Die inklusive Schule als Gegenmodell zum gegliederten Schulsystem
In Schulen, Kindertageseinrichtungen und anderen pädagogischen Arbeitsfeldern macht das Modell der Inklusion ein Angebot, in dem die Gleichheit und die Freiheit der verschiedenen Lernenden solidarisch berücksichtigt werden sollen. Es geht dabei nicht "nur", wie vielfach angenommen, um das Einbeziehen von Menschen mit Behinderungen in die Regelschule. Betont wird vielmehr die Individualität jeder Person, unabhängig vom Geschlecht, vom kulturellen Hintergrund oder von der sozialen Schicht. Alle Kinder und Jugendlichen besuchen in diesem Modell gemeinsam ihre wohnortnahe Kita und Schule. In den inklusiven Gruppen und Schulklassen wird ein individualisierendes pädagogisches Angebot bereitgestellt.
Die inklusive Schule mit ihren heterogenen Lerngruppen bildet das Gegenmodell zum in Deutschland vorherrschenden gegliederten Schulsystem, in dem Lernende frühzeitig auf unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden (dazu gehören die Hauptschule, die Realschule, das Gymnasium sowie elf Sonderschularten). Mit dieser Aufteilung der Lernenden soll Heterogenität gerade vermieden werden: Im gegliederten Schulsystem werden "homogene Lerngruppen" angestrebt, in denen die Schülerinnen und Schüler jeweils als Gleiche angesprochen werden und auf gleichem Niveau das Gleiche lernen sollen. Hinzu kommen weitere "sortierende" Maßnahmen": Zurückstellungen am Schulanfang, Sitzenbleiben, Abschulungen und die Bildung von Leistungsniveaukursen.
Die Idee, dass Kinder eine früh feststehende Begabung haben (etwa eine eher praktische oder theoretische) und für einen bestimmten Bildungs- und Lebensweg bestimmt sind, entstammt der vordemokratischen Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der unser Schulsystem entstand.
In der Geschichte hat es international schon früh die Vorstellung gegeben, dass alle Kinder gemeinsam in einer Schule lernen sollten. Zwar führten entsprechende Forderungen in der ersten Demokratie auf deutschem Boden, der Weimarer Republik, zur Einführung der Grundschule als gemeinsame Schule für fast alle Kinder während der ersten vier (in machen Bundesländern sechs) Schuljahre. Darüber hinausgehende Forderungen konnten sich jedoch auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen. Auch in anderen Industrienationen – etwa in Russland, England, Schweden oder Finnland – gab es lange ständisch gegliederte Schulen. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden fast überall integrativere Bildungssysteme eingerichtet (die man in Deutschland vor allem unter der Bezeichnung "Einheitsschule" kennt). Mit der sehr frühen Aufteilung der Kinder auf ungleiche Schulformen stellt Deutschland heute international eine Ausnahme dar.
InfoboxDie Kritik am gegliederten Schulsystem
Die Argumente gegen das gegliederte Schulsystem mit seinen gleichschrittig lernenden, homogen gedachten Schulklassen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
Es ist grundsätzlich nicht möglich, homogene Lerngruppen zu bilden, weil sich die Lernenden stets unterscheiden: Der gleichschrittig geführte Unterricht verfehlt gleichermaßen die schneller und die langsamer lernenden Schülerinnen und Schüler. Maßnahmen wie Zurückstellung, Sitzenbleiben, Abschulung und Überspringen von Klassen lassen außer Acht, dass Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Fächern unterschiedliche Leistungsstände aufweisen.
Das gegliederte Schulsystem verzichtet weitgehend auf individuelle Förderung und produziert daher eine große Zahl von "Bildungsverlierern". Da es Lernrückstände von Kindern aus weniger privilegierten Elternhäusern nicht ausgleicht, reproduziert es unter dem "Deckmantel der Leistungsgerechtigkeit" die bestehende soziale Schichtung. Im Lehrerhandeln zeigen sich nicht selten Vorurteile über die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern, sodass es an objektiven Leistungsbeurteilungen vor allem bei den Übergangsempfehlungen fehlt.
Die Zuweisung zu einer bestimmten Schulform führt dazu, dass die Lernenden ihr Selbstbild danach ausrichten und so entmutigt oder ermutigt werden, je nachdem auf welche Schulform sie überwiesen werden. Die Vorstellung, es gebe den "schlechten Schüler" ist kinderfeindlich und schädlich für die psychosoziale und kognitive Entwicklung.
Das gegliederte Schulsystem widerspricht unserer demokratischen Verfassung und den Menschenrechten, weil es die Verwirklichung von Chancengleichheit und die Einlösung des Rechts auf Bildung beeinträchtigt. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2009 in Deutschland in Kraft getreten ist, fordert inklusive Bildung (Artikel 24) und steht damit im Gegensatz zum gegliederten Schulsystem.
Fußnoten
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Solga, Heike (2005): Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus soziologischer und ökonomischer Perspektive. Opladen: Barbara Budrich. Klemm, Klaus / Preuss-Lausitz, Ulf (2011): Auf dem Weg zur schulischen Inklusion in Nordrhein-Westfalen. Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der allgemeinen Schulen. Essen und Berlin. URL: Externer Link: http://www.bug-nrw.de/cms/upload/pdf/NRW_Inklusionskonzept_2011__-_neue_Version_08_07_11.pdf (letzter Zugriff: 19.3.2013).
Möglichkeiten der inklusiven Schule
Skandinavische Länder mit ihren Einheitsschulsystemen schneiden bei internationalen Schuluntersuchungen wie PISA gut ab und verdeutlichen damit, dass individuelle Förderung in heterogenen Lerngruppen die Bildungsungleichheit zwischen den Schichten verringern und den einzelnen Kindern und Jugendlichen bessere Schulleistungen ermöglichen kann. Allerdings führt inklusive Pädagogik nicht dazu und strebt es auch nicht an, dass alle Lernenden den gleichen Leistungsstand erreichen. Es geht vielmehr darum, dass jede Schülerin und jeder Schüler in seiner Einzigartigkeit anerkannt wird, dass jeder individuell bestmögliche Leistungen erreicht, dass niemand als "schlechter Schüler" abgestempelt wird, dass jeder Mitglied der Schulgemeinschaft ist und dass niemand Angst haben muss, in eine andere Schule überwiesen zu werden. Vor diesem Hintergrund müssen sich alle damit auseinandersetzen, dass es Leistungshierarchien gibt, dass also in bestimmten Bereichen einige mehr und andere weniger können und dass dies beim Übergang in die Ausbildung und ins Berufsleben auch Folgen hat. In der Sprache der Wissenschaft formuliert: Die Sozialisations- und die Qualifikationsleistungen der Schule werden im inklusiven Modell verbessert, die Selektionsfunktion der Schule wird aber nicht außer Kraft gesetzt. Die destruktive, kinder- und leistungsfeindliche Form der Selektion, die wir in unserem gegliederten Schulsystem erleben, wird jedoch durch einen humaneren und demokratischeren Umgang mit Leistungsdifferenzen ersetzt. Jedes Kind, jeder Jugendliche soll erleben, dass alle gleichermaßen in ihrer Würde anerkannt werden, dass alle gleichermaßen gefördert werden, auch wenn sie unterschiedliche Kompetenzen erreichen.
Inklusive Schulentwicklung in Deutschland
In jüngster Zeit wurden in vielen Bundesländern verschiedene Ansätze entwickelt, die zwar nicht flächendeckend, aber punktuell umgesetzt werden und in eine integrativere Richtung weisen: Bei der Einschulung werden die Kinder eines Jahrgangs ohne Tests und Zurückstellungen ins erste Schuljahr aufgenommen. Haupt- und Realschulen werden unter verschiedenen Namen wie zum Beispiel Gemeinschaftsschulen oder Oberschulen zusammengelegt. Sitzenbleiben und Abschulungen sollen reduziert werden. Der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung breitet sich langsam aus; während deutschlandweit heute durchschnittlich 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung eine Regelschule besuchen, sind es in Schleswig-Holstein inzwischen ca. 50 Prozent. Diese Ansätze sind umstritten und stellen das herrschende Modell der schulischen Selektion bisher nicht grundlegend infrage. Doch in allen Bundesländern gibt es einzelne Schulen, die sich erfolgreich der individuellen Förderung und der Partizipation der Kinder und Jugendlichen widmen. Solche Schulen sind oft Preisträger, zum Beispiel des "Deutschen Schulpreises", des "Jakob Muth-Preises für inklusive Schule" oder des "Cornelsen Stiftungspreises Zukunft Schule"
Unterricht in heterogenen Lerngruppen
Formen und Möglichkeiten des binnendifferenzierenden Unterrichts werden seit Langem erfolgreich entwickelt und erprobt. Die schon in der Reformpädagogik seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen didaktischen Methoden der Freiarbeit und der Projektarbeit dienen dazu, dass jede und jeder einen passenden Lernweg finden kann. Dabei sind für heterogene Lerngruppen zwei Lernziele besonders wichtig: Zum einen sollen von Erwachsenen verbindlich festgelegte Kompetenzen in wichtigen Kulturtechniken (wie Lesen, Schreiben, Rechnen und andere) erworben werden. Dazu müssen die Aufgaben und Lernmaterialien von den elementarsten Stufen an so aufgefächert werden, dass ausnahmslos jeder Schülerin und jedem Schüler entsprechend seiner individuellen Lernausgangslage ein angemessener Zugang zu den Kulturtechniken ermöglicht wird. Zum anderen sollen eigene, für die Erwachsenen zunächst unbekannte, Themen und Interessen der Kinder und Jugendlichen bearbeitet werden. Dazu werden den Lernenden zeitliche Freiräume eröffnet, in denen sie sich mit selbstgestellten Fragen auseinandersetzen können.
Wenn alle Kinder gemeinsam die heterogenen Lerngruppen in inklusiven Einrichtungen und Schulen besuchen, sollen sie schließlich auch lernen, sich selbst und andere zu achten und für die eigenen Rechte und die Rechte der anderen einzutreten. Organisationen und Initiativen, die diesem Ziel verpflichtet sind, zeigen das häufig in Bildmaterialien, welche die Verschiedenheit und Gemeinsamkeit der Kinder betonen. So zeigen entsprechende Kitas und Schulen häufig Fotos aller Kinder in den Gruppen- oder Klassenräumen, im Eingangsbereich finden sich Begrüßungsformeln in allen Herkunftssprachen der Kinder.
Für die Aus- und Fortbildung von Lehrern und pädagogischen Fachkräften wurden Anleitungen mit Bausteinen aus theoretischen Grundlagen und praxisnahen Übungen erarbeitet, die eine Einführung in das komplexe Thema Heterogenität ermöglichen.
InfoboxHeterogenität als Herausforderung für demokratische Gesellschaften
Der Begriff "Heterogenität" taucht in vielen gesellschaftlichen Debatten auf, etwa wenn über unterschiedliche Lebensweisen und Milieus, über Zuwanderung und Integration oder über Herausforderungen im Bildungswesen diskutiert wird. Politiker, Medien, Wissenschaftler, Bürgerrechtler und vielen andere verwenden den Begriff allgemein, um auf die die Unterschiedlichkeit der Menschen aufmerksam zu machen, die in unserer pluralistischen Gesellschaft zusammenleben. Doch was genau heißt eigentlich "Heterogenität"? Wodurch zeichnen sich heterogene Gruppen aus und was haben sie mit sozialen Bewegungen zu tun?
Zur Bedeutung des Begriffs Heterogenität: „Gleichheit und Freiheit für Vielfalt“
Seit 2008 arbeitet der kanadische Künstler Tim van Horn daran, die kanadische Gesellschaft, die sich wegen ihrer Zusammensetzung aus indianischen Ureinwohnern und Menschen aus den verschiedensten Weltgegenden „Canadian Mosaic“ nennt, in einem Patchwork abzubilden, das aus tausenden Portraitfotos kombiniert wird. Patchworks und Assemblagen veranschaulichen bildlich, was Heterogenität bedeutet. Der Begriff „heterogen“ kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und bezeichnet Beziehungen zwischen Verschiedenen, die einander nicht untergeordnet werden. Heterogene Gruppen sind also Gruppen, in denen sowohl die Verschiedenheit als auch die Gleichberechtigung der Mitglieder anerkannt werden. In solchen Gruppen soll jeder ohne Angst verschieden sein können, zum Beispiel hinsichtlich Lebensweise, Leistungsfähigkeit, Religion, Kultur oder Alter. Dieses Ziel entspricht den grundlegenden Prinzipien von Menschenrechten und Demokratie, die auch für das Bildungswesen maßgeblich sind.
Menschenrechtserklärungen und demokratische Verfassungen haben die Aufgabe, mit ihren zentralen Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu stärken. Sie bieten damit Orientierung in den Kämpfen gegen die überall auf der Welt – wenn auch in unterschiedlichem Maße – vorherrschenden Ungleichheiten, Unfreiheiten und Ausbeutungen. Das Prinzip der Gleichheit umfasst, dass die verschiedenen Menschen gleiche Rechte haben sollen; das Prinzip der Freiheit bedeutet, dass die gleichberechtigten Menschen frei sein sollen, ihr Leben verschieden zu gestalten; das Prinzip der Solidarität besagt, dass jeder sich sowohl für die eigene Gleichheit und Freiheit als auch für die der anderen einsetzen soll. Wenn von Heterogenität die Rede ist, wird betont, dass die in den Menschenrechtserklärungen und demokratischen Verfassungen verankerte Gleichberechtigung von Menschen in sehr verschiedenen Lebenslagen und mit sehr verschiedenen Lebenswünschen in Anspruch genommen wird und dass den Menschen in ihrer Vielfalt das Freiheitsrecht auf ein selbst gewähltes Leben zukommt.
Heterogenität und soziale Bewegungen
Für ihre Gleichheits- und Freiheitsrechte kämpften und kämpfen sehr unterschiedliche Gruppen in vielen Ländern und auf allen fünf Kontinenten der Erde, beispielsweise auf Farmen schuftende Sklaven, in Familie, Beruf und Politik untergeordnete Frauen, in Fabriken ausgebeutete Arbeiter, in schulischen und außerschulischen Ausbildungs- und Arbeitsstätten unterdrückte Kinder und Jugendliche, in ihrer Lebensweise diskriminierte Lesben und Schwule, von Einwanderern überwältigte Ureinwohner und Angehörige der vielen diskriminierten Kulturen, Subkulturen und Religionen. Auch in einem demokratischen Rechtsstaat wie unserem ist die umfassende Verwirklichung von Gleichheits- und Freiheitsrechten eine fortdauernde Herausforderung, wie die häufig prekäre Lebenssituation von Flüchtlingen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus, ökonomisch marginalisierten Einheimischen- und Migrantengruppen oder durch Barrieren beeinträchtigten Menschen mit Behinderungen verdeutlicht. Im Laufe der Geschichte erhoben immer wieder andere soziale Gruppen ihre Stimme und es ist damit zu rechnen, dass dies auch weiterhin auf immer wieder neue und unvorhersehbare Weise geschehen wird.
Bei der Klärung ihrer Ziele müssen soziale Bewegungen gemeinsam mit ihren Verbündeten vielfältige Probleme bearbeiten, die in den folgenden vier Punkten kurz umrissen werden:
Wenn Gruppierungen sich entschließen, für ihre Rechte zu kämpfen, geht ihr Kampf meist in zwei Richtungen: sie fordern sowohl Gleichstellung mit den privilegierten Gruppen als auch Freiheit für die Wahl ihrer eigenen Lebensweise. Je nach politischer Situation müssen sie herausfinden, ob sie jeweils entweder die Richtung der Gleichheit oder die Richtung der Freiheit betonen wollen. Beide Richtungen gehören untrennbar zum Verständnis von Heterogenität.
Soziale Bewegungen müssen sich damit auseinandersetzen, dass ihre Mitglieder zwar wichtige Erfahrungen teilen, dennoch nicht miteinander identisch sind. Auch sie bilden in sich heterogene Gruppen, die aus Untergruppen und aus Individuen bestehen, die auf dem Hintergrund ihrer besonderen Erfahrungen auch besondere Lebenswünsche entwickeln. Denn jeder Mensch gehört mehreren Gruppierungen zugleich an, etwa einem Geschlecht, einer Kultur, einer Altersgruppe, einer sozialen Klasse oder Schicht, und ist zudem eine einzigartige Person. Diese sogenannten Heterogenitätsdimensionen überschneiden sich. Heterogenität bedeutet darum immer auch Vielschichtigkeit einer Person oder einer Gruppe. Es ist kaum möglich, viele Heterogenitätsdimensionen gleichzeitig zu beachten, darum wird oft eine von ihnen besonders betont.
Gruppenzugehörigkeit muss nicht dauerhaft sein, sie ist vielmehr häufig von Veränderungen in der Zeit bestimmt. So wandern zum Beispiel manche Einwanderer von Stadt zu Stadt oder Land zu Land, religiöse Vereinigungen, Kulturen und Gemeinschaften verändern sich und jeder einzelne Mensch wechselt von einer Altersgruppe in die andere und hat so eine wechselhafte biografische Entwicklung. Wenn wir von Heterogenität sprechen, benennen wir also soziale Zusammenhänge, die zwar Kontinuität aufweisen, aber immer auch veränderlich sind.
Mit dem Begriff Heterogenität wird also auf Verschiedenheit, Vielschichtigkeit und Veränderlichkeit von menschlichen Lebenszusammenhängen zugleich aufmerksam gemacht. Doch wie lassen sich dann heterogene Gruppierungen angemessen benennen? Verwendet man zum Beispiel sogenannte Kategorien wie Mädchen, Jungen, Behinderte, Nichtbehinderte, Einheimische oder Migranten, so ist verständlich, wovon die Rede ist. Werden aber mit solchen Begriffen feststehende und verallgemeinernde Aussagen getroffen, können diese auch Vorurteile bestärken. Unsere Begriffe sind wie Schubladen, die uns helfen, mit Worten die soziale Welt zu ordnen. Doch es ist gefährlich, Menschen mit Worten in Schubladen zu sortieren und so falsche pauschale Aussagen zu treffen. Man sollte nicht vergessen, dass die Menschen vielschichtiger und veränderlicher sind, als die Worte klingen. Daher muss eine Sprache gefunden werden, die der Vielschichtigkeit und Veränderlichkeit gerecht wird.
Fragen zur Widersprüchlichkeit von Heterogenität
Soziale Bewegungen, die sich für die gleiche Freiheit aller Gruppen in der Gesellschaft einsetzen, sind oft mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, die sich auf mögliche Widersprüche beziehen. Drei Fragen werden im Folgenden behandelt:
Muss man auch menschenfeindliche Haltungen anerkennen, wenn man das Prinzip der gleichen Freiheit für Heterogenität befürwortet?
Darauf gibt es eine klare Antwort: Rassistische, antisemitische, ausländerfeindliche, frauenfeindliche, homophobe, behindertenfeindliche und altersfeindliche Einstellungen können keine Anerkennung im Namen von Menschenrechten und Demokratie beanspruchen. Im Gegenteil. Weil sie demokratische Verhältnisse zerstören und die Verwirklichung der Menschenrechte bekämpfen, ist es notwendig, ihre inhumane Denkweise zu kritisieren, sie an ihrem aggressiven Tun zu hindern und die Rechte der Opfer zu schützen.
Kann die Forderung nach Anerkennung verschiedener Lebensweisen ernst genommen werden, wenn in der Realität demokratischer Gesellschaften, trotz ihrer menschenrechtlich fundierten Verfassungen, Menschen diskriminiert, ausgegrenzt und ausgebeutet werden?
Dazu muss man sich bewusst machen, dass es keine hierarchiefreien Gesellschaften gibt, dass also auch demokratische Gesellschaften unterschiedlich stark von Hierarchien dominiert sind. Darum gilt es, international und in der eigenen Gesellschaft für die Stärkung von Gleichheits- und Freiheitsrechten einzutreten. Dies bleibt eine im Grunde nie zu einem Abschluss kommende Aufgabe der Demokratisierung, die sich in jeder Generation auf neue Weise stellt.
Kann die Forderung nach Anerkennung verschiedener Lebensweisen ernst genommen werden, wenn soziale Bewegungen und ihre Organisationen selbst nicht hierarchiefrei sind, sich oft nur für die eigenen Interessen einsetzen und die Rechte anderer Gruppen vernachlässigen?
Soziale Bewegungen setzen oft eigene Schwerpunkte und übergehen dabei die Belange anderer Gruppen. So wurde zum Beispiel die Frauenbewegung mit dem Argument kritisiert, sie habe zeitweilig die Interessen von weißen Mittelschichtfrauen ins Zentrum gerückt und die ganz anderen Lebensbedingungen von farbigen oder armen Frauen ausgeblendet. Daran wird deutlich, dass Interessengruppen nicht immer alle berechtigten Interessen von anderen im Blick haben. Es ist eine dauerhafte Aufgabe für soziale Bewegungen, die eigenen blinden Flecken zu entdecken und die Interessen anderer zu respektieren. Darum ist die Orientierung an den universellen Menschenrechten so wichtig, denn sie sind für alle Menschen gültig und werden in den nacheinander verabschiedeten Menschenrechtsdeklarationen immer wieder für weitere Gruppierungen ausdifferenziert. Eine solche Anerkennung der eigenen Grenzen von politischen Aktivisten schützt auch vor Absolutheitsansprüchen und totalitären, inhumanen Fehlentwicklungen.
Prof. Dr. Annedore Prengel, emeritiert, Universität Potsdam. Schwerpunkte: Heterogenität in der Bildung, Menschenrechtsbildung, Lehrer-Schüler-Beziehungen, Pädagogische Diagnostik, Inklusion in Kita und Schule, Qualitative Forschungsmethoden. In Kürze erscheint von ihr „Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz“, Verlag Barbara Budrich Opladen/Farmington Hills 2013