In der Nacht von Samstag den 25. auf Sonntag den 26. Januar 2014 saßen wir – drei Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich und der Ukraine – bei Tee und Cognac in einem Café an der zum Majdan der Unabhängigkeit ("Majdan" bedeutet "Platz" auf Ukrainisch) führenden Kiewer Hauptstraße Chreschtschjatik. Zugleich beobachteten wir per Livestream auf einem Smartphone die Entwicklung auf dem einige Hundert Meter von uns entfernten Europäischen Platz, auf dem das "Ukrainische Haus" steht, das früher ein Lenin-Museum beherbergte und heute unter anderem als Konferenzzentrum genutzt wird. Wir hatten einige Minuten zuvor diesen Platz verlassen, obwohl sich dort interessante Entwicklungen abzuspielen begannen: Hunderte Majdan-Aktivisten in improvisierter Kampfkleidung umzingelten das "Ukrainische Haus", in dem Polizisten kaserniert waren.
Obwohl immer wieder Explosionen das Display erhellten, hatten wir keine Lust, unsere nach einigen Stunden teilnehmender Protestbeobachtung
Wir versanken tiefer ins Gespräch. Der Mann, Zahnarzt von Beruf, erzählte, dass er vier Tage zuvor mit dem Motorrad aus Lemberg gekommen sei. Einen Schlafplatz habe er auf dem Fußboden im Gebäude der Kiewer Stadtverwaltung gefunden, das vor knapp acht Wochen von den Majdan-Protestierenden besetzt und anschließend allgemein zugänglich gemacht worden war. Somit gehörte er nicht zum harten Kern einiger Tausend Majdan-Kämpfer, denen in anderen besetzten Gebäuden und privaten Wohnungen bessere Schlaf- und Erholungsbedingungen geschaffen worden waren. Woher nehme er die Bereitschaft, all die Gefahren und Strapazen auf sich zu nehmen?, fragten wir. Weil man in diesem Land nicht leben könne, antwortete er.
Es gehe dabei nicht um materielle Lebensbedingungen, zumal nicht um seine eigenen, sondern um die allgegenwärtige Korruption und die Kriminellen an der Macht. Die Entscheidung, das fertig ausgearbeitete Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union doch nicht zu unterschreiben, die der inzwischen gestürzte Staatspräsident Wiktor Janukowytsch am 29. November 2013 in Wilna getroffen hatte, bedeute in diesem Zusammenhang nicht mehr und nicht weniger als Hoffnungslosigkeit. Unser Gast schaffte es nicht, sein Glas zu leeren. Per Handy wurde er zurück zum belagerten "Ukrainischen Haus" gerufen, das im Morgengrauen tatsächlich noch von der Miliz verlassen wurde. Daraufhin begannen die wochenlangen Verhandlungen zwischen beiden Konfliktseiten, die Janukowytsch mit einem brutalen Gewalteinsatz, dem am 19. und 20. Februar über 80 Menschen zum Opfer fielen, zeitweilig beendete. Daraufhin schien der Präsident einen Kompromiss mit der Opposition, den die EU am 21. Februar vermittelt hatte, zu akzeptieren. Als er dann unerwartet auf Umwegen nach Russland floh und seine politischen Gegner die Macht im Staat übernahmen, ahnte niemand, dass dies der Auftakt für eine verdekte militärische Invasion und de facto Kontrollübernahme ukrainischer Gebiete durch Russland sein würde (auch wenn Russland dies offiziell noch abstreitet).
Den ursprünglichen, moralischen Impuls für die Proteste, die eine Art frostigen Karneval mit dem Kampf auf Leben und Tod gegen die Staatsmacht verbinden, stellte das Entsetzen über die buchstäblich knochenbrechende Brutalität der Miliz Berkut dar. Diese nach einer Adler-Gattung benannte Sondereinheit hatte in der Nacht vom 29. auf den 30. November 2013 den Majdan von protestierenden Studentinnen und Studenten geräumt. Dabei wollten die in Kiew stets warmherzig "Kinder" genannten Studierenden lediglich ihren Unmut darüber zum Ausdruck bringen, dass der Präsident beim Treffen der "Östlichen Partnerschaft" in der litauischen Hauptstadt das in jahrelangen Verhandlungen ausgehandelte Abkommen mit der Europäischen Union doch noch ausgeschlagen hatte.
Am 16. Januar 2014 wurde gegen die als "Euromajdan" bezeichnete Protestbewegung eine restriktive Gesetzgebung erlassen; zugleich gab es Entführungen von Journalisten, Folterungen von Aktivisten, Übergriffe durch angeheuerte jugendliche Schläger, brennende Autos von Protestierenden sowie (zunächst am 22. Januar) gezielte Erschießungen von Majdan-Kämpfern. Das Regime verkalkulierte sich mit dieser Gewalteskalation insofern nicht, als in Kiew und in anderen ukrainischen Städten – allesamt im 20. Jahrhundert durch Kommunisten und deutsche Besatzer auf unvorstellbare Art und Weise geschunden – die Angst zurückkehrte. Es verkalkulierte sich aber trotzdem. Denn die wiederbelebte Angst änderte nichts daran, dass die tagsüber friedlichen Protestierer in der Nacht zu Baseballschlägern griffen und Brandsätze sowie Pflastersteine gegen den verhassten Berkut warfen. Immer mehr öffentliche Gebäude wurden besetzt – in der Hauptstadt und in den westlich von ihr gelegenen Städten.
Boot mit nur einem Paddel
Die Ukraine hat zu keinem Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit ein demokratisches System gehabt. Parteien, Parlament, Gerichte und Medien werden von den sogenannten Oligarchen instrumentalisiert, die in Paten-Manier den knapp zwanzig regionalen, mit der Politik und Verwaltung aufs Engste verbundenen Wirtschaftsclans vorstehen. Daran hat sich in der angeblich demokratischen Regierungszeit des "Orangenen Lagers" (2005–2010) nichts verändert. Damals mimte die in den 1990er Jahren dank dunkler Geschäfte mit Russland märchenhaft reich gewordene Populistin Julija Tymoschenko einige Male eine Premierministerin, während sie realiter mit dem politisch unbeholfenen Präsidenten Wiktor Juschtschenko um die Macht im Staat rang.
Wenn man sich Demokratie als ein Boot mit zwei Paddeln – dem Rechtssystem und dem politischen Wettbewerb – vorstellt, dann kennt das ukrainische Boot, dem russischen ähnlich, den funktionierenden Verfassungs- und Rechtsstaat so gut wie überhaupt nicht. Das zweite Paddel ist in der Ukraine im Gegensatz zu Russland recht solide: Während sich die Oligarchen im System Putin der Politik unterordnen, konkurrieren sie in der Ukraine um Einfluss auf die Politik. Das Ergebnis von Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen kennt man im Voraus nicht. Doch ein Boot, das nur mit einem Paddel angetrieben wird, dreht sich im Kreis – und so erlebt das Land seit der Erlangung der staatlichen Souveränität 1991 und nach der sogenannten Orangenen Revolution zum Jahreswechsel 2004/2005 nun schon wieder eine dramatische politische Krise.
Janukowytsch versuchte nach seinem Sieg über Tymoschenko bei den demokratischen Präsidentschaftswahlen 2010 auch das zweite Paddel – den politischen Wettbewerb – zu demolieren. Damit wäre seinem Land das aus Belarus und Russland bekannte politische System des alternativlosen Autoritarismus verpasst worden.
Politisch geteiltes Land
In atemberaubendem Tempo hat Janukowytsch mit seiner Familie ein auf zumindest einige Hundert Millionen US-Dollar geschätztes Vermögen angehäuft, das er in Liechtenstein, Österreich und England bunkert. Obwohl das in der Ukraine bekannt ist und seit Ende Januar 2014 auch die meisten Oligarchen auf Distanz zu ihm gegangen sind, stellte der 4.000 Mann starke Berkut keineswegs die einzige Stütze des Präsidenten dar. Meinungsumfragen zufolge hätte Janukowytsch im Falle vorgezogener Präsidentschaftswahlen noch Anfang Februar zwar keine absolute Mehrheit, aber immerhin mehr Stimmen als jeder andere der damals wichtigsten Oppositionsführer erhalten: Witalij Klytschko, Arsenij Jazenjuk von der Tymoschenko-Partei Batkiwschtschina ("Vaterland") oder der rechtsradikale Oleh Tjahnybok.
Der Letztgenannte brachte mit seiner Partei Swoboda ("Freiheit") mehr Organisation und Kampfkraft in die Protestbewegung als beide anderen zusammen.
Die meisten Ostukrainer pflegen das Erbe der Sowjetmenschen. Sie erwarten vom Staat Fürsorge: bezahlbare Wohnungen, Arbeitsplätze und stabile Löhne. Von der Europäischen Union haben sie zwar eine durchaus gute Meinung. Ihre politischen Vorlieben sind jedoch mit jenem imaginären Russland verbunden, das sie aus dem gleichgeschalteten russischen Fernsehen kennen. Obwohl sie politisch grundsätzlich passiv sind, ließen sich einige von ihnen nach Kiew transportieren, um gegen Geld für "die Ordnung" und "die Stabilität" zu demonstrieren. Von Putinschen Medien aufgehetzt, ließen sie sich nach der Flucht von Janukowytsch vor allem auf der Krim als Demonstranten instrumentalisieren, die wegen der angeblichen Bedrohung durch die "faschistische Regierung in Kiew", Russland um Hilfe baten.
Rückkehr der Geschichte
Diese ausgesprochen nicht-bürgerliche Gesellschaft ist historisch durch russische und sowjetische Despotie stark geprägt. Paradoxerweise hat sie sich nicht zuletzt aus den im ukrainischen Westen verehrten "östlichen Protoukrainern" – den Kosaken – heraus entwickelt. Jene früheren Krieger hatten noch im polnischen Reich die Südterritorien der linksufrigen, also östlich des Dnjepr gelegenen, "Ukraina" ("Randland" auf Polnisch) bewohnt. Infolge der blutigen Konflikte mit der polnischen Krone, die nur einigen Kosaken die ersehnten Adelsprivilegien gewährte, unterwarfen sich diese freiwillig dem Moskauer Zaren. Im Jahre 1654 kam dessen Gesandter nach Perejeslaw (unweit von Kiew). Die Kosaken-Älteren forderten ihn dazu auf, im Namen seines Herrschers zu schwören, dass in der Union mit Moskau die Kosaken frei bleiben würden. Sie aber erhielten die Antwort: "Die Untertanen sollen ihrem Herrscher Treue schwören, nicht umgekehrt."
Auf dem Kiewer Majdan ist diese Geschichte immer noch gegenwärtig. So sind dort kaum Zelte aus dem mittlerweile stark russifizierten Osten und Süden des Landes zu sehen. Dagegen sind die Aktivisten aus der Zentralukraine unübersehbar, während die Protestierenden aus den westlichen Städten, darunter vor allem aus Lemberg, die erst infolge des Zweiten Weltkrieges unter die Moskauer Herrschaft gerieten, den Platz dominieren. Auf dem Majdan wird vor allem Ukrainisch gesprochen, aber Russisch ruft keinerlei Widerstände hervor. Mit Polnisch als Fremdsprache kommt man bestens zurecht – und wer es beherrscht, wird manchmal in jene besetzten Gebäude reingelassen, die "Normalsterblichen" unzugänglich sind.