche – "Wohin geht Russland?" – antwortet die "russische Idee" mit der Hegemonie über die zahlreichen Völker im Vielvölkerstaat der Russischen Föderation.
Russland und Europa
Im Findungsprozess der postsowjetischen Identität spielt Russlands Verhältnis zum Westen eine immer größere Rolle. Seit Peter der Große das "Fenster nach Europa" öffnete, ist Europa das Muster für Russlands Modernisierung. An der Dichotomie "Russland und Europa" oder "Russland und der Westen" spalteten sich schon im 19. Jahrhundert "Slawophile" und "Westler". Für die Slawophilen war Russland eine eigenständige Zivilisation, deren in der Orthodoxie verankerte religiöse und moralische Werte sie dem Rationalismus des Westens gegenüberstellten. Für die an den Reformen Peters des Großen orientierten Westler war Europäisierung synonym mit Modernisierung, mit einem Ausstieg aus der Rückständigkeit. Die Opposition zwischen Russland und dem Westen, dem "Wir" und "Sie", den "Selbst"- und "Fremdbildern", prägt nach 1991 nicht nur die russische Philosophie, sondern auch den politischen Diskurs. Die Spaltung in Westler und Nicht-Westler (oder Neo-Slawophile) wurde wieder aktuell.
Gorbatschow hatte für ein "europäisches Haus" plädiert. Die Jelzin-Führung sprach sich für ein "Groß-Europa" (bol’saja Evropa) aus – das erweiterte EU-Europa und Russland – und für eine proatlantische Orientierung. Doch mit der Zunahme der Zweifel an dem westlich-liberalen Wirtschaftsmodell wuchsen selbst in demokratischen russischen Kreisen die Zweifel an den Werten und Errungenschaften der westlichen Kultur. Gegenüber einer sich global verstehenden Welt wächst in Russland das Bedürfnis, die nationale Eigenart zu stärken. In seinen ersten Regierungsjahren gab sich Putin als Europäer, besonders auf seinen Reisen ins westliche Ausland. Erinnert sei an seine Rede vor dem Bundestag im September 2001, in der er Russland als "äußerst dynamischen Teil des europäischen Kontinents" bezeichnete. In Russland selbst fand die "russische Idee" schon seit den 1990er Jahren durch die "eurasische Idee" eine komplementäre Unterstützung.
Russlands Lage zwischen Europa und Asien hatte russische Emigranten in den 1920er Jahren bewogen, mit dem Konzept "Eurasien" Russlands besondere Aufgabe im Zusammenschluss der Völker Europas und Asiens zu einer staatlichen und kulturellen Einheit zu bestimmen. Heute bezieht sich die geopolitische und geostrategische Referenz politischer und militärischer Kreise auf Eurasien und den Raum des sowjetischen Imperiums. Die vermisste staatliche Kontinuität der Sowjetunion und der Russischen Föderation soll durch die Referenz auf Eurasien kompensiert werden.
Aus Sicht Putins ist der Zerfall der Sowjetunion "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts".
Unterstützung erfährt Putins geopolitische eurasische Orientierung von der orthodoxen Kirche insofern, als ihre jurisdiktionelle Vorstellung vom untrennbaren "kanonischen Territorium" oder "kanonischen Territorium Eurasiens" (Patriarch Alexej II.) alle Russen einbezieht, da diese als Nachkommen von Orthodoxen "ihre Wurzeln in der Orthodoxie haben".
Die "heilige Rus" ist für den Patriarchen "kein ethnisches, kein politisches, kein linguistisches, sondern ein geistiges Konzept"; der dahinter stehende einheitliche Kulturraum umfasst demnach außer Russland, Belarus und der Ukraine auch diejenigen Teile Kasachstans, in denen die russische, das heißt die slawisch-orthodoxe Bevölkerung vorherrscht, sowie Moldau.
Putins geopolitisches Kernprojekt, das er als wichtigste außen- und wirtschaftspolitische Zielsetzung seiner dritten Amtszeit bezeichnet, ist die "Eurasische Union". Hiermit versucht er, den Zerfall der Sowjetunion "durch eine neue, post-imperiale Form der politischen und wirtschaftlichen Integration jedenfalls ein Stück weit zu korrigieren".
Russlands Verhältnis zur Ukraine
Seit einigen Jahren projizieren russische Diskurse das Konzept der antiwestlichen und antieuropäischen "russischen Welt" auf die Ukraine. Dieses Konzept rekurriert auf die geistig-kulturelle "heilige Rus" und die ihr verbundene ethnokulturelle Gemeinschaft der ostslawischen Völker der Russen, Ukrainer und Belorussen, auf die russisch-orthodoxe Kirche und die aus ihr abgeleitete ostslawische Geistigkeit, die russische Sprachkultur und den gemeinsamen Sieg über den Faschismus im "Großen Vaterländischen Krieg". Diese Sicht macht die Ukraine zum "Kernbestandteil der ‚russischen Welt‘", das heißt der "orthodox-ostslawischen", von Russland geführten und der Europäischen Union entgegengestellten Einflusssphäre.
Zu Putins Vokabular gehört auch der Begriff Rus’ im Sinne des Vorläuferstaates für Russland, die Ukraine und Belarus. In der "Kiewer Rus" des 9. bis 13. Jahrhunderts lebten zwar orthodoxe Slawen (und andere Ethnien), doch für diese Zeit von "Russen" und "Ukrainern" zu sprechen, ist ein Anachronismus – zumal die "Kiewer Rus’" eine Erfindung der Historiografie des 19. Jahrhunderts ist. Allerdings begründete die Annahme des orthodoxen Christentums im Jahr 988 eine wichtige Gemeinsamkeit von späteren Russen und Ukrainern. Aus russischer Sicht macht die von der Taufe der Rus’ abgeleitete Staatsreligion die Ukraine geradezu zwangsläufig zu einem Teil des russischen Staatswesens.
Als sich die Ukraine 1991 zu einem unabhängigen Staat erklärte, konnte sie nur auf kurzfristige Ansätze von Staatsbildung zurückgreifen: auf das Kosaken-Hetmanat des 17. Jahrhunderts (das sich 1654 unter die Hoheit Moskaus begab)
Das Fehlen einer ungebrochenen Staatlichkeit der Ukraine und ihr historisches "imperiales" Erbe, das von der subalternen Stellung der Ukrainer unter den Zaren und später in der Sowjetunion bestimmt wurde, hat dem Historiker Andreas Kappeler zufolge eine Asymmetrie der Beziehungen beider Staaten zur Folge. Diese macht es russischen Politikern und der russischen Gesellschaft leicht, die Ukraine nicht als selbstständigen Staat und die Ukrainer nicht als eine gleichwertige, selbstständige Nation anzuerkennen. Obwohl Russland die Ukraine völkerrechtlich als souverän anerkennt, legitimiert es die Annexion der Krim als sein historisches Erbe.
Fazit
Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine verdeutlicht, dass es sein Verhältnis zur früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nie geklärt hat. Die Suche nach einem nationalen Selbstverständnis, das auf einem starken Staat und einer Großmachtrolle beruht, ist für das postsowjetische Russland nicht außerhalb des Raumes der früheren Sowjetunion sowie des imperialen Russlands vorstellbar, wobei Putins Geschichtspolitik das autokratisch-imperiale und das sowjetische Imperium immer stärker miteinander verschmelzen lässt.
Russland sucht seine Identität in einer Vergangenheit, die aus unserer westlichen Perspektive mit dem Ende der Sowjetunion abgeschlossen zu sein scheint. Doch vieles deutet darauf hin, dass das Trauma des Verlusts der auf die Großmachtstellung der Sowjetunion bezogenen Identität bis heute nicht verwunden ist. Wäre es jedoch möglich oder denkbar gewesen, dass das postsowjetische Russland eine von der Nachfolge der Sowjetunion und dem hiermit verbundenen hegemonialen Großmachtanspruch unabhängige, neue Identität hätte finden können? Wäre es möglich oder denkbar, das Trauma des Verlusts der Großmachtstellung auf die Sowjetunion zu beziehen und nicht auf das heutige Russland?
Für die Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit (wenn schon nicht ihrer Aufarbeitung) und einer möglichen "Entsowjetisierung" im Hinblick auf Russlands hegemoniales Verhältnis zu den Nachfolgestaaten auf dem einstigen sowjetischen Raum hätte es demokratischer Institutionen und eines entschiedenen politischen Willens seitens der Führungskräfte bedurft – ganz abgesehen von der außerordentlich komplexen Frage der Rechtsnachfolge der Sowjetunion, aus der Russland seine Identität bis heute ableitet. Doch ist dies ein selbst unter Staats- und Völkerrechtlern umstrittenes Thema.
Ich hoffe, mit meinen Ausführungen etwas zum Verständnis der ideologischen Faktoren beigetragen zu haben, die dem putinschen Nationalismus und den heutigen russischen Befindlichkeiten zugrunde liegen. Die Herkunft einer Argumentationsweise zu verstehen, bedeutet in keiner Weise sie zu rechtfertigen, was hoffentlich deutlich wurde. Es ging mir lediglich darum, etwas aus der uns alle interessierenden russischen Welt (und diesen Ausdruck gebrauche ich hier nicht ideologisch) zu "bedenken zu geben".
Der Beitrag basiert auf dem Manuskript zur Helmholtz-Vorlesung, die ich am 17. Juli 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin hielt.